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An jeder Schaufel zerrt ein voller Doppeldeckerbus

Fertigungsfehler lassen sich bereits im Prozess feststellen
An jeder Schaufel zerrt ein voller Doppeldeckerbus

Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie und Wissenschaft haben die Forscher vom WZL Verfahren entwickelt, mit deren Hilfe sich Anomalien in der Fertigung sicherheitsrelevanter Bauteile erkennen lassen. Statt des Werkzeugs steht hier das Werkstück im Fokus.

Von unserem Redaktionsmitglied Haider Willrett

Der Kapitän schiebt die Gashebel nach vorn, und die Turbinen nehmen Drehzahl auf. Flug DL 1288, eine MD-88 von Delta Airlines, rollt an. Dann bricht die Scheibe der ersten Fan-Stufe des linken Triebwerks. Wie Geschosse durchschlagen Trümmerteile den Rumpf des Flugzeugs. Zwei Menschen sterben. Es ist der 6. Juli 1996 in Pensacola, Florida. Die anschließenden Unfalluntersuchungen zeigen: Auslöser des Unglücks war eine Bohrung, die beim Bearbeiten überhitzt wurde. Wahrscheinlich durch einen kurzen Ausfall der Kühlschmierstoffzufuhr. Dadurch versprödete der Werkstoff, und nach 13 835 Zyklen – ein Zyklus umfasst Start, Flug und Landung – ist die Fan-Scheibe den immensen Belastungen nicht mehr gewachsen. Und das, obwohl die Bauteile der betroffenen Triebwerksfamilie für 20 000 Zyklen ausgelegt sind und die Unglücksmaschine regelmäßig und korrekt gewartet wurde.
„Man muss sich vorstellen, dass beim Hochlaufen der Turbine beim Start an jeder Schaufel des Rades eine Kraft zerrt, die der Gewichtskraft eines voll besetzten Londoner Doppeldeckerbusses entspricht“, erläutert Drazen Veselovac. Bei solchen Belastungen reichen kleinste Materialfehler, und das Bauteil versagt. Die Gewalt, die beim Bruch einer Fan-Scheibe freigesetzt wird, sei so groß wie die Projektilenergie eines Mittelklassewagens, der mit 160 km/h gegen eine Wand fährt, ergänzt der Oberingenieur am Lehrstuhl für Technologie der Fertigungsverfahren, einer Abteilung des Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen.
Der Unfall in Pensacola war einer der Auslöser des EU-Forschungsprojekts „Integrating Process Controls with Manufacturing to Produce High Integrity Rotating Parts for Modern Gas Turbines“, kurz Manhirp, das von 2001 bis 2005 lief. Beteiligt waren unter anderem mehrere Forschungseinrichtungen – darunter das WZL und die Uppsala Universitet in Schweden – sowie verschiedene Triebwerks- und Komponentenhersteller, wie Rolls-Royce in England, MTU in Deutschland, Snecma in Frankreich oder Volvo Aero in Schweden.
Das Konsortium forschte in zwei Richtungen: Zum einen wurden Systeme und Verfahren entwickelt, um bereits während der Bearbeitung Fehlerursachen und deren Auswirkungen erkennen, einschätzen und anschließend exakt lokalisieren zu können. Ergänzend dazu sollten nicht zerstörende Prüfmethoden gefunden werden, mit denen sicherheitskritische Bauteile zuverlässig und vollständig auf Fehler untersucht werden können. „Zunächst provozierten wir beim Bohren, Drehen und Räumen verschieden starke Anomalien. Anschließend unterzogen wir die entsprechenden Bauteile einem Lebensdauertest. Die Ergebnisse verglichen wir mit denen korrekt bearbeiteter Werkstücke“, beschreibt Veselovac das erste Vorgehen.
Die Forscher brachten Prozessstörungen ein, die auch in einer realen Fertigung auftreten können. Sie simulierten beispielsweise einen kurzzeitigen Ausfall der Kühlschmierstoffzufuhr, einen eingeklemmten Span, der zu Aufschmierungen führt, oder minimale Ausbrüche an der Werkzeugschneide. Mit fünf Sensorsystemen, die Kräfte, Beschleunigungen, Wirkleistung, Körperschall sowie Temperaturen während des Zerspanvorgangs registrierten, bauten die Wissenschaftler eine Datenbasis auf. Aus ihr konnten sie Rückschlüsse ziehen, wie sich einzelne Störungen auf die Funktion und Lebensdauer eines Bauteils auswirken. „Es hat sich gezeigt, dass starke thermische Belastungen des Werkstücks dessen Haltbarkeit am stärksten beeinträchtigen“, berichtet Veselovac.
Die Sensorsignale können eindeutig einer Bearbeitung zugeordnet werden. Es ist sogar möglich, genau zu bestimmen, in welchem Bereich – etwa einer Bohrung – der Fehler aufgetreten ist. Je nach Schwere der Anomalie können die Verantwortlichen entscheiden, ob das Bauteil Ausschuss ist und weitere Bearbeitungen sinnlos sind, oder ob eine ergänzende zerstörungsfreie Untersuchung an der betreffenden Stelle genauere Aufschlüsse liefern muss. Ultraschall- oder Ätzverfahren sind Beispiele dafür geeigneter Prüfmethoden. Hat sich die Störung nicht ausgewirkt, ist Nacharbeit möglich oder die Anomalie innerhalb der zulässigen Toleranz, kann das Werkstück freigegeben werden, andernfalls ist es Schrott.
Selbst kleinste Prozessschwankungen, die das Bauteil schwächen könnten, und Fehler, die bisher auch bei einer 100-%-Kontrolle unerkannt blieben, lassen sich so aufdecken. Das Ergebnis ist eine aufs Minimum reduzierte Ausfallwahrscheinlichkeit. Aber nicht nur das: „Einen gravierenden Fehler bereits während der Fertigung zu erkennen und eine sinnlose Weiterbearbeitung abzubrechen, sei gerade im Turbinenbau ein entscheidender Wirtschaftlichkeitsfaktor, erläutert Veselovac. Schließlich seien dort nicht nur die Werkstoffe sondern auch der Fertigungsprozess an sich sehr teuer.
Die bisher üblichen Überwachungsmethoden, bei denen die Wirkleistung der Spindel- und der Achsantriebe gemessen wird, sind für die vielfach minimalen Bearbeitungsanomalien nicht geeignet. Weder reicht ihre Empfindlichkeit, um solche Störungen überhaupt zu erkennen, noch ihr dynamisches Verhalten und ihre Reaktionszeit, um derartige Prozesse zu überwachen oder gar zu regeln.
Die im Rahmen des Projekts Manhirp entwickelten Verfahren und Systeme sind nicht nur für den Flugturbinenbau interessant. „Überall wo sicherheitskritische oder sehr aufwändig zu bearbeitende Bauteile gefertigt werden müssen, hat die Technik Potenzial“, fasst Veselovac zusammen. Als mögliche Anwendungsbereiche nennt er die optische Industrie – etwa das Schleifen großer Spiegel –, das Fertigen von Silizium-Wavern als Grundmaterial von Mikro-Chips, die Medizintechnik, stationäre Turbinen oder sicherheitskritische Komponenten im Fahrzeugbau. „Der Witz ist, dass es sich hierbei nicht mehr um eine Werkzeug-, sondern um eine Bauteilüberwachung handelt.“
Manhirp war zwar ein reines Forschungsprojekt, die einzelnen Mitglieder des Konsortiums arbeiten mit den Ergebnissen jedoch weiter. Einige der Erkenntnisse sind bereits in die Praxis eingeflossen – beispielsweise in der Produktion der Rolls-Royce-Triebwerke der Typen Trent 900 für den A 380 von Airbus oder Trent 1000 für den Dreamliner von Boeing. Bis ein komplettes System für die Bauteilüberwachung während der Fertigung marktreif ist, werden noch etwa fünf Jahre vergehen, schätzt Veselovac.
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