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Nach dem Vorbild der Natur

Bionik: Innovationen an der Schnittstelle von Biologie und Technik
Nach dem Vorbild der Natur

Die Bionik nutzt den Einfallsreichtum der Natur, um die dort existierenden Strukturen und Prinzipien in technische Lösungen zu übertragen. Schritt für Schritt halten diese auch Einzug in die Medizintechnik.

Harry Potter sei Dank. Millionen von Kindern und Jugendlichen wissen heute, was eine Schneeeule ist: Das weißgefiederte Tier fungiert als Briefträgerin namens Hedwig in den Romanen der englischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling. Doch während die Posteule Hedwig eindeutig dem Reich der Fantasy zuzuordnen ist, dient die echte Schneeeule findigen Ingenieuren als Vorbild für technische Entwicklungen.

Als die in der Schweiz beheimatete Phonak AG vor einigen Jahren das Hörgerät Savia auf den Markt brachte, ließen sich die Entwickler von der Schneeeule inspirieren. Denn die gefiederte Jägerin besitzt ein außergewöhnlich gutes Hörvermögen: Ihr rundes Gesicht mit den reflektierenden Federn sammelt den Schall, leitet ihn zu den Ohröffnungen und ermöglicht ihr damit, die für sie wichtigen Töne – das Piepsen und Rascheln ihrer Beute – viel detaillierter wahrzunehmen als Menschen. Ohne diese die Wahrnehmung verstärkende Anordnung würde die Schneeeule doppelt so laute Geräusche für die genaue Ortung der Beute benötigen.
Das Hörgerät Savia wiederum imitiert die besonderen Fähigkeiten von biologischen Systemen, die sich auf das Hörvermögen beziehen. Digital Bionics nennt Phonak die Erforschung dieser akustischen Systeme – und setzte die auf diese Art und Weise gewonnenen Erkenntnisse mittels digitaler Technologien um. Mit Savia hat der Hersteller drei der häufigsten Herausforderungen, die mit Hörgeräten in Verbindung gebracht werden, gelöst: natürliche Schallortung, selektive Verstärkung und hohe Klangqualität.
Die Bionik ist noch eine relativ junge Wissenschaft. Bezeichnender Weise stammt der Begriff aus dem Militärwesen, geprägt im Jahr 1960 von einem amerikanischen Luftwaffenoffizier. Als erster Bioniker gilt gemeinhin jedoch Leonardo da Vinci, der schon vor rund 500 Jahren den Flügelschlag von Störchen skizzierte und seine Erkenntnisse auf den Bau von Fluggeräten anzuwenden versuchte.
„In der Bionik abstrahieren wir Erkenntnisse aus der Biologie, um wesentliche Gesetzmäßigkeiten zu erkennen“, erklärt Knut Braun, Vorstand der Stiftung Internationales Bionik-Zentrum (IBZ) in München und des Bionic Engineering Network e.V. (BEN) in Saarbrücken. „Diese Erkenntnisse bieten wir dem Techniker an, und zwar so modifiziert, dass sie produktgerecht oder prozesstechnisch umsetzbar werden.“ Dabei gehe es nicht darum, die Natur direkt zu kopieren, denn das sei schlicht und einfach nicht möglich. Vielmehr seien intelligente, übertragbare Lösungen gefragt.
Das BEN ist ein Innovationscluster, in dem sich verschiedene Mitglieder aus Hochschulen, Wirtschaftsunternehmen, Stiftungen und Einzelpersonen zusammenfinden, denen der Transfer bionischer Forschungsergebnisse ein starkes Anliegen ist. „Unsere Vision ist es, die Innovationsprozesse unserer Kunden voranzubringen“, sagt Knut Braun. „Wir haben das Ziel, Produkte und Prozesse mit Hilfe der Bionik schneller an den Markt zu bringen und effektiver zu gestalten.“
Das BEN ist auch Ausrichter des 1. bionischen Symbiosiums, das im September im Hochschul Technologie Zentrum der HTW des Saarlandes stattfand. Namhafte Bionik-Experten trafen direkt auf Unternehmer, technische Entscheider, Industrievertreter, Ingenieure, Fach- und Führungskräfte. Die Spezialisten verdeutlichten während dieser zwei Tage praxisnah die kundenorientierten Bionik-Strategien in den Themenblöcken Konstruktion, Management und Medizintechnik.
Zu den Referenten gehörte auch Dr. Ulrich Warnke von der Universität Saarbrücken, der seit über drei Jahrzehnten die Wirkung elektromagnetischer Kräfte einschließlich des Lichts untersucht. Er war der erste Wissenschaftler, der positive Effekte einer Gefäßerweiterung und erhöhten Perfusion auf pulsierende Magnetfelder beim Menschen sichtbar machen konnte. „Ich habe mir die Frage gestellt: Wozu hat die Evolution diese Kräfte genutzt?“, berichtet Dr. Warnke. Die Antwort: Elektromagnetische Schwingungen werden nur dann im Organismus wirksam, wenn sie sich mit dessen Molekülen in der gleichen Phase befinden. Dass Zellmembranen hochfrequente Schwingungen abgeben, wurde bereits in den 60er Jahren erforscht. Dr. Warnke gelang es nun, die Empfänger dieser Schwingungen zu lokalisieren: Enzyme. Deren Aufgabe wiederum ist es, Stickstoffmonoxid zu produzieren. Dieses Gas ist an einer Vielzahl von gesundheitsfördernden körpereigenen Prozessen beteiligt und sorgt somit dafür, dass geschädigte Organismen Wundheilungsprozesse in Gang setzen.
Diese Erkenntnisse mündeten unter anderem in die Entwicklung medizintechnischer Geräte, die die 1995 von Thomas Warnke, dem Sohn des Wissenschaftlers, gegründete Warnke United Research & Development GmbH in Saarbrücken herstellt. Das Unittron-pMF-System beispielsweise ist für den klinischen Einsatz bei schlecht heilenden Knochenbrüchen, in der Wundheilung und für die Behandlung von Arthritis zertifiziert.
Da jeder Mensch ein individuelles Schwingungsmuster – im Prinzip einen elektromagnetischen Fingerabdruck – besitzt, wird jeder Patient vor der Therapie vermessen, um den Energiefluss optimal auf ihn abzustimmen. „Wir gehen mit unserem bionischen Konzept in die Tiefe des Organismus“, betont Dr. Warnke. „Und die Heilungserfolge sprechen für sich.“ Das Nachfolgeprodukt BionMed misst und therapiert sogar gleichzeitig – es wird direkt auf die schmerzenden Körperstellen gelegt. Zertifiziert ist es bislang als Wellnessgerät, doch strebt das Unternehmen auch die klinische Zulassung an.
Für das Zertifizierungsverfahren benötigen die Hersteller bionischer Medizinprodukte erfahrungsgemäß einen langen Atem. Etwa zwei Jahre dauert es, bis ein Produkt alle Zulassungshürden genommen hat. „Es gibt gewisse Vorbehalte gegenüber der physikalischen Therapie“, berichtet Dr. Warnke.
Ein weiteres Problem bei der Einführung neuer Produkte auf bionischer Basis stellt die Marktakzeptanz dar. „Viele Ärzte scheuen davor zurück, innovative Produkte zu verwenden, und greifen lieber auf Altbewährtes zurück“, berichtet Lothar Stehle von der Copf-Bionic GmbH in Ludwigsburg. Die Unternehmen seien gefordert, die Verbreitung ihrer Ideen durch gezieltes Marketing zu unterstützen.
Die zentralen wissenschaftlichen und medizinisch-technischen Ideen des schwäbischen Medizintechnik-Spezialisten beruhen auf den Arbeiten von Prof. Franz Copf sen. Durch seine Forschungen entstanden neuartige Entwürfe im Bereich der Endoprothetik, die wissenschaftliche und medizinische Maßstäbe gesetzt haben.
Vorzeigeprodukt der Copf-Bionic GmbH ist die Hüftendoprothese Physiohip. Sie wird in die natürliche Knochensubstanz integriert und passt sich durch ihre patentierte Geometrie perfekt in den inneren freien Bereich des proximalen Teils des Oberschenkelknochens ein.
Die Physiohip-Endoprothese unterstützt so nach der Operation das Wiedereinpendeln des so genannten Fließgleichgewichts im oberen Oberschenkelknochen. Das physiologische Bone-Remodelling bleibt so in der Balance und der der Knochen auf Dauer funktionsfähig.
Herkömmliche Endoprothesen lockern sich mit der Zeit, in bis zu 30 % der Fälle müssen sie im Schnitt nach etwa 15 Jahren operativ ersetzt werden. Für die Patienten ist dies mit enormen Belastungen und Schmerzen verbunden. Bei der Physiohip kommen dagegen Forschungserkenntnisse über die Spongiosa als die tragende Substanz im proximalen Oberschenkelknochen zur Anwendung. Der künstliche Gelenkersatz ist so entwickelt, dass gegenüber herkömmlichen Hüftendoprothesen bis zu 400 % mehr an natürlichem Spongiosa-Restvolumen im Knochen erhalten bleibt. Und: Die Knochensubstanz verwächst mit der Endoprothese, bildet dadurch eine physiologische Einheit und erreicht so nach Angaben des Herstellers eine mindestens 100-fach geringere Lockerungsrate.
Das Beispiel zeigt: Der Einfallsreichtum der Natur fasziniert seit vielen Jahren. Neue Operationswerkzeuge, bessere Prothesen, effektivere Diagnose- und Überwachungsgeräte oder die Biokompatibilität der verwendeten Materialien gehören zu den Beispielen, die die Vielfalt der medizintechnischen Anwendungen unterstreichen. Und noch immer schlummern ungeahnte Potenziale in den Weiten der Natur.
Am Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik (IBMT) in St. Ingbert beispielsweise forscht Dr. Petra Meier (siehe Interview) an der Entwicklung nachgiebiger Strukturen für die minimal-invasive Chirurgie, die einmal in flexiblen Endoskopen zum Einsatz kommen könnten. Ein langwieriger Prozess: Für die Entwicklung der Technologie sind zwei Jahre veranschlagt, der erste Prototyp soll nach drei Jahren das Licht der Welt erblicken. Der erste Einsatz ist dann in vier bis sechs Jahren denkbar.
Jens-Peter Knauer Journalist in Waldenbuch
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 4
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