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Das Ganze bewegen statt nur am Rädchen drehen

Intelligente Produktion soll den Industriestandort „D“ sichern
Das Ganze bewegen statt nur am Rädchen drehen

Deutschland ist Spitze im Werkzeugmaschinenbau. Halten lassen wird sich diese erfreuliche Position aber nur, wenn die Branche ihre Technologien bedarfsgerecht innoviere, betont der Aachener Professor für Werkzeugmaschinenlehre, Christian Brecher.

Wolfgang Filì ist Journalist in Köln fachjournalist@fili.net

Es gehe um Verfahren und Technologien mit Pfiff, anhand derer besser, schneller und effizienter produziert werden könne. Mit denen die Anwender schneller am Markt seien und die nur von deutschen Firmen zu haben seien, sagt Prof. Christian Brecher. Dann ließe sich das Land als Industriestandort nicht nur sichern, sondern sogar ausbauen. Die Globalisierung sei Stand der Dinge. Was mithin aus nationaler Sicht stimmen müsse, erklärt der Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen am WZL der RWTH Aachen weiter, sei der richtige Mix aus High Tech und hohen Produktionsvolumina. Insoweit muss auch der Mittelbau „stehen“.
Prof. Brecher bezieht die Forschung und Entwicklung längst nicht mehr nur auf einzelne Maschinen oder Verfahren, sondern auf deren Zusammenspiel und – als geldwertes Resultat – auf die Definition günstiger Stückkosten. Vorhandene Mittel zu diesem Zweck seien digitale Prozessketten und Simulationen: „Das Kernanliegen ist, nicht mehr nur am einzelnen Rädchen zu drehen, sondern vielmehr den gesamten Fertigungsprozess effizienter zu gestalten“, betont der junge Professor. Die entsprechenden Modelle hierzu weiter zu entwickeln und mit Leben zu erfüllen, werde die Hochschulforschung – und in Folge die Unternehmen – massiv beschäftigen.
Einige Lösungen hierzu sind bereits seit geraumer Zeit verfügbar wie
  • Design/Kinematik (3D-CAD),
  • Komponentenberechnung,
  • Finite-Elemente-Analyse (FEM),
  • Abgleich von Simulation und Messung.
Neu hinzugekommen und aufgrund unzureichender Kenntnis der lokalen Dämpfungseigenschaften unabdingbar ist der Abgleich von Messung und Rechnung mit der Mehrkörper-Simulation (MKS).
Diese Tools einzusetzen, bleibt aber eine höchst individuelle Angelegenheit. Die Grundformel – Hard- und Software plus Technologiewissen plus Kreativität – ist insofern ein Dienstleistungs- und Entwicklungs-Unikat und exportfähig. „Wenn man so will, haben sie als dynamisches Produkt einen eingebauten Kopierschutz“, unterstreicht Prof. Brecher.
Es gehe jeweils darum, das Gesamtsystem – also die Summe aller Fertigungsmittel, deren Verknüpfung und Optimierung – zu beherrschen. Die Vision hinter solchen Entwicklungsfeldern sind „abgekürzte Time-to-market-Zyklen“, um mithin schneller zu sein als der Plagiator, und die „Null-Fehler-Fertigung“ mit dem Ziel, besser und qualitativ hochwertiger zu produzieren als der Wettbewerb.
Mittel zum Zweck sind hier die
  • virtuelle Werkzeugmaschine, die
  • virtuelle Produktion, ferner das
  • virtuelle Produkt,
  • minimierte Durchlaufzeiten und -kosten
  • und die planbare Instandhaltung sowie
  • Selbstüberwachung, -diagnose und -heilung.
Lösungen auf dieser Basis können helfen, die teuren Anlaufphasen jedweder Produktion zu minimieren. Das neudeutsche Kürzel hierzu ist übrigens „fast-ramp-up“.
Tatsächlich gibt es umgekehrt aktuelle Beispiele für den Nachteil isolierter Kernkompetenz. So kaufen chinesische Unternehmen renommierte deutsche Hersteller zu oder beteiligen sich zumindest maßgeblich an ihnen, wodurch in der Konsequenz Wissen abwandert und andernorts weiterentwickelt wird. Im Kern wäre dies der Kontrapunkt zu einem Kompetenzbegriff, der sich mit dem Blick aufs große Ganze von Produktionsprozessen definiert. Das WZL hat daher eine Schlüsselfunktion für Forschung wie Fertigung: Das Institut hilft bei der Erschließung und Adaption von Know-how durch enge Verzahnung von Forschung und Entwicklung, Unternehmen, Anwendern und Ausbildung.
Denn die Entwicklung der Produktionstechnik in Deutschland folge im Wesentlichen einer S-Kurve, führt Prof. Brecher weiter aus. Das herausragende Steigerungspotenzial sei in den vergangenen 15 Jahren vor allem durch neue Werkzeuge, neue Schneidstoffe und Beschichtungen sowie durch die seinerzeit völlig neuartige Hochgeschwindigkeitsbearbeitung unterstützt worden. Die Technologie habe damals das Tempo vorgegeben, und die Maschinen mussten folgen. Hochdynamische, schnelle Achssysteme und die Linearmotortechnik machten es möglich, diese Entwicklung mitzumachen.
„Von der Leistungssteigerung dieser Jahre scheint heute nicht viel übrig geblieben zu sein“, stellt Prof. Christian Brecher fest. Zwar werde weiter entlang der sich abflachenden S-Kurve optimiert. Jedoch sei dies – wie alle Beteiligten schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssten – kein Garant für eine sichere Zukunft des Standorts.
Extreme Innovationssprünge hinsichtlich der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit ließen sich – wenn überhaupt – zurzeit und künftig vermutlich nur durch gesamtheitliche Betrachtung des Maschinenkonzeptes erzielen. Maßnahmen, die allein auf einzelne Maschinenkomponenten oder -elemente abheben, dürften kaum mehr zielführend sein.
Ziel müsse mithin sein, auf eine S-Kurve aufzuspringen, die parallel zur bisherigen Krümmung verläuft. Dann könne man erneut vom maximalen Steigungspotenzial profitieren. „Der jetzige Entwicklungspfad soll allerdings nicht verlassen werden“, schränkt Prof. Brecher ein. Vielmehr sollten parallele Wege beschritten werden.
Für einen Leistungssprung in der Fertigungs- und Werkzeugmaschinentechnik werde technologische Exzellenz benötigt, die der deutschen Produktionstechnologie zu Einzigartigkeit im Weltmarkt verhilft: Technologiebeherrschung ist entscheidend für eine Produktion am Maximum des technologisch Möglichen. Besondere Anforderungen stellen integrative Technologieplattformen an die Technologiebeherrschung, die durch Verfahrensintegration beispielsweise die Komplettbearbeitung von Bauteilen ermöglichten.
Und die toleranzsichere beziehungsweise auf „Null-Fehler“ ausgerichtete Fertigung? Planbare Prozessfähigkeit, so erklärt Prof. Brecher, sei das Gegenstück zur toleranzsicheren Produktion. Durch Vermeiden von Over-Engineering in Prozessschritten, die für die Produktqualität nur nachrangig relevant seien, ließen sich entscheidende Kostenvorteile gewinnen. Zu der planbaren Prozessfähigkeit gehöre im gleichen Maße die Intelligenz der Systeme: Selbstüberwachung und Diagnose von Schlüsselkomponenten der Produktion wie Maschinen, Werkzeuge und Bauteile.
Auch modulare, rekonfigurierbare Fertigungsanlagen sind entscheidend für ein hochverfügbares Fertigungssystem. Immer knappere Produktlebenszyklen tragen entscheidend zu dieser Anforderung bei. Zur Modularisierung gehört die Standardisierung. So sei es notwendig, neue Schnittstellen zu schaffen, um schneller auf die Wünsche der Kunden reagieren zu können. Turn-Key-Produktionssysteme müssten insoweit das Ziel sein. Denn Produktionssysteme allein sind kein Selbstzweck. Vielmehr bildeten Prozesstechnologie und Maschinentechnik eine Einheit zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels: der Fertigung des Produkts.
Prof. Christian Brecher versucht ein Fazit in Sachen „intelligente Produktion“: Die deutsche Produktionstechnologie müsse beherzt – privat und öffentlich – investieren, um ihren Spitzenplatz im weltweiten Vergleich behaupten zu können. Wettbewerbsfähigkeit und -dominanz seien die entscheidende Antwort auf die Frage, wie der Produktionsstandort Deutschland auch für die Zukunft erhalten bleiben könne.
Von dem Leistungsschub der 90er-Jahre ist wenig geblieben
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