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Sicher erkennen, welche Trends treffen

Industrielle Fertigungstechnik: Die Innovation folgt einfachen Regeln
Sicher erkennen, welche Trends treffen

Sind Investitionen in Innovationen ein Planspiel mit unklarem Ausgang? Bisweilen ja, jedoch gerade in der Fertigungstechnik eher selten. Denn ob neue Technologien sich am Markt – und im Einzelfall – bewähren oder nicht, hängt von nur wenigen Stellgrößen ab.

Zahnpasta und Innovationsmeldungen haben eines gemeinsam: Erst einmal draußen, wollen sie kaum in die Tube zurück. Der Unterschied ist, dass vollmundige Fortschrittsmeldungen Erwartungen wecken, die Fertigungsfachleute und mitunter ganze Einkaufsstäbe beschäftigten. Das alles kostet Geld. Und was in der Praxis letztlich Vorteile verschafft, bleibt häufig offen. Umgekehrt gefragt: Welche Innovationen und Systeme wurden und werden derzeit in den Markt gedrückt, welche stillschweigend durch pragmatischere Lösungen ersetzt und welche verschwinden spurlos?

Schlichte Erfahrung auf der Alltagsebene ist etwa, dass in den 90er-Jahren vorgestellte neue Maschinenkinematiken wie der Hexapod sich als Flop, hingegen die zeitgleich etablierte Trockenbearbeitung wie auch die Linearantriebstechnik sich als Top erwiesen haben. Die Stab-, Koppel- und Scherenkinematik für Fertigungsmittel haben Exotenstatus, das Spanen ganz ohne Kühlschmierstoff und der Linearmotor sind Stand der Technik. Demgegenüber bleiben Lösungen wie das Laser-Abtragen, von der Bielefelder Gruppe Deckel Maho Gildemeister (DMG) unter dem Begriff Lasercaving vermarktet, derzeit ohne größere Bedeutung. Das Laser-Cusing der Hofmann Innovation Group wiederum – das mehr oder minder frei gestaltbare Aufschmelzen komplexer Formen zum 100 % dichten Bauteil – gilt wiederum als Technik mit Potenzial. Das Ultraschallfräsen der ebenfalls zu DMG gehörenden Sauer GmbH stagniert genau so als Geheimtipp wie das Laser-unterstützte Drehen der Kooperation Fraunhofer IPT und Carl Benzinger GmbH. Und auch das Gros der generativen Fertigungsverfahren, wie sie die Marktführer EOS und 3D-Systems anbieten, bleiben – zumindest, was die Serientauglichkeit betrifft – in der Rolle des ewigen Nachwuchstalents.
Außerdem wird in der Produktion registriert, dass neuere Technologien wie das Mikrofräsen und -senkerodieren – letzteres eher über Derivate denn ursächliche Innovation – sich ohne großes Aufsehen fest in der Feinstwerktechnik etabliert haben. Und auch jüngere Verfahrenserweiterungen wie das Poliererodieren der Schweizer Georg-Fischer-Gruppe mit den Marken Agie und Charmilles oder die so genannten agilen Bearbeitungssysteme für die Automobilbranche sind stillschweigend zu neuen Standards geworden.
Fragezeichen hinter all dem wäre mithin, wo – wenn es sie denn gibt – die gemeinsame Linie im Auf und Ab der Technologien läge? Insbesondere von solchen Verfahren, die nach der Sturm- und Drangzeit der rechnergestützten Metallbearbeitung bis Mitte der 90er-Jahre (siehe Grafik Folgeseite) entwickelt worden sind. Denn die bis dahin vorgestellten Lösungen gelten durchweg als bewährt. Und welche Entwicklungslinien sollte man im Auge behalten, wenn es um die Planung von Ausrüstungsinvestitionen über das jetzige Konjunkturhoch hinaus geht?
Grundsätzlich scheint zuzutreffen, dass Totgesagte länger leben: So beiläufig, wie Werkzeugmaschinen mit paralleler Kinematik, generative Herstellverfahren sowie flexible Fertigungssysteme (FFS) bei der Einführung zunächst begrüßt, zwischenzeitlich aber komplett abgeschrieben wurden, kehren sie jetzt an den Tatort zurück. Dies allerdings selten in Reinform, sondern besser auf die reale Bedarfslage der Fertigung zugeschnitten.
So scheint der klassische Hexapod im Bereich Zerspanungsmaschinen vollends suspendiert. Bei Umform-, Mess- und Simulationsanlagen ist der Verbreitungsgrad bestenfalls überschaubar. Vergleichsweise lebendig geben sich Hybride wie der als Montage- und Bearbeitungseinheit genutzte, parallelkinematische Tricept von ABB und der ebenfalls dreifüßige Fräskopf Sprint Z3, den Werkzeugmaschinenbauer DS-Technologie für die Fertigung von Strukturbauteilen einsetzt. Das neue Genius-Fräszentrum von Hüller Hille arbeitet hybrid mit einer Koppelkinematik, die vertikale V100-Drehmaschine der Esslinger Index-Werke seit Jahren mit einem Tripoden und längenunveränderlichen Stäben. Auch der von Agie 2005 vorgestellte Präzisionssenker Agietron Micro-Nano arbeitet mit einer dreiachsigen Stabkinematik, der Pentapod des Chemnitzer Werkzeugmaschinenbauers Metrom GmbH sogar mit fünf Stäben – unbedingte Marktrenner sind all diese Maschinen jedoch kaum. Sie füllen Nischen aus, mehr nicht, und die ehedem laut vermeldete Innovation fungiert als konstruktive Komponente.
Genauso unspektakulär ist die Rückkehr der vor 25 Jahren zunächst mit Vorschusslorbeer eingeführten und Anfang der 90er dann für obsolet erklärten FFS. Sie stehen voll im Geschehen: Kaum ein Großserienfertiger mit schwierig oder gar nicht zu prognostizierender Auftragszusammensetzung investiert noch in Transferstraßen – sie sind zu starr. Praktisch wie perspektivisch interessanter sind vielmehr solche Systeme, die mit dem Markt atmen, nach Bedarf also wachsen oder schrumpfen können und die wandelbar sind. Zwischen diesem neuen Ansatz und der Markteinführung der FFS in den 80ern liegen Milliarden äußerst dürftig verzinster Investitionen.
Wie viel Erfolg oder Misserfolg eine Innovation hat, ist ein Problem mit mehreren Faktoren. Folgende gelten als entscheidend für den Durchbruch:
  • der Reifegrad der neuen Technologie,
  • die Konjunktur, in der sie präsentiert wird,
  • ihre technische Attraktivität,
  • der Mehrnutzen für die Zielgruppe gegenüber konkurrierenden Lösungen,
  • die Anwendungs- und Einsatzbreite,
  • die wirtschaftliche Attraktivität,
  • Treiberunternehmen im Hintergrund, die so genannten Technologie-Pusher, sowie
  • Akzeptanz und Vertrauen im Markt.
Soweit sich eine technische Innovation am Markt etabliert hat, waren diese Faktoren zumindest in Teilen gegeben. Allerdings müssen sie nicht zwingend zur Gänze erfüllt sein. Umgekehrt aber hat eine Neuerung meist schon dann wenig Aussicht auf Erfolg, wenn einer dieser Faktoren völlig fehlt. Eine gemeinsame Linie oder gar eine Formel daraus abzuleiten, welche davon entscheidend sind, wird zusätzlich erschwert, weil die Faktoren sich unterschiedlich stark wechselseitig beeinflussen.
Ein gutes Beispiel dazu ist die Linearantriebstechnik. Trotz ausgereifter und technisch wie wirtschaftlich starker Konkurrenz hat sie sich deshalb durchgesetzt, weil ein dominantes Unternehmen – der DMG-Konzern – die Einführung massiv vorangetrieben hat. Dies wiederum hat sich günstig auf die Wirtschaftlichkeit der Lösung ausgewirkt – die Preise für Linearmotoren sind gesunken – und damit die Attraktivität und Akzeptanz am Markt gesteigert.
Anders die Parallelkinematik für Werkzeugmaschinen: Hier fehlte zum einen der Nachweis, dass sie den seriellen Achssystemen überlegen sind. Insoweit gab es auch keinen Mehrnutzen für mögliche Anwender. Zum anderen – und dies als direkte Konsequenz der fehlenden Überlegenheit – fehlte ein Treiber, der die neue Technik protegiert und mit Macht in den Markt gedrückt hätte.
Anbieter Ingersoll – 1994 erstmals mit seinem Hexapoden auf der amerikanischen Branchenmesse IMTS vertreten – verstand die Maschine mehr als Lern- denn als Verkaufsobjekt. Ähnlich angelegte Machbarkeitsstudien von Herstellern wie Okuma, Mikromat oder Starrag-Heckert folgten und verschwanden folgerichtig ohne nennenswerte Spur – die Projekte waren technologie- und auf keinen Fall vom Markt getrieben.
Technische Innovation bedeutet wie Evolution letztlich eine Anpassung. Manche Hersteller – insbesondere solche, die mehr auf ihr eigenes Produkt als den Bedarf ihrer Kundschaft schielen – vermerken dies gerade in freundlicher Konjunktur mit einigem Bauchweh. Schließlich sind die Wege bekannt, über die produzierende Betriebe sich neuen Techniken nähern.
2003 hatte das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe untersucht, mit welchem Tempo sich Fertigungsverfahren am Markt durchsetzen. Dazu waren rund 13 000 Fertigungsbetriebe angeschrieben, nach investiven Vorhaben gefragt sowie 1630 Antworten ausgewertet worden. Das Ergebnis war repräsentativ und unterschied mit System nach
  • Standardtechniken, die sich vorwiegend innerhalb der Betriebe weiter verbreiteten,
  • Vorreitertechnologien mit Potenzial, deren Bedarfsentwicklung jedoch unklar ist und
  • künftigen Standardtechniken, die sich mit hohem Tempo etablierten, den Bedarf der meisten Unternehmen treffen und die sich schnell und in Wellen verbreiten könnten.
Danach ist der Dampf für die spanenden Standardtechniken weitgehend verpufft. Der Markt ist erschlossen, und mit einer Nutzerquote jenseits 40 % wird in kleinen Betrieben genauso viel hartbearbeitet wie in großen. Die Überzeugungsarbeit der Vertriebsleute ist getan, der Schwung gleichwohl erschöpft. CNC-Zerspanungsmaschinen und -zentren – so der Tenor der ISI-Untersuchung – sind im Grundsatz ausgereift, ihr Markt ist ausgereizt und besetzt.
Tatsächlich ist die weitere Integration von Fertigungstechnik über das kombinierte Fräsen, Bohren, Drehen und Schleifen hinaus nichts anderes als die Verdrängung der zuvor platzierten Bearbeitungszentren. Nahe liegender Vorteil für den Anwender: Er produziert seine schrumpfenden Serien bei höherer Auslastung und auf weniger Fläche. Umso härter kämpfen die Werkzeugmaschinenbauer um die verbliebenen Kunden. Die Folge ist ein Geschäft, bei dem es in der Breite nichts mehr zu holen gibt.
Anders die Verfahren zur Bearbeitung von Nano- und Mikroteilen sowie Komponenten aus neuen Metallen, Keramik und Faserverbundwerkstoffen: Ihr Potenzial ist hoch, der Schwung noch verhalten. Sie werden erst wenig genutzt. Allerdings schließen die Betriebe den Einsatz im eigenen Haus umso eher aus, je weniger die entsprechenden Technologien verbreitet sind. Oder umgekehrt: Je größer die Installationsbasis, desto risikoloser scheint die Anwendung solcher Vorreiterverfahren.
Insoweit wären die klassischen Anbieter spanender NC-Maschinen nicht schlecht gestellt, sich grundsätzlich neuer Verfahren anzunehmen. Umsatzmilliardär DMG hat dies in Teilen bereits getan – siehe Lasercaving und Ultraschallfräsen – verzichtet bislang aber darauf, sie voran zu treiben, denn nicht alle Erfolgsfaktoren sind hier gegeben. Ganz anders die generativen Verfahren: Erst seit den 90er-Jahren serienreif, haben sie es auf über 10 % Nutzerquote gebracht. Nach Schätzung der Ulmer NC-Gesellschaft e.V. dürfte die deutsche Installationsbasis inzwischen über 2000 sowie weltweit jenseits 5000 Anlagen liegen. Das Potenzial solcher Verfahren ignoriert das Gros der Werkzeugmaschinenbauer bislang. Es gibt neben DMG wenige Unternehmen, die außer herkömmlich trennenden, umformenden und abtragenden auch aufbauende Verfahren vorhalten. Dabei wäre dies in der Tat markt- und eben nicht technologie-getrieben.
Deutschland spielt hier jedoch eine Sonderrolle. So stellte das Informan-Projekt – zwischen 2000 und 2003 Teil der Eureka-Factory-Untersuchung zur vergleichenden europäischen Technologie-Vorausschau – in seinem Abschlussbericht verwundert fest, dass die bundesrepublikanische Forschung neuen Maschinenkonzepten, Rapid Manufacturing und Lasertechnologien kaum Beachtung schenke. Und dürftiger noch: Gegenüber dem Rest Europas gebe es wenig Erwartung an innovative Verfahren zur Bearbeitung von Produkten aus neuen und kombinierten Stoffen.
Vorläufiges Fazit: Kluge Unternehmen lassen ihre Innovation so lange nicht raus, bis tatsächlich Bedarf gegeben ist. Per Nachfrage richtig auf die Tube drücken dürfte demnach nur der Anwender.
Wolfgang Filì Journalist in Köln
Innovation wie Evolution sind letztlich Anpassung
Vom Sturm und Drang der 90er-Jahre ist wenig geblieben
Ohne Technologietreiber im Hintergrund geht gar nichts

Neue Technologien
Um mit der Investition in neue Fertigungstechnik auf der sicheren Seite zu stehen, sollten Anwender folgendes beachten. Die fraglichen Technologien müssen
  • ausgereift sein (Indikator: Verbreitungsgrad),
  • in der Breite einsetzbar sein (Anwendungen),
  • ähnlichen Lösungen technisch und wirtschaftlich überlegen sein (Kosten, Fallbeispiele) und
  • als Treiber eine finanziell solide Gruppe hinter sich haben (Konzern, Konsortium, Marktführer).

  • Verfahren stehen ohnehin im täglichen Wettbewerb zueinander

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    Nachgefragt

    Warum setzen sich bestimmte Fertigungssysteme durch, und wieso floppen andere, die möglicherweise sogar überlegen sind?
    Jede Technologie – gleich ob alt oder neu – ist in der Praxis nur so gut wie ihr Beitrag zur Wirtschaftlichkeit. Zumindest in der Serienfertigung entscheiden die Kosten pro Bauteil. Die Unternehmen kalkulieren da knallhart. Auch die Ausgereiftheit und Zuverlässigkeit der entsprechenden Maschinen werden gewertet. Anders die Situation in der Einzelfertigung: Hier kann eine junge Technologie komplett neue Prozessketten begründen und sich auch als Nischenlösung etablieren.
    Inwieweit spielen langfristige Kostenbetrachtungen eine Rolle?
    Ganzheitliche Ansätze wie Total Cost of Ownership berücksichtigen etwa auch den Aufwand für Wartung und Reparaturen. Das kann für die industrielle Nutzung völlig neuer Verfahren und Systeme eine enorme Hürde darstellen.
    Setzt man eher auf Bewährtes, wenn Lösungen konkurrieren?
    Nein, die Verfahren stehen ohnehin täglich im Wettbewerb und die Grenzen verschieben sich laufend. In den meisten Fällen gibt es mehrere Prozessketten, um ein Bauteil zu fertigen. Das hängt schon davon ab, welches Material, Halbzeug oder Formteil bearbeitet wird. Jede Verbesserung führt hier zu einer Veränderung der jeweiligen Verfahrensanteile am Prozess. Beleg dafür ist der Wettbewerb zwischen dem Hartdrehen und Schleifen oder auch zwischen dem Fräsen und Erodieren im Werkzeugbau. Die klassischen Prozessketten wurden hier komplett umgebaut.
    Gibt es auch Gegenbeispiele?
    Es gibt zumindest gegenläufige Effekte bei der Produktivität: Beispielsweise kann der Performance-Gewinn von Lineardirektantrieben durch einen langsameren Werkzeugwechsel sehr schnell wieder aufgebraucht werden.
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