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Nanoröhrchen mischen die Technik auf

Carbon-Nanotubes: Bayer MaterialScience plant Jahresproduktion von 3000 t
Nanoröhrchen mischen die Technik auf

Carbon-Nanotubes wird das Potenzial zugesprochen, die Grenzen der Technik weit hinauszuschieben, zum Beispiel im Leichtbau. Wieder nur eine kühne Vision euphorischer Wissenschaftler? Diesmal nicht – der Durchbruch steht offensichtlich kurz bevor.

Erstaunlich, was diese winzigen Kohlenstoff-Nanoröhrchen alles können: Sie wiegen nur ein Viertel von Stahl und sind doch rund fünfmal stabiler bei mechanischer Belastung. Den elektrischen Strom leiten sie ähnlich gut wie Kupfer. Begeisternd. Und doch öden die Berichte schon wieder an: Es ermüdet, immer wieder von eindrucksvollen Fähigkeiten neuer Materialien zu hören, die dann doch nicht real werden – jedenfalls nicht in überschaubarer Zeit und nicht in handfesten Produkten. Immer dasselbe?

Diesmal nicht. Bei den Carbon-Nanotubes (CNT) läuft die Enttäuschung über zu früh bejubelte Technologien ins Leere. Hier ist der Bann gebrochen, bevor er beginnen konnte. Im letzten Jahr sind eine Reihe Sportgeräte mit CNT auf den Markt gekommen, die ihren Vorgänger-Modellen in der Tat überlegen sind – Skier, Baseballschläger und Surfbretter etwa. Die Skistöcke NTech des finnischen Herstellers Exel zum Beispiel sollen 30 % steifer und 6 % leichter sein als konventionelle Stöcke. Schon drängt sich der Eindruck eines Nischen-Erfolges auf, da melden sich bereits andere Branchen zu Wort. Die Schütz GmbH & Co. KGaA aus Selters etwa, ein Spezialist für Transportverpackungen, kündigt für Sommer 2008 das erste elektrisch leitfähige Fass mit Nanoröhrchen an. Durch die CNT sei die Leitfähigkeit so gut, dass auf Ruß-Systeme in Zukunft womöglich ganz verzichtet werden könnte.
Diese Fortschritte beeindrucken. Noch mehr aber fasziniert, dass sie geplant sind und das Ergebnis einer gezielten Strategie, die auch Geld kostete. „Wir können nicht darauf warten, bis sich der Markt selbst entwickelt. Wir müssen die Spirale durchbrechen“, erklärt Martin Schmid, Leiter der Geschäftseinheit Carbon-Nanotubes bei der Bayer MaterialScience AG. Die Leverkusener investierten. Im September nahmen sie in Laufenburg auf dem Werksgelände der H.C. Starck GmbH eine Anlage mit einer Jahreskapazität von 30 t „Baytubes“ in Betrieb, die eine bereits bestehende Pilotanlage ergänzt. „Unser Ziel ist es, die Nanotubes großtechnisch-industriell zu produzieren. Wir stellen die nötige Anlagenkapazität zur Verfügung und setzen damit ein Signal für große Endabnehmer, dass auch sie auf Liefersicherheit vertrauen können.“ Voraussichtlich 2009 soll ein 200-t-Reaktor folgen und für etwa 2012 sind 3000 t Jahreskapazität geplant.
Die „Spirale“, von der Schmidt redet und die es zu durchbrechen gilt, dreht sich schon seit Jahren: Bisher sind die meisten Anbieter kleine Unternehmen. Mit ihren begrenzten Liefermengen können sie kaum erwirken, dass der Marktpreis sinkt. Die Preise blieben lange sehr hoch – so hoch, dass funktionierende Anwendungen nicht realisiert werden konnten. Bayer MaterialScience (BMS) will dies mit den geplanten Tonnagen ändern. Dabei hilft ein neu entwickeltes Syntheseverfahren, das die Leverkusener stolz einen Durchbruch nennen. Jetzt sei es möglich, CNT mit konstanten Materialreinheiten von über 95 % im industriellen Maßstab zu produzieren. Die hohe Raum-Zeit-Ausbeute senke die Kosten. Schon heute, so betont Schmid, könne BMS die Baytubes zu einem Bruchteil des Preises anbieten, der noch vor zwei Jahren marktüblich gewesen sei.
Von dieser Entwicklung profitieren auch kleine und mittlere Unternehmen wie die Sportartikelhersteller. Sie müssen die Nanotubes nicht etwa selbst in die Kunststoffe einarbeiten, sondern beziehen sie von Compoundeuren – den Kunden von Firmen wie BMS. „Rufen uns Endanwender an, verweisen wir sie an unsere Compound-Partner. Wir haben ja nicht alle Rezepturen im Sortiment, die angefragt werden“, erklärt Martin Schmid. Die Compoundeure sind die eigentlichen Multiplikatoren der neuartigen Materialien. Zum Beispiel die Ensinger GmbH aus Nufringen, die im Juli den elektrisch leitfähigen Kunststoff Tecapeek ELS nano vorstellte. Seine Leitfähigkeit erhält er durch Kohlenstoff-Nanotubes, ohne dass unter dem Füllstoff – wie bei konventionellen Additiven – die PEEK-typische hohe Festigkeit und Zähigkeit leiden. Ensinger gehöre zu den Firmen, die bei CNT intensiv mit Bayer MaterialScience zusammenarbeiten, sagt Schmid.
„Wir haben sehr viel Business Development betrieben und folgen einer Road Map“, verrät der Manager. „Baytubes in Sportgeräten waren nur der erste Schritt in industrielle Anwendungen hinein.“ Im Februar will er in Tokio auf der Fachmesse nano tech 2008 die ersten Anwendungen im Automobil- und Schiffbau vorstellen. Und aus dem Luftfahrtsektor meldet die microdrones GmbH, Kreuztal, dass sie im Sommer 2008 die ersten Drohnen mit Baytubes als Pilotserie herstellen will. Die CNT sollen die Nutzlast der 3,6 kg leichten Flugobjekte auf rund 1,2 kg heben – zum Beispiel für Kameraeinsätze bei Skirennen, zur Inspektion von Windrotoren oder zum Aufspüren von Brandherden.
All diese Ankündigungen sind Grund genug, einen Blick auf die Anwendungen zu werfen, die bereits jetzt auf dem Markt sind. CNT wurden zum Beispiel Eishockeyschlägern aus Kunststoff beigemischt, um die Stabilität beim Schlag zu erhöhen. Nun ertragen die Kunststoff-Eishockeyschläger 100 „Slap Shots“ (es wird volle Kanne auf den Puck gehauen) anstatt bisher nur 80. Außerdem erreicht der Puck 150 km/h anstatt maximal 130 km/h bei Holzschlägern, weiß Schmid. Ein klarer Vorteil für die finnische Nationalmannschaft. Mit ihren CNT-veredelten Schlägern der Firma Montreal Hockey holte sie sowohl 2006 bei den Olympischen Spielen in Turin als auch 2007 bei der Eishockey-WM in Moskau die Silbermedaille.
Auf der JEC Composites Show in Paris präsentierten BMS und Nanoledge zwei weitere Anwendungen. Durch die „Nano In“-Technologie von Nanoledge in Kombination mit Baytubes wiesen Surfbretter und Skier erstaunlich verbesserte mechanische und thermische Eigenschaften auf: Das Epoxidharz im Verbundwerkstoff wird um 50 % fester und 50 bis 100 % widerstandsfähiger.
Ein viel versprechender Effekt könnte mehr Energieeffizienz in verschiedenen Bereichen sein: Rotorblätter von Windkraftanlagen lassen sich zum Beispiel leichter und länger bauen. Der CNT-Einsatz könnte dazu beitragen, dass Flugzeugkörper und Karosserieteile extrem stabil, belastbar und leichter gestaltet werden, um Energieverbrauch und CO2-Emissionen zu senken. Und durch ihre große Oberfläche und hohe elektrische Leitfähigkeit können Nanotubes außerdem die Speicherkapazität von Batterien erhöhen.
Überflüssig zu sagen, dass nicht nur Bayer MaterialScience an CNT arbeitet und sie produziert. Stellvertretend für viele andere eine Anwendung der Fraunhofer Technologie-Entwicklungsgruppe (TEG) in Stuttgart: Die Wissenschaftler entwickelten eine durchsichtige Lackschicht aus CNT, die auf Windschutzscheiben oder Spiegel aufgebracht werden kann. An eine Stromquelle angeschlossen, verwandelt sich die CNT-Schicht in eine passgenaue und vollflächige Scheibenheizung – ohne teure Kupferdrähte und lästige Sichtbehinderung. Damit könnte das Beschlagen von Autoscheiben der Vergangenheit angehören.
Karosserie-Bauteile werden leichter und stabiler

Neue Technologien
Immer mehr Anwendungen mit Carbon-Nanoröhrchen werden bekannt. An ihren besonderen Eigenschaften lässt sich ablesen, wo der Nutzen dieser neuen Technologie liegt: Überall dort, wo hohe mechanische Stabilität bei niedrigem Gewicht gefragt ist, wie bei Baseball-Schlägern oder Fluggeräten. Oder dort, wo Kunststoffe elektrisch leitfähig sein müssen, wie bei explosionsgeschützten Fässern. Nahezu jeder industrielle Sektor könnte also profitieren.
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