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Ultraleichtbau am Fuß

Metallpulverspritzguss MIM: Hightech-Bauteile für extrem belastete Skibindungen
Ultraleichtbau am Fuß

Metallpulverspritzguss | Das Tourenskifahren lockt mit fordernden Anstiegen, sportlichen Abfahrten und einem intensiven Naturerlebnis. Eine Herausforderung auch für die Skibindungen: Für fünf Schlüsselbauteile, die zusammen nur 24 g wiegen und extremen Belastungen ausgesetzt sind, wurde eine Fertigungslösung gesucht.

Klaus VollrathFachjournalist in Aarwangen/Schweiz

„Als Schweizer Mittelständler setzen wir auf Schweizer Tugenden: Perfektion bei der Entwicklung und kompromissloses Qualitätsdenken“, erläutert Martin Jordi, Leiter Technik und Beschaffung der Fritschi AG Swiss Bindings im schweizerischen Reichenbach. Das in malerischer Bergumgebung gelegene Unternehmen war ursprünglich eine mechanische Werkstatt, die aufgrund der Kooperation mit dem Erfinder Ulo Gertsch 1966 in die Fertigung von Skibindungen einstieg. Das damalige Bindungssystem wurde weiterentwickelt und mündete im Tourenmodell FT88. Dieses wurde wegen seiner Schuh-unabhängigen Funktionsweise in Verbindung mit Einfachheit und Funktionssicherheit von der Schweizer Armee als Hochgebirgsbindung in 10 000er-Stückzahlen beschafft.
Aufbauend auf diesem Erfolg entwickelte Fritschi in den folgenden Jahren das Konzept der Tourenbindung weiter, zunächst durch Verbesserungen am Konzept der FT88. Nach langer Tüftelei gelang dem Unternehmen dann 1995 mit dem grundlegend neuen Konzept „Diamir“ (König der Berge) der entscheidende Technologiesprung zu einer neuen Generation leichter, sicherer und einfach bedienbarer Bindungen. Mit dem Safety-Alubar-System „Eagle“ sieht sich Fritschi als Marktführer bei den Backensystemen und mit dem inzwischen speziell für das PIN-Schuhkonzept entwickelten Modell „Vipec“ ebenso als tonangebend in der Technologie. Der Exportanteil beträgt stolze 85 %.
„Die besondere Herausforderung bei einer Tourenbindung besteht darin, dass sie für die völlig unterschiedlichen Aufgabenstellungen bei Aufstieg und Abfahrt gleichermaßen geeignet sein muss“, ergänzt Martin Bräker, Projektleiter der Parmaco Metal Injection Molding AG in Fischingen (Schweiz). Das Unternehmen erzeugt hochwertige Stahlbauteile durch Spritzgießen einer Mischung aus Metallpulvern und Kunststoff-Bindern, die nach einem anspruchsvollen zusätzlichen Ofenprozess als hoch belastbare Komponenten in Präzisionsmechaniken aller Art zum Einsatz kommen. Die besonderen Eigenschaften dieser MIM-Teile waren der Grund für eine enge Zusammenarbeit beider Unternehmen bei der Entwicklung der neuesten Fritschi-Skibindung Typ Vipec.
Bergauf, so Bräker, muss die Ferse vom Ski entkoppelt werden, damit der Fuß die Beweglichkeit für das Aufsteigen mit Steigfellen erhält. Bei der Abfahrt muss die Bindung dagegen den Schuh vorne wie hinten sicher am Ski fixieren und dabei alle Kriterien für Sportlichkeit und Unfallschutz erfüllen, die auch eine reine Abfahrtbindung bietet. Bei den Diamir-Bindungen kann der Skifahrer die Tourenfunktion aktivieren, ohne aus der Bindung steigen zu müssen. Und die vier Gehstufen der Steighilfe zur Anpassung an die Geländeneigung lassen sich ganz einfach mit dem Skistock bedienen.
„Ergänzend zum Schuh-unabhängigen Bindungskonzept mit Aluminiumsteg haben wir das Modell Vipec für Schuhe mit PIN-Inserts entwickelt“, verrät Martin Jordi. Hier übernimmt der Schuh selbst dank integrierter Verriegelungselemente die Funktion des Alustegs, so dass dieser entfallen kann. Vorteile sind eine freie Ferse, die beim Aufsteigen keine zusätzliche Masse bewegen muss, ein geringeres Gewicht und eine tiefere Standposition. Diese Bindung eignet sich bestens für sportlich besonders ambitionierte Fahrer. Für die Entwickler waren dabei allerdings außergewöhnlich hohe Hürden zu bewältigen, weil insbesondere im Bereich des Frontautomaten extreme Belastungen auf minimalem Bauraum aufzufangen sind.
Die mechanische Komplexität der Bindung lässt sich auch daran erkennen, dass sie aus nicht weniger als 166 Einzelteilen besteht. Diese Bauteilanzahl ist vergleichbar mit derjenigen in einem Schweizer Uhrwerk. Als zusätzliche Herausforderung erwies sich die flache Bauform, die höchste Festigkeitsanforderungen an die im Bereich der Auslösemechanik eingesetzten Metallteile bedingte.
Gefragt ist Ultraleichtbau
„Bei der Weiterentwicklung von Skibindungen steht die Reduzierung des Gewichts stets ganz oben auf der Prioritätenliste“, weiß Martin Bräker. Beim kräftezehrenden Aufstieg durch tiefen Schnee spielt das Gewicht am Fuß eine entscheidende Rolle. Ebenso gilt dies auch für die seitlichen Fliehkräfte auf Fuß und Bein durch das Gewicht der Bindung bei Kurswechseln und Schwüngen während der Abfahrt.
Mit welcher Konsequenz die Entwickler hier um jedes Gramm gerungen haben, lässt sich an der Gewichtsabnahme der Fritschi-Skibindungen im Verlauf der Firmengeschichte ablesen. Während der „Urahn“ FT88 trotz seines bereits damals hohen Anteils leichtgewichtiger Kunststoffteile noch rund 1250 g auf die Waage brachte, waren es beim ersten Diamir-Modell bereits nur noch 850 g, und das neueste Vipec-System ist mit nur noch 470 g nochmals um fast 45 % leichter. Direkte Folge dieser Schlankheitskur ist allerdings – ganz wie beim Flugzeug und beim Automobil – die Notwendigkeit, bei kritischen Bauteilen zu Werkstoffen höchster Festigkeitsstufe zu greifen.
MIM-Stahlbauteile stemmen Rekordlasten
„Kritisch waren bei der neuen Vipec-Bindung vor allem fünf Bauteile, die im Auslösemechanismus für die seitliche Freigabe der Schuhspitze bei Überbelastung sitzen“, erinnert sich Technikleiter Martin Jordi. Hierbei handelt es sich um einen Druckschieber, einen Kolbenhebel, eine Klinke sowie zwei seitliche Druckhebel. Von diesen Edelstahlbauteilen wurden vor allem folgende Eigenschaften gefordert: Hohe Festigkeit von mindestens 1500 MPa, hohe Härte von 54 Rockwell C wegen der zu fordernden Verschleißbeständigkeit, filigrane Bauform mit dünnsten Wänden zur Begrenzung des Gewichts, 13 % Legierungsanteil Chrom zur Gewährleistung ausreichender Korrosionsbeständigkeit beispielsweise aufgrund von Salzeinwirkung beim Dachtransport und hohe Oberflächenqualität zur Sicherstellung gleichmäßiger Gleiteigenschaften beim Auslösen. Dennoch mussten die Kosten niedrig gehalten werden.
MIM setzt sich gegen Feingießen und Zerspanen durch
Im ersten Durchgang wurden drei mögliche Herstellverfahren verglichen: Herstellung durch Zerspanung aus dem Vollen, Feingießen oder Herstellung mithilfe des MIM-Metallpulverspritzgießverfahrens. Hierbei fiel die Entscheidung schon nach kurzer Zeit zugunsten des MIM-Verfahrens. Bei einer Zerspanung aus dem Vollen hätten die Kosten weit über dem Zielkorridor gelegen, und Feingussteile konnten den hohen Anforderungen an die Oberflächenqualität nicht in ausreichendem Maße genügen. Zudem wäre auch bei Feinguss in gewissem Umfang eine Bearbeitung erforderlich gewesen.
Die MIM-Bauteile erfüllten dagegen nicht nur sämtliche Vorgaben, sondern konnten auch so filigran ausgeführt werden, dass sie insgesamt nur knapp 24 g auf die Waage brachten. Nach dem Sintern, einer abschließenden Wärmebehandlung und einer Gleitschleifbehandlung können sie direkt in die Montage geliefert werden.
„Wie bereits erwähnt, stehen bei uns Qualität und Zuverlässigkeit an oberster Stelle“, setzt Jordi hinzu. Deshalb gehe beispielsweise jede Bindung erst dann in den Versand, wenn sie eine individuelle Seriennummer erhalten und durch einen umfassenden 100%-Test aller Funktionen gelaufen sei. Die Kraft-Weg-Verläufe der verschiedenen Versuche werden archiviert und stehen somit auch nach Jahren zur Nachprüfung zur Verfügung.
Mit der gleichen Sorgfalt wähle man die Lieferanten aus, denn Qualität beginne schon ganz am Anfang der Zulieferkette, betont Martin Jordi. Aufgrund entsprechender Erfahrungen stütze sich Fritschi hier bevorzugt auf Schweizer Firmen. Schon im Vorfeld der Entwicklung eines neuen Produkts werde geprüft, ob neu ins Auge gefasste Partner die strengen Ansprüche erfüllten. Neben rein formalen Kriterien beurteile man dabei auch die Bereitschaft des Zulieferers, sich an der Entwicklung eines neuen Produkts aktiv zu beteiligen. Darüber hinaus gehe es um das Engagement bei auftretenden Problemen wie etwa Lieferengpässen: Skibindungen sind ein Saisongeschäft, bei dem sich Stückzahlen nicht vorher schon bis ins Detail planen lassen.
Deshalb müssten Zulieferer bereit sein, ihren Auftraggeber aktiv zu unterstützen und nötigenfalls auch mithelfen, Engpässe zu überbrücken. „Was Kundenorientierung und Qualitätsdenken angeht, konnten wir uns überzeugen, dass Parmaco unsere grundlegenden Überzeugungen teilt und hervorragend in unsere Zuliefererfamilie passt“, bilanziert Martin Jordi.
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