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Klebstoffwahl ist wie Partnerwahl

Verbindungstechnik: Massgeschneiderte Klebstoffe mit Computerhilfe
Klebstoffwahl ist wie Partnerwahl

Klebstoffe bieten erstaunliche Vorteile, wenn sie gut ausgewählt sind und zum Fügeproblem passen. Fraunhofer-Forscher haben jetzt ein Simulationsprogramm entwickelt, das die Entwicklung solcher maßgeschneiderter Klebstoffe beschleunigt. Ein Tool auch für Industrieaufträge.

Klebstoffe reduzieren Gewicht, beschleunigen den Konstruktionsprozess und optimieren Materialkombinationen. Sie sparen Zeit, Geld und erleichtern den Einsatz neuer Materialien. Doch wie zum richtigen Klebstoff finden? Die Rezepturen können aus vierzig und mehr Substanzen bestehen. Durch Intuition und jahrelange Erfahrung entwickeln Chemiker immer neue Klebstoffe mit zum Teil erstaunlichen Eigenschaften. Die Entwicklung kostet jedoch Zeit. Hunderte von Stoffen lassen eine Vielzahl von Kombinationen zu. Und obwohl häufig nur eine oder wenige zusätzliche Substanzen in eine bekannte Mischung eingebracht werden, ist der Chemiker letztlich immer auf den Versuch angewiesen und muss den Irrtum einkalkulieren.

Um dieser Zwangslage abzuhelfen, haben Fraunhofer-Forscher zusammen mit Henkel ein Computersimulationsprogramm entwickelt, das neue Klebstoffzusammensetzungen viel schneller testet. Dieses Vorgehen ist sicherer und effektiver als die herkömmliche Methode des Suchens. Doch nicht nur das. Ein Durchbruch ist den Forschern gelungen, weil sie mit Computerhilfe die Auswirkungen sogenannter Haftvermittler im Klebstoff voraussagen können – Schlüsselkomponenten in der Klebstoffformulierung.
„Haftvermittler lagern sich zwischen Klebstoff und Material an und vermitteln aufgrund ihrer chemischen Struktur die Haftung. Wenn sie nicht da wären, wäre die Haftung schlechter“, erläutert Dr. Peter Schiffels aus der Arbeitsgruppe Applied Computational Chemistry des Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (Ifam). Sie werden der Klebstoffmischung beigefügt und mit ihr auf das zu klebende Material aufgetragen. „Je effektiver der Haftvermittler, desto schneller strebt er an die Oberfläche des Klebstoffes“, weiß Schiffels. Da für jedes Fügeproblem ein spezieller Klebstoff angewandt wird, ist es notwendig, auch jeweils einen speziellen Haftvermittler zu identifizieren.
Die Simulationsprogramme berechnen nun, ob der Haftvermittler schnell genug an die Oberfläche steigt, sich dort gleichmäßig verteilt und schnell genug mit den Klebstoff- und Materialmolekülen reagiert. „Wir können etwas tun, was vorher nicht möglich war“, begeistert sich Dr. Schiffels. „Wir können Wechselwirkungen vorhersagen, die im Experiment so nicht im Detail nachvollziehbar sind.“
Der Haftvermittler: Steigt er im Klebstoff nicht schnell genug auf, härtet dessen Oberfläche aus, bevor sie mit dem zu fügenden Material reagieren kann. Verteilt er sich nicht gleichmäßig an der Oberfläche, findet eine ungleichmäßig starke Verklebung statt. Und reagiert er nicht stark genug mit Klebstoff und Material, dann verstärkt er die Klebung nicht nachhaltig genug. Ob der Haftvermittler dies alles und noch mehr leistet, lässt sich mit der neuen Simulationstechnik berechnen.
„Wenn alles gut geht, haben wir einen Satz von zehn bis 20 Haftvermittlern, die sich in der Simulation als brauchbar erweisen“, führt Peter Schiffels aus. Doch ohne Handarbeit geht es dennoch nicht. Anschließend muss in Labortests an Bauteilproben überprüft werden, wie der Klebstoff unter welchen Bedingungen tatsächlich reagiert.
Wie schwierig die Herstellung von passenden Klebstoffen ist, erfahren Hersteller täglich, denn gerade in der Industrie werden die Anforderungen immer komplexer. „Wir bewegen uns im Bereich der maßgeschneiderten Spezialklebstoffe“, stellt Gudrun Weigel fest, Engineering-Leiterin der Delo Industrie Klebstoffe GmbH & Co.KG, Landsberg. „Anwender stellen die verschiedensten Anforderungen an Klebstoffe: Sie sollen sehr schnell aushärten und zugleich höchste Temperaturen ertragen, die beste Chemikalienbeständigkeit mitbringen und eine hohe Festigkeit besitzen, sie sollen alterungsstabil sein und sehr flexibel.“ Doch oft müssen Abstriche gemacht werden, denn beispielsweise Eigenschaften wie höchste Flexibilität und Festigkeit sind nicht gleichzeitig zu erfüllen.
Deshalb ist die Klebstoffherstellung heute eine interdisziplinäre Wissenschaft, bei der Ingenieure und Wissenschaftler aus Chemie, Physik, Elektronik und Elektrotechnik zusammenarbeiten. Regelmäßig werden neue Rezepturen generiert, um die Eigenschaften zu verbessern. „Wir begleiten den Kunden über die gesamte Lebensdauer seines Produktes“, erklärt Weigel, „so dass wir unsere Empfehlungen immer wieder anpassen können, wenn sich im Produktionsverlauf etwas ändert.“ Zuerst wird festgelegt, was für den Kunden das wichtigste Anwendungskriterium ist und wo für ihn der Nutzen liegt. Denn bei der Anwendung kann er sehr viel richtig, aber auch sehr viel falsch machen.
So dehnen sich die Materialien unterschiedlich stark aus. Quarzglas habe zum Beispiel einen Ausdehnungskoeffizient von 0,5 ppm und Plexiglas von 85 ppm, erklärt Gudrun Weigel. Wie sich abweichendes Ausdehnungsverhalten von Werkstoffen auswirken kann, erklärt sie an der Paarung Plexiglas/Stahl. „Wir hatten den Auftrag, auf der Kopfleiste von Bussen eine Klarsichtscheibe aus Plexiglas in ein etwa ein Meter achtzig langes Stahlgehäuse einzukleben. Der Klebstoff musste hier bei Temperaturwechseln einen Längenunterschied von drei Millimetern ausgleichen. Also musste er flexibilisierende Bestandteile enthalten und extrem spannungsausgleichend sein.“
Kleben ist damit auch Dichten, Fugenfüllen und Beschichten. Trotz Computersimulation dauert die Entwicklung maßgeschneiderter Klebstoffe und Haftvermittler oft sehr lange. Ein bis drei Jahre sind keine Seltenheit. „Die Dauer hängt von den Anforderungen an den Klebstoff ab. Es gibt zum Beispiel Materialien, wie Titan, die sehr schwierig zu kleben sind“, weiß Dr. Schiffels. Auch in solchen Fällen muss eine Lösung gefunden werden. „Allerdings sind wir ein Forschungs- und Entwicklungsinstitut und das heißt, es kann auch mal schief gehen“, gibt er zu bedenken. „Wenn es immer funktionierte, könnten die Firmen das alles selbst machen.“ Andererseits lassen sich beim Ifam auch Teilprojekte in Auftrag geben. „In diesen Fällen ist die Klebstoff-Formulierung nur dem Anwender bekannt“, erklärt Schiffels. „Unsere Aufgabe besteht dann darin, beispielsweise Haftvermittler zu identifizieren, um die Klebung zu verbessern. Dazu müssen wir nicht exakt wissen, welche Stoffe wir vor uns haben. Wir sind also auch in der Lage, nur eine Komponente des Klebstoffgemischs oder sogar nur eine Eigenschaft zu optimieren“, stellt er die Bandbreite des Fraunhofer-Angebotes dar.
Welchen Belastungen gute Klebstoffe standhalten, macht Delo-Expertin Weigel an einem Beispiel deutlich: „Wir haben am Ifam einen Test mit einer Windkraftanlage durchführen lassen, bei der die Flügel eingeklebt waren. Dabei ist der Gussflansch geborsten, bevor die Klebung versagte. Für den Klebstoff ist das ein ausgezeichnetes Ergebnis.“ Das lässt den Schluss zu, es gibt keine schlechten Klebstoffe. Allenfalls sind sie schlecht ausgewählt oder es gibt Fehler in der Anwendung.
Hertha Kerz Freie Wissenschaftsjournalistin in Hamburg

Neue Technologien
Für jedes Fügeproblem der optimale Klebstoff – diesem Ziel sind Forscher am Fraunhofer Ifam einen deutlichen Schritt näher gekommen. Sie können jetzt simulieren, wie sich diverse Haftvermittler auswirken. Versuche fahren sie nur noch mit vielversprechenden Rezepturen, was den Entwurfsprozess erheblich abkürzt. Das am Ifam entwickelte Tool setzen die Bremer bereits heute als Dienstleistung in Industrieaufträgen ein.
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