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Hier fährt der Käpt’n auf dem Strich

Wie kommen die Luxusliner der Meyer Werft von Papenburg in die Nordsee?
Hier fährt der Käpt’n auf dem Strich

Hier fährt der Käpt’n auf dem Strich
Eine geradezu unwirkliche Szenerie bietet sich dem Autofahrer kurz vor dem Emstunnel, wenn plötzlich ein Ozeanriese seinen Weg kreuzt. Hier kann die Devise nur lauten: Nicht ablenken lassen, Augen auf die Straße
Von unserem Redaktionsmitglied Uwe Böttger uwe.boettger@konradin.de

„Wir sind in Papenburg seit 208 Jahren“, so die Standardantwort von Peter Hackmann auf die Frage, warum die Meyer Werft Ozeanriesen im Binnenland baut, 40 km von der Nordsee entfernt. Der quirrlige Friese, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei dem Schiffbauer im Emsland, vergleicht den Standort der Meyer Werft gern mit dem des Hamburger Hafens: „Der liegt auch nicht direkt an der Elbmündung, sondern 120 km die Elbe rauf. Die haben es dreimal so weit zum Meer wie wir.“
Die Meyer Werft und Papenburg sind untrennbar miteinander verbunden. Mitte der siebziger Jahre bezog das Unternehmen das neue Werftgelände außerhalb des Orts. Am ehemaligen Standort steht jetzt das schmucke Hotel „Alte Werft“, ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Wo heute die Gäste frühstücken oder zu Mittag essen, wurden bis 1975 Schiffe gebaut. Zum Beispiel die Fähren, die heute die Nordseeinseln anlaufen. Oder Gastanker für die Sowjetunion in Zeiten des kalten Krieges. In dem hohen Raum hängt der Haken der Laufkatze noch von der Decke und erinnert an eine lange Tradition.
Eine Verlagerung der Werft in Richtung Küste, etwa nach Emden oder Bremerhaven, kam nie in Betracht. „Das wäre betriebswirtschaftlicher Selbstmord“, schwört Hackmann. „Dieses Unterfangen könnten wir nicht finanzieren, dafür sind die Margen im Schiffbau zu gering.“ Ganz abgesehen davon, dass dabei ein Teil der Belegschaft und somit wertvolles Know-how verloren ginge. Die Mitarbeiter der Meyer Werft sind zwar treu, aber auch verwurzelt. Zwei Drittel der Belegschaft besitzt ein eigenes Haus in oder um Papenburg. Und so bleibt alles beim alten. Die Meyer Werft gehört zu Papenburg wie der Dom zu Köln.
Die Emsüberführung ist in Papenburg eine Art Naturereignis. Ende April ist es wieder so weit. Ein nagelneuer Luxusliner verlässt nach rund 18 Monaten Bauzeit die Baudock-Halle. Die „Jewel of the Seas“ ist 294 m lang und wiegt 90 000 t. Mit 15 Decks erreicht das Schiff eine Höhe von 50 m über dem Wasserspiegel. Eine schwimmende Stadt, an deren Fertigstellung rund 1800 Zulieferfirmen beteiligt sind. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Programm-Pakets der Münchner Atoss Software AG wird der Einsatz von 2000 eigenen Mitarbeitern und maximal 3000 Fremdarbeitern minuziös geplant.
Tausende von Menschen verfolgen den Weg des Schiffes auf der Unterems von Papenburg über Leer bis nach Emden. Dabei muss der Koloss drei Brücken passieren. Nach der Dockschleuse in Papenburg, eine kleine Brücke für Fußgänger, folgt die Friesenbrücke bei Weener. Hier muss ein Teil der Überführung, die ausschließlich vom Zugverkehr genutzt wird, mit Hilfe eines Schwimmkrans entfernt werden. Einfacher läuft es bei der Jann-Berghaus-Brücke in Leer, da sich ein Teil der Bundesstraße einfach nach oben klappen lässt. Bei allen drei Brücken beträgt die Durchlassbreite mindestens 45 m. Kein Problem für die Schiffe der Meyer Werft, die in der Regel die so genannte Panamabreite besitzen (32,5 m). So verbleiben auf jeder Seite 6 m Luft. Das ist mehr als genug, auch wenn die Manöver aus der Entfernung beängstigend knapp aussehen. Beim Anblick dieser gigantischen Ozeanriesen gehen die Dimensionen ein wenig verloren.
Je größer die Schiffe wurden, desto weniger Zwischenfälle gab es. Dafür sorgt die satellitengestützte Navigation (GPS) an Bord, die während der Überführung durch zusätzliche Antennen entlang der Ems unterstützt wird. Normal hat das GPS eine Abweichung von 15 m bis 20 m. Dank des zusätzlichen Equipements vom Amt für Geoinformation in Hannover liegen die Toleranzen am Ende bei unglaublichen 20 cm. Ein simpler Strich auf dem Monitor zeigt den exakten Kurs durch die Fahrrinne an. „Der Kapitän fährt nicht auf Sicht, sondern auf diesem Strich“, fasst Hackmann zusammen. Ausgestattet mit dieser ausgefeilten Technik, lassen sich Überführungen selbst bei Nacht und Nebel durchführen.
Doch die Meyer Werft setzt nicht allein auf Technik. Für die Emsüberführung wird seit Jahren immer das gleiche Team aus der Lotsenbrüderschaft in Emden gebucht, die auch den Kapitän stellen. Hackmann: „Wir haben keinen Kapitän auf der Gehaltsliste.“ Vor der Überführung geht die Truppe eine Woche lang ins Trainingslager nach Waageningen in Holland. Dort steht ein Simulator, in dem alle Daten des neuen Schiffes und der Ems eingespielt sind. Für jeden Luxusliner gehen die Lotsen die Überführung mehrfach durch und setzen sie am Ende in die Wirklichkeit um.
Der Kunde hat inzwischen volles Vertrauen in die Meyer Werft und die Emsüberführung. Früher musste das Schiff nach der Überführung nochmal ins Dock, zum Beispiel nach Hamburg. Dort wollte sich der Käufer davon überzeugen, ob unten am Schiffsboden auch alles in Ordnung ist. „Das machen wir schon seit zwei Jahren nicht mehr“, versichert PR-Experte Hackmann.
Die Natur hat bei der Emsüberführung erfreulicherweise auch ein Wörtchen mitzureden. Ohne eine ordentliche Brise aus Nord-West, die das Hochwasser die Ems hinauf treibt, fehlt der nötige Tiefgang. Allerdings darf der Wind nicht zu stark sein, da ein Luxusliner der Klasse „Jewel of the Seas“ mit seinen enormen Abmessungen eine ausgedehnte Angriffsfläche bietet. Bei einer kräftigen Böe treten gewaltige Kräfte auf, die aller Technik und Erfahrung zum Trotz den Liner an die Böschung oder an den Brückenpfeiler drücken könnten. So schnell kann der Kapitän mit seinen zwei Pod-Antrieben gar nicht gegensteuern – auch wenn jeder der Motoren rund 20 000 PS liefert.
Bis vor einem Jahr fand die Emsüberführung in zwei Etappen statt. Mit einer Tiede kamen die Papenburger lediglich 20 km weit bis nach Leer. Dort lag das Schiff dann in einer großen Liegewanne und musste auf das nächste Hochwasser warten. In der zweiten Etappe ging es weiter bis nach Emden. Seit der Fertigstellung des Ems-Sperrwerks bei Gandersum kurz vor Emden hat der Stress mit den engen Zeitfenstern ein Ende. Wenn heute die Flut eingelaufen ist, wird das Sperrwerk geschlossen und die Lotsen können in aller Ruhe bis in die Nordsee durchschippern.
Die Emsüberführung ist heute eine sichere Sache. Trotzdem nehmen Zyniker eine uralte Geschichte gerne zum Anlass, über den Standort Papenburg und die Emsproblematik zu lästern: Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde auf der Meyer Werft im Auftrag der deutschen Kolonialverwaltung der legendäre Dampfer „Graf Goetzen“ gebaut. Kaum war das knapp 70 m lange Schiff fertig, wurde es wieder auseinander genommen und in tausende von Kisten verpackt. Aber nicht deswegen, weil die Papenburger unfähig gewesen wären, die Graf Goetzen am Stück über die Ems in die Nordsee zu bringen. Vielmehr war der Dampfer für den Tanganjika-See bestimmt – und der liegt einige hundert Kilometer im Binnenland von Ostafrika.
Ganze Heerscharen von afrikanischen Trägern mussten damals die Goetzen-Pakete durch Steppe und Wildnis schleppen. In Kigoma an der Nordseite des 600 km langen Sees wartete bereits ein Papenburger Montagetrupp, um das Schiff-Puzzle fern der emsländischen Heimat wieder zusammenzusetzen. Die Graf Goetzen heißt heute „Liemba“ und fährt noch immer auf dem Tanganjika-See.
Die Emsüberführung ist in Papenburg eine Art Naturereignis
Vor jeder Fahrt geht es eine Woche in den Simulator
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