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Schau mir auf die Räder, Kleiner

Im Volkswagen Werk Emden werden Roboter in die Fließmontage eingebunden
Schau mir auf die Räder, Kleiner

Die Fließmontage war bislang dem Werker vorbehalten. Nur er konnte präzise Handgriffe an der bewegten Karosse durchführen. Im Volkswagen Werk Emden hat man einen völlig neuen Kurs eingeschlagen. Seit 2010 montieren Roboter die Räder im Fließbetrieb und sollen ab August dieses Jahres auch das Frontend verbauen.

Die Ostfriesen sind ein verwurzeltes Volk, das ungern seine Heimat verlässt. Doch das ist nicht immer mit dem Erwerbsleben zu vereinbaren. Es sei denn, man bekommt einen der begehrten Arbeitsplätze im Volkswagen Werk in Emden. Davon träumen viele junge Menschen in der Region. Wer es schafft, der kann bleiben und sein Leben an der Waterkant durchplanen.

„Die Leute hier in der Gegend sind zuverlässig, eigenständig und auch stur“, weiß Dr. Detlev Hoge, Leiter Produktionsplanung bei der Volkswagen AG in Emden. „Das sind Eigenschaften, die einen guten Mitarbeiter auszeichnen.“ Sturheit ist für Hoge nicht negativ besetzt, sondern die Basis für ein gesundes Durchsetzungsvermögen. „Wir schätzen unsere Mitarbeiter und können uns auf sie verlassen“, versichert Hoge. „Wer einmal bei uns angefangen hat, der bleibt.“
Das Vertrauensverhältnis ist nicht einseitig. Der Mitarbeiter kann sich auch auf Volkswagen verlassen. Das Unternehmen macht viel, um die Arbeitsplätze ergonomisch zu gestalten und dem Werker schwere Arbeit abzunehmen. Und was genau so wichtig ist: Durch Automatisierung wird kein Arbeitsplatz vernichtet, sondern ein anderer geschaffen. Oder das Personal wird zur Stückzahl-Steigerung genutzt.
Die Mitarbeiter, die bis Ende 2009 in der Radmontage im Fließbetrieb beschäftigt waren, verrichten jetzt eine andere Arbeit. Schließlich war es nicht gerade einfach, an rund 600 Fahrzeugen in einer Schicht die Räder zu montieren, trotz Hebehilfe durch einen so genannten Manipulator. „Wir wollten die Werker technisch unterstützen“, erzählt Siegfried Roßdeutscher, zuständig für die Fertigungsplanung im Bereich Fahrwerk bei der Volkswagen AG in Emden.
Im Fall der Radmontage war das leicht gesagt, aber nicht so einfach getan wie in anderen Fertigungsbereichen. Die Räder werden bei VW im Fließbetrieb montiert. Die Werker gingen bei ihrer Arbeit mit einem Fünffach-Schrauber neben den Karossen her, die durch die Halle 7 schweben. Genauer gesagt legen die Fahrzeuge in einem Takt eine Strecke von rund 6 m zurück, was der Länge einer Fertigungseinheit entspricht.
Die automatisierte Montage im Fließbetrieb ist neu, das hat sich bislang noch keiner getraut. Die Autobauer in Ostfriesland haben hier echte Pionierarbeit geleistet. Und mit der Radmontage wurde zugleich die Tür zu weiteren Anwendungen aufgestoßen.
Alles begann auf der Hannover Messe vor zwei Jahren. Die IBG Automation GmbH aus Neuenrade demonstrierte auf ihrem Stand einen automatischen Räderanbau im Fließbetrieb. Die Manager aus Ostfriesland zeigten sich beeindruckt. Die Technik funktionierte offensichtlich zuverlässig. So traf man sich wenig später zu ersten Gesprächen in Emden. Im Volkswagen-Konzern war das Vorhaben ein Pilotprojekt, es war die erste Automatisierung im Fließbetrieb ohne Entkopplung, die realisiert werden sollte.
Die Emder gingen daher auf Nummer sicher. Deswegen baute man zusammen mit IBG einen so genannten Demonstrator, eine kleine Anlage, auf der das Projekt getestet wurde. Zum Probeaufbau gehörten ein Roboter, ein paar Räder und eine Karosse. Der Kollege aus Stahl nahm ein Rad auf, verbaute es und wurde dabei von einer speziellen Kameratechnik geführt. „Die Bildverarbeitung interessierte uns natürlich sehr, die wollten wir kennenlernen“, erzählt Hoge. Der Probelauf war erfolgreich.
Jörg Sommer aus der Vertriebsmannschaft von IBG hat durchweg positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den Ostfriesen sammeln können. „Planung, Fertigung und die Instandhaltung standen komplett dahinter“, erinnert sich der Projektleiter. „In keinem Bereich hat man unser System angezweifelt.“ Die technischen Probleme, die bei so einer Anlage immer auftreten, wurden mit viel Engagement von allen Seiten gelöst. Das Ganze sei von Anfang an positiv aufgenommen worden. „Das findet man in der heutigen Zeit nicht überall“, ergänzt Sommer. „Wenn man vor Ort beim Kunden von Robotertechnik spricht, stößt man in der Produktion hin und wieder auf Gegenwind.“ Nicht so bei Volkswagen. Die Autobauer aus Emden sind offen für Innovationen. Und wenn sie zugleich den Mitarbeitern Gutes tun, umso besser.
Doch bei aller Innovationsfreude bleiben die Ostfriesen kritisch und bewahren einen kühlen Kopf. „Wir haben schon oft darüber nachgedacht, wie wir im Fließbetrieb ohne Anhalten des Fahrzeugs am Auto arbeiten können“, berichtet Produktionsplanungsleiter Hoge. „Da gab es einige Ansätze.“ Und die Voraussetzung dabei war immer die Gleiche: Die Technik musste prozesssicher funktionieren. Die so genannte technische Verfügbarkeit in der Montage bei Volkswagen in Emden liegt bei 99,8 %. Oder anders ausgedrückt: In einer Stunde darf die Linie maximal 7 s stehen. In der restlichen Zeit müssen sich die Karossen bewegen. „Wenn wir eine Technik einsetzen, dann muss sie absolut zuverlässig sein“, versichert Hoge. „In dieser Hinsicht waren wir immer sehr vorsichtig.“
Kamerageführte Systeme sind bei Volkswagen nichts Neues. Sie werden beispielsweise dazu genutzt, Teile automatisch aus einem Behälter zu greifen. Der legendäre Griff in die Kiste wird in Emden schon lange praktiziert. Aber die Verbindung von Fördertechnik, Bildverarbeitung, Robotik, Reifenhandling und Verschraubung – das gab es noch nicht. Mit der geplanten Applikation betraten die Ostfrieden absolutes Neuland.
Im Januar 2010 wurde es Ernst. Die Radmontage im Fließbetrieb ging in Emden in den Echtbetrieb. Jörg Sommer sieht den großen Moment im Rückblick gelassen: „Wir hatten keine Probleme, die wir mit anderen Aufbauten nicht auch hatten. Aber das ist normal. Wenn eine Anlage neu in Betrieb genommen wird, gibt es immer Abstimmungsbedarf.“
Die Linie läuft nun seit anderthalb Jahren mit einer Verfügbarkeit von 99,8 %, wie es sich bei Volkswagen in Emden gehört: Auf beiden Seiten der Linie befindet sich ein Roboter, der mit einer 3D-Kamera, einem Fünffach-Schrauber und einem Greifer für die Räder ausgestattet ist. Die Räder kommen aus einem Stockwerk tiefer, befinden sich bereits in der richtigen Reihenfolge und sind so orientiert, dass die Anschraubbohrungen in der Felge richtig liegen. Die Räder wandern zur rechten beziehungsweise linken Seite und werden vom Roboter aufgenommen. Läuft das Fahrzeug in die Zelle ein, wird die Geschwindigkeit von Roboter und Fahrzeug synchronisiert und die Kamera macht eine 3D-Aufnahme der Bremsscheibe. Bei allen weiteren Bewegungen bekommt der Roboter Korrekturwerte vom Kamerasystem. Mit Hilfe dieser Regieanweisungen positioniert der stählerne Kollege das Rad an der Achse und schraubt es fest. Danach verfährt der Roboter zum Hinterrad und der Ablauf wiederholt sich.
Detlev Hoge ist mit der neuen Applikation zufrieden. Wenn er davon erzählt, fallen ihm ständig neue Vorteile ein. Einer ist ihm dabei ganz wichtig: Der Werker wird von dieser schweren Arbeit entlastet und kann an anderer Stelle eingesetzt werden. Und alles wird sauber dokumentiert. Das war schon vorher so und die neue Technik musste das natürlich auch können. Jede Schraube wird mit einem exakten Drehmoment versehen und alles wird sauber dokumentiert. Die Daten sind der Fahrgestellnummer zugeordnet. „Wir wissen genau, was wir an welchem Fahrzeug gemacht haben“, betont Hoge. „Bei sicherheitsrelevanten Teilen sind wir sehr sensibel.“ Bei Volkswagen in Emden dreht sich alles um Sicherheit und Qualität – und zwar genau in dieser Reihenfolge. Fertigungsplaner Siegfried Roßdeutscher fügt einen weiteren Pluspunkt an: „Die Reproduzierbarkeit durch die neue Technik ist sehr hoch geworden, wir haben da einen echten Vorteil.“
Detlev Hoge und seine Mitarbeiter haben Gefallen gefunden an der Automatisierung im Fließbetrieb und auch an der Zusammenarbeit mit IBG. So wundert es nicht, dass die Ostfriesen bereits weitere Entwicklungen im Köcher haben. Als nächstes soll das Frontend des Fahrzeugs im Fließbetrieb von einem Roboter montiert wieder. Das unhandliche und schwere Teil wird derzeit noch von Werkern mit Hilfe eines Manipulators verbaut. Ab August diesen Jahres ist dafür der Kollege Roboter zuständig.
Für den Ablauf musste IBG im wahrsten Sinne des Wortes das Rad nicht neu erfinden, sondern konnte auf die automatische Radmontage aufsetzen. „Der Ablauf ist durchaus vergleichbar“, erklärt IBG-Mann Sommer. „Wir arbeiten wie gehabt mit dem Roboter und der Kamera und synchronisieren die Geschwindigkeit des Roboters wieder mit dem Fahrzeug.“ Und statt der Räder wird eben das Frontend aufgenommen. Die Sache hatte nur einen Haken und der war die eigentliche Herausforderung bei der Frontend-Montage: Der Roboter arbeitet nicht wie bei der Radmontage an der Seite des Fahrzeugs, sondern muss in die Linie zwischen die Karossen eintauchen. Das kann gefährlich werden.
„Bei dieser Anwendung mussten wir uns eine Strategie für den Notfall ausdenken und sicher umsetzen“, erklärt Sommer. Der Notfall sieht so aus, dass der Roboter zwischen den Fahrzeugen „stirbt“. Mit dieser eindringlichen Vokabel umschreiben Techniker den Fall, dass die Robotersteuerung ausfällt und der stählerne Kollege zwischen den Fahrzeugen festsitzt. Und im gleichen Moment wird der Albtraum jedes Autobauers wahr: Die Linie steht.
Was passiert dann? Der Anlagenführer alarmiert die Instandhaltung. Bis die zuständigen Mitarbeiter an Ort und Stelle sind und eine Lösung ausgeknobelt haben, wie sie den Roboter wieder aus der Linie kriegen, können schnell mal 20 oder 30 Minuten vergangen. Fahrzeuge, die in dieser Zeit nicht das Werk verlassen, sind verloren. So eine Strategie ist nicht akzeptabel.
Es musste also eine Prozedur entwickelt werden, mit der automatisch die Situation erkannt und der Roboter ebenfalls automatisch aus dem Bereich zwischen den Fahrzeugen heraus gefahren wird, so dass die Linie so gut wie gar nicht hält. Die Spezialisten aus Neuenrade haben sich etwas einfallen lassen, was im Prinzip schon bei der Radmontage zum Einsatz kam. Bei dieser Anwendung sitzen Schrauber und Kamera auf einem Schlitten, der eine eigene pneumatische Versorgung hat. Falls der Roboter ausfällt, wird über den Schlitten der Greifer inklusive Schrauber vom Fahrzeug weg gezogen. Und zwar profilfrei, so dass das Fahrzeug durchfahren kann, ohne dass der Anlagenführer eingreifen muss.
Bei der Frontend-Montage funktioniert das ähnlich. Der Kollege aus Stahl sitzt auf einer zusätzlichen, siebten Achse, die auch während der Montage genutzt wird. „Falls der Roboter ausfällt, können wir ihn auf diese Linearachse aus dem Bereich herausfahren“, versichert Jörg Sommer.
Die Verantwortlichen bei Volkswagen sind mit dieser Lösung zufrieden. Detlev Hoge ist davon überzeugt, dass es einen Stillstand der Linie praktisch nicht geben kann. Für den Leiter der Produktionsplanung ist das elementar. Er vergleicht den Takt einer Montage mit dem Herzschlag des Menschen. „Wenn sie Herzflimmern haben oder gar einen Stillstand, dann haben sie ein Problem“, betont der Ostfriese. „Mit der Montage ist das nicht anders.“
Mit diesem bemerkenswerten Zitat des gestandenen Volkswagen-Managers könnte diese Geschichte zu Ende sein. Ist sie aber nicht, denn Detlev Hoge hat noch weitere Pläne. „Wir arbeiten mit dem Roboter an der Seite des Fahrzeugs und werden ab August zwischen den Fahrzeugen aktiv“, fasst er zusammen. Der nächste Schritt ist eigentlich logisch: Der Roboter soll sich in der Fließmontage in das Fahrzeug hinein bewegen. Mögliche Anwendungen liegen auf der Hand. Zum Beispiel der Einbau der schweren und unhandlichen Sitze oder die automatische Cockpit-Montage.
Das sind alles Arbeiten, die derzeit noch von Werkern durchgeführt werden. Und sie sind alles andere als leicht. „Wir machen einen Schritt nach dem anderen“, betont Hoge. „Und die Applikationen werden dabei immer komplizierter.“
So sind sie nun mal, die Ostfriesen: Furchtlos, zielstrebig und gut strukturiert.
Industrieanzeiger
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