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Gezielt abspecken, bevor die Vielfalts-Krankheit zum Kollaps führt

Durchgängiges Komplexitätsmanagement reduziert und beherrscht das Übermaß im Betrieb
Gezielt abspecken, bevor die Vielfalts-Krankheit zum Kollaps führt

Mancher Hersteller bietet mehr, als der Kunde erwartet. Türmt sich zu viel Komplexität auf, werden die Zustände kaum noch beherrschbar. Oft führt die Vielfalts-Krankheit zum Tod auf Raten. Um das Angebot auf ein verarbeitbares Maß zu reduzieren, muss es durchgängig gemanagt werden – von der Leitungsebene bis zum Shop Floor.

Von unserem Redaktionsmitglied Dietmar Kieser dietmar.kieser@konradin.de

Von Henry Ford stammt der Satz, wonach ein Käufer von ihm jede Farbe der Welt haben könne, solange sie schwarz sei. Mit dieser Philosophie verkörperte der Automobilpionier die Inkarnation der Einfachheit – und wäre daran fast gescheitert. Fords weltweite Nachfolger im beinharten Automobilgeschäft setzen auf eine andere Karte: Auf mehr als 40 000 Kombinationsmöglichkeiten brachten es manche Modelle, die vor nicht allzu langer Zeit von den Bändern der General-Motors-Fabriken liefen. Und bei BMW „kommt es heute so gut wie nie vor, dass sich zwei völlig gleiche Fahrzeuge auf dem Montageband befinden“, unterstreicht der Münchener Hersteller per Web-Auftritt seine Kundenorientierung.
„Immer schneller, immer mehr” – die Industrie hat sich über alle Branchen hinweg ihr Leitbild gezimmert. Doch Vielfalt erfüllt nicht bloß kundenindividuelle Wünsche. Das Überangebot, entstanden durch extreme Käufernähe und überbordende Ingenieurskunst, lässt in Unternehmen die Komplexität von Produkten und Prozessen bedrohlich anschwellen – und hinterlässt oft Pleiten, Pech und Pannen. „Wenn unkontrollierbare Komplexität im Leistungserstellungsprozess die Effizienz erheblich nach unten drückt, kann es zu katastrophalen Ergebnissen kommen“, weiß der Aachener Produktionsforscher Professor Günther Schuh.
Der Sog der Abwärtsspirale kann nicht nur Serienhersteller erfassen, auch Einzel- und Kleinserienproduzenten sind nicht davor gefeit. Allein die großen Autokonzerne sind heute fit darin, mit hoher Komplexität umzugehen, ohne die Individualität der Kundenwünsche einzuschränken. Dafür sorgen etwa Plattformkonzepte, Gleichteilestrategien und Modularisierung ebenso wie flexible Organisationsformen.
In fast allen anderen Industriebranchen aber droht Unternehmen schon deshalb Gefahr, weil sie die Flucht nach vorne in technologische Nischen angetreten haben. Dort angekommen, treffen sie auf erfolgreiche Hidden Champions oder werden über kurz oder lang von preisaggressiven Newcomern bedrängt.
„Das Ausweichmanöver in die Hochleistungs- und Hochpreisnische führt in eine Sackgasse“, ist Prof. Dr.-Ing. Günther Schuh überzeugt. Der Teufelskreis schließt sich schnell: Immer wieder neue Varianten erhöhen die Komplexitätskosten, die unter Umständen über Preissteigerungen an den Markt weitergegeben werden müssen. Ist der Anbieter aber zu teuer, gefährdet er damit seine Wettbewerbsfähigkeit. „Wer sich nach dem Umsatz streckt und dabei die Durchschnittsmarge verringert“, gibt Schuh zu bedenken, „über dem schnappt über kurz oder lang die Komplexitätsfalle zu.“ Und wer glaubt, an dieser Stelle locker zurückrudern zu können, den bestraft der sogenannte Remanenzeffekt. Kosten, die beispielsweise durch zusätzliche Varianten entstanden sind, machen sich quasi als Altlasten breit: Auch wenn Varianten gestrichen worden sind, lassen sich die damit verbundenen Kosten, etwa erweiterte Läger oder zusätzliche IT-Systeme, nicht in gleichem Maße abbauen.
Dies ist der Nährboden, auf dem Gegenbewegungen gedeihen. Ratgeber-Schreiber avancieren zu Bestseller-Autoren mit Werken wie Simplify your Life oder Einfach managen. „Bei tausendfach gelesenen Büchern müssten mindestens so viele Manager hierzulande vom Einfachheits-Virus infiziert sein“, suchen die Ulmer Unternehmensberater Oliver und Jörg Herkommer nach einer Erklärung – freilich in dem Wissen, dass dem nicht so ist.
Veränderungsprozesse hin zur Einfachheit können die beiden Vorstände der Ingenics AG nicht erkennen. Im Gegenteil: „Unternehmen versammeln heute mehr denn je Sach- und Fachverstand, beschäftigen hochqualifizierte Mitarbeiter und setzen mächtige IT-Systeme ein. Dennoch bauen sie in beschleunigtem Tempo Komplexität auf“, schildert Oliver Herkommer das Dilemma. Dieses auflösen könne man nicht, zumindest nicht ganz. „Wir können aber lernen, damit umzugehen”, weist der Organisationsberater den Ausweg. In puncto Komplexität gibt es für ihn aber „kein Schwarz oder Weiß, wir haben es hier mit vielen Grautönen zu tun“. Das richtige Maß zu finden, halten die Ingenics-Chefs deshalb für eine vordringliche Aufgabe für Unternehmen. Welches ist nun das geeignete Quantum? Wieviel Vielfalt ist notwendig?
Der Ingenieursdienstleister Ingenics berät seine Kunden dahingehend, dass jedes Unternehmen seine „eigene Menge“ an Komplexität definiert. Für Jörg Herkommer liegen die Grenzen der Variantenvielfalt „an dem Punkt, an dem kein zusätzlicher Kundennutzen mehr entsteht und für den Betrieb ein rückläufiger Trend im Unternehmenserfolg entsteht“.
Ohne eine gewisse Vielzahl und Vielfalt bei Produkten und Prozessen geht es aber auch nicht. Jörg Herkommer: „Wir müssen begreifen, dass ein bestimmter Teil von Komplexität Basis unseres Erfolgs ist.“ Grundüberlegung sei, entweder auf das zusätzliche Produkt zu verzichten – und Einfachheit zu haben, oder die Marktnische zu erschließen – und damit Komplexität zu bewältigen.
Das bestätigt auch Günther Schuh, der vor knapp 20 Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter das Thema Komplexitätsmanagement am Werzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen angestoßen und als Professor der Hochschule St. Gallen ausgebaut hat: „Die minimale Komplexität ist in aller Regel nicht das Optimum für ein Unternehmen“, sagt Schuh. Überdies „steckt in der Komplexität oder in der weiteren, für einen Einzelkunden gefertigten Variante auch immer die Chance auf eine kleine oder große Innovation“, leitet er einen Nutzen daraus ab. Auch lässt sich seiner Ansicht nach die Variantenvielfalt als Waffe im Wettbewerb einsetzen. So könne das Überangebot auch eine Markteintrittsbarriere aufbauen, die potenzielle Wettbewerber abschrecke.
Für ihn, der heute den Lehrstuhl für Produktionssystematik am WZL leitet und in Würselen bei Aachen mit dem Beratungsunternehmen GPS Schuh am Markt auftritt, gibt es eine „optimale Komplexität“, die man für sein jeweiliges Geschäft suchen müsse. Zuhilfe eilen die GPS-Berater mit Erfahrungen aus zahlreichen Projekten, flankiert von Methoden und einem Werkzeugkasten mit unterstützenden IT-Tools. GPS Schuh etwa setzt auf eine Systemlandschaft, die auf der eigenentwickelten Software Complexity Manager basiert. Die Ingenics AG präferiert ein Wirkungsmodell, dessen ganzheitlicher Ansatz zur Komplexitätsbeherrschung drei Hauptsysteme enthält: ein Führungs-, ein Office- und ein Produktionssystem. Die Standards und Methoden werden mit dem System abgebildet, das jeweilige Unternehmen muss dann den Ansatz mit Leben füllen.
Um „zwischen dem konsequent Einfachen und der betrieblichen Realität eine Verbindung zu schaffen“, meint Ingenics-Chef Jörg Herkommer, müsse die Rolle des Managements mit seinen Visionen, Strategien, Zielen und Werten mit einbezogen werden. Beispiel: Definiert das Marketing für ein Produkt 20 Farben, dann müssen diese für den Druck des Produktkatalogs lediglich festgelegt werden. Die Arbeit des Marketing wird also nur unwesentlich komplexer. Anders in der Lackiererei: Sie muss alle Farben vorhalten und hat alle Konsequenzen zu tragen hinsichtlich Qualität, Anlagen und Kosten. Herkommer: „Das Marketing hat immense Möglichkeiten, die Komplexität zu definieren, die Produktion als Ebene der Leistungserbringung hingegen bekommt die Auswirkungen voll ab.“
Während das Marketing Komplexität bekämpfen kann, indem es zum Beispiel neue Bedingungen erarbeitet, versucht die Produktion, Komplexität zu beherrschen, indem sie sich auf neue Prozessabläufe einstellt. Sprich: Der Shop Floor muss dagegen halten und Skaleneffekte hochhalten. Mit diesem Dauerzielkonflikt intelligent umzugehen, darin sehen die Verfechter des Komplexitätsmanagements einen Hauptteil der Aufgabe. Herkommer will gar nicht das Bekämpfen und Beherrschen zum Gegensatzpaar hochstilisieren. In der Verbindung sieht er die Lösung. Damit, ist er überzeugt, hätten Unternehmen langfristig Erfolg.
Überhaupt weist das durchgängige Komplexitätsmanagement viele Wege, wie sich Unternehmen neue Märkte erschließen können, ohne dass dadurch die Komplexität steigen müsste: etwa durch modulare Produktstrukturen. Einer, der in diesem Sinne das Optimum gefunden hat, ist die Gallus Ferd. Ruesch AG aus St. Gallen. Der Etikettendruck-Maschinenbauer aus der Ostschweiz, an dem die Heidelberger Druckmaschinen AG zu 30 % beteiligt ist, konnte unter Zuhilfenahme des Komplexitätsmanagements à la Schuh gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Am Ende steht die Lebenszyklusverlängerung eines eingeführten Produktes und eine Neuheit, bei der in puncto Modularisierung ein Quantensprung gelungen ist. Bei der betagten Maschine führte eine Rosskur zum Ziel: In zwei Tages- und Nachtschichten wurden rund 80 % der vorgehaltenen Optionen und Varianten gestrichen. Ergebnis: Dank intelligenter Produktstruktur und Releasemanagement büßte die Gallus R 200 am Markt nichts ein, sondern gewann an Attraktivität hinzu und machte Furore.
Fundamental umgedacht haben die Schweizer dann bei ihrer neuen StarMaschine: „Die Gassus RCS 330 ist so modular, wie es überhaupt nur geht“, freut sich Günther Schuh über das geglückte Werk. „Sollte ein Käufer sie als 4-Farben-Maschine kaufen und ein Jahr später erkennen, dass er doch eine 6-Farben-Version benötigt, muss nur das entsprechende Modul plug&print getauscht zu werden”, gibt er ein Beispiel für die rasche Wandlungsfähigkeit. „Diese Maschine“, zeigt sich der Produktionsforscher sichtlich stolz, „trägt die Variantenbeherrschung und das Komplexitätsmanagemement in ihren Genen.“
Bücher zum Thema finden Sie auf Seite 46
Verbindung schaffen zwischen dem konsequent Einfachen und der Realität

„Es gibt eindeutige Anzeichen, auf die jeder Manager achten sollte“
Die Ulmer Ingenics AG hilft Unternehmen auf dem Weg, komplexe Prozesse und Strukturen auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Vorstand Dipl.-Ing. Oliver Herkommer appelliert an den Mut der Top-Entscheider, eine klare Strategie zu verfolgen.
Wen halten Sie für den größten Komplexitätstreiber?
Das Management mit ständig wechselnden Visionen und Werten, unklaren Strategien und Zielen sowie mangelndem Mut zur Kontinuität und dazu, nicht alle Kunden- und Marktwünsche abdecken zu wollen.
Woran merken Unternehmen, dass aufgrund zu hoher Komplexität etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte?
Die Alarmsirenen sollten heulen, wenn etwa die Kostenziele bei Produkten und Prozessen nicht und die Liefertermine nur unzureichend eingehalten werden. Dies gilt auch, wenn die Produkt- und die Prozessqualität sich nicht im erforderlichen Zielkorridor befinden. Bedenklich ist es auch, wenn die Fluktuation der Mitarbeiter steigt, weil diese permanent überfordert sind.
Ingenics hat ein Instrument dafür entwickelt. Wie schwören Sie die Mitarbeiter Ihrer Kunden darauf ein?
Unser ganzheitlicher Ansatz hilft, Standards und Methoden abzubilden. Jedes Unternehmen muss diesen Ansatz mit Leben füllen. Deshalb schwört nicht Ingenics die Mitarbeiter darauf ein, sondern das Top-Management, das von uns unterstützt wird. Die Komplexität kann nur optimiert werden, wenn die Führung Pate des Ansatzes ist sowie ein individueller, auf das Unternehmen abgestimmter Weg entwickelt und gegangen wird. Entscheidend ist auch, dass die Mitarbeiter den Weg akzeptieren, den das Management geht. dk
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