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Verschleißen und Verschrotten – dafür sind Produkte viel zu schade

Blick auf den Produkt-Lebenszyklus eröffnet Potenziale für Ökonomie und Ökologie
Verschleißen und Verschrotten – dafür sind Produkte viel zu schade

Der Nutzwert von Produkten ist weit höher als nur der Verkaufserlös. Um den verborgenen Schatz zu heben, haben Wissenschaftler eine Reihe von Strategien entwickelt vom Recycling bis hin zum Teleservice. Nutznießer sind Hersteller und Umwelt gemeinsam.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß olaf.stauss@konradin.de

„Die Karre müsste doch zu retten sein“, dachte Martin Hieber, als er 1986 auf dem Schrottplatz nach Ersatzteilen suchte. Dieses Mal brauchte er einen „neuen“ Zündverteiler. Ein anderes Mal war es eine Lichtmaschine und wieder ein anderes Mal suchte er nach Ersatz für das durchgerostete Federbein. Erinnerungen an die Studentenzeit: Den angehenden Maschinenbau-Ingenieur trieb damals der Ehrgeiz, seinen „uralten Audi 50“ ohne großen Kostenaufwand wieder flott zu kriegen. Heute, fast 30 Jahre später, kümmert sich Dr. Martin Hieber immer noch um solche Werterhaltungs-Strategien – allerdings auf wissenschaftlichem Niveau. Hieber ist Mitglied des Führungskreises des Fraunhofer-Institut Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), Stuttgart, und leitet die Abteilung Produktmanagement. Mit seinen 25 Mitarbeitern entwickelt er Konzepte für die Industrie im Bereich Produktmanagement, ein Schwerpunkt ist das Life Cycle Management und das Produktrecycling.
Das Aufarbeiten und Wiederverwenden ausrangierter Auto-Komponenten ist ein typisches Beispiel für Life Cycle Management (LCM): Baugruppen und –teile werden in ein zweites Leben geschickt und erfahren dadurch eine gesteigerte Wertschöpfung. „Die Kosten im Ersatzteilwesen können damit um 20 bis 40 Prozent gesenkt werden“, schätzt Hieber. Zurzeit erarbeitet das IPA ein Remanufacturing-Konzept für einen kompletten Motor eines Automobilherstellers. Durch Demontieren, Reinigen, Prüfen und Wechseln der Verschleißteile soll aus dem Alt-Aggregat ein voll funktions- und leistungsfähiger Austauschmotor werden – „keine Gebrauchtware, sondern ein neuwertiges Produkt“, wie Hieber betont.
Solche Konzepte empfiehlt der Fachmann für Produktmanagement auch dem Maschinenbau, wo das Aufarbeiten von Komponenten bisher kaum eine Rolle spielt. Um dafür geeignete Baugruppen ausfindig zu machen, hält das IPA einen Kriterienkatalog bereit. Dass das Thema Zukunft hat, verrät ein Blick nach Amerika: In den USA ist das „Upcycling“ längst ein gewichtiger Wirtschaftszweig. 1995 erreichte die Branche mit Erlösen von rund 53 Mrd. US-Dollar dasselbe Umsatzvolumen wie die Stahlindustrie, beschäftigte dabei aber mehr als doppelt so viele Mitarbeiter.
Diese Zahlen lassen erahnen, welch große Potenziale das Denken in Produkt-Kreisläufen eröffnet. Life Cycle Management geht in seinem Ansatz aber weit über das Aufarbeiten von Komponenten hinaus. LCM berücksichtigt alle Lebensphasen eines Produktes mit dem Ziel, neue Wertschöpfungspotenziale zu erschließen und zugleich die Umwelt zu schonen – sei es durch Recycling am Produkt-Lebensende oder durch Erhöhen der Verfügbarkeit im Betrieb. Die LCM-Überlegungen müssen sehr früh beginnen, weil sich aus ihnen bereits handfeste Konsequenzen für die Konstruktion ergeben.
Welche Chancen das LCM im Bereich Materialrecycling bietet – aber auch welcher Aufwand damit heute noch verbunden ist – verdeutlicht der Pilotversuch Regioplast, den das IPA vor zwei Jahren mit der Bauknecht Hausgeräte GmbH, Schorndorf, initiierte. Er wurde vom baden-württembergischen Umweltministerium gefördert und sollte zeigen, dass Kunststoffe aus Elektrogeräten wirtschaftlich wiederverwertet werden können. Regioplast kann als Modell für ein erfolgreich umgesetztes LCM-Konzept gelten. Für die Umsetzung waren mehrere Schritte notwendig: Zunächst mussten sich die Projektpartner auf ein Zielbauteil einigen, das aus den Recyklaten hergestellt werden sollte. Ihre Wahl fiel auf Transportsicherungen aus Polypropylen(PP) für Waschmaschinen, die eine hohe mechanische Festigkeit aufweisen müssen, um ihre Funktion zu erfüllen. Die entscheidenden Fragen hießen: Woher die zu recycelnden PP-Fraktionen nehmen? Wie aufbereiten, damit die benötigte Qualität erreicht wird?
Um den Kreislauf in Gang zu bringen, organisierte sich ein Netzwerk aus fünf Firmen, zu denen Gerätehersteller, Demontage- und Aufbereitungsfirmen sowie ein Kunststoffverarbeiter gehören. Für die Recyklat-Rohstoffe werden Gehäuse von rückfließenden Hochdruckreinigern verwendet sowie Kaffeemaschinen und Staubsauger, die bei kommunalen Sammlungen anfallen. Spezielle Zerlege- und Demontageprozesse galt es zu konzipieren, PP-Sorten mussten definiert und Qualitätskriterien festgelegt werden. Das IPA begleitete die verfahrenstechnische Umsetzung und erstellte abschließend eine Dokumentation des Gesamtprozesses. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Bauknecht spart nach eigenen Angaben 20 % der Gesamtkosten für die Transportsicherungen ein, Umwelt und Ressourcen werden geschont und vier weitere Unternehmen sind an der gesteigerten Wertschöpfung beteiligt. „Jeder verdient daran“, zieht Martin Hieber als Fazit.
Regioplast zeigt: Richtig angepackt bringt Life Cycle Management ökonomischen und ökologischen Nutzen. Voraussetzung ist jedoch ein umwelt- und recyclinggerechtes Design (Life Cycle Engineering „LCE“). Die Produkte müssen so konstruiert sein, dass sie schnell demontiert und in verwertbare Bestandteile aufgeteilt werden können. Von Vorteil sind zum Beispiel niedrige Bauteil- und Materialvielfalt, eine einfache Bauteilstruktur und standardisierte Fügetechnologien – alles Eigenschaften, die in der Regel auch helfen, die Fertigung zu optimieren.
Gesteigerte Wertschöpfung bedeutet aber auch, dass der Hersteller über den ihm vertrauten Fertigungsprozess hinaus aktiv wird: Bei Regioplast musste er sich zusätzlich um einen funktionierenden Stoffkreislauf kümmern. Noch einen anderen Ansatz verfolgt das Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) der Universität Stuttgart. Um die Produktnutzungsphase zu optimieren, schlägt das IFF Internettechnologien wie Fernwartung und –diagnose vor (siehe Artikel Seite 57): Hier übernimmt der Hersteller zusätzlich die Funktion eines Dienstleisters und muss dafür ein passendes Servicekonzept aufbauen.
Der Aufwand für das Umsetzen von LCM-Konzepten ist immens. Für Bewegung sorgt daher fast ausschließlich die EU, die mit ihren Richtlinien für Altautos und Elektroschrott den Abfallberg eindämmen will, der sich immer höher auftürmt: Rund 2,5 Millionen Altautos müssen in Deutschland jährlich entsorgt werden, wovon durchschnittlich 25 Gewichtsprozent als Haus- oder Sondermüll anfallen. Die Automobilindustrie arbeitet denn auch mit Hochdruck am Aufbau von Stoffkreisläufen, um die ab 2006 für sie vorgeschriebene Verwertungsquote von 85 % zu erfüllen. Zugleich forciert sie das umweltgerechte Konstruieren.
Die Bertrandt AG, Ingenieurdienstleister für die Autoindustrie mit Sitz in Ehningen, hat sich zum Beispiel vom IPA eigens ein LCM-Expertenteam aufbauen lassen. Die LCE Consulting GmbH, Braunschweig, entwickelt als Dienstleister für Audi und weitere Unternehmen eine Webplattform, die das Know-how im Bereich Life Cycle Engineering bündeln soll (www.e2pro.net). Das Projekt wird vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert. „Wir wollen den Konstrukteur bei der Recherche unterstützen“, nennt LCE-Geschäftsführer Michael Flake das Ziel, denn „die Wissensbeschaffung kostet den Entwickler in der Regel zwischen 20 und 30 Prozent seiner Zeit“.
Diese Aktivitäten im Blick auf LCM werden auch für den Maschinenbau nicht ohne Folgen bleiben. Zum einen entsteht eine Infrastruktur, die den Einstieg in die Kreislaufwirtschaft erleichtert. „Die rechtlichen Vorgaben schaffen einen Markt, der Innovationen hervorbringt“, meint Flake. Wenn dann die großen Mengenströme einmal fließen, wird sich vieles ändern. Auch dem Maschinenbauer bietet sich dann die Chance, vom Kreislaufgedanken und der etablierten Infrastruktur aktiv zu profitieren.
Zum anderen werden für alle Produkte über kurz oder lang neue rechtliche Anforderungen gelten, egal aus welcher Branche sie stammen. Darin sind sich die Experten einig. Spätestens dann wird der Maschinenbau von ähnlichen Vorgaben betroffen sein, wie heute der Automobil- und Elektrogerätebau. Flake jedenfalls hat für sein Dienstleistungsunternehmen die Weichen für die Zukunft bereits gestellt. Im August schloss er mit der Hannoveraner Pape Entsorgung GmbH & Co. KG eine Kooperation ab. Insbesondere für asiatische Elektro- und Elektronikgeräte-Hersteller bieten die Partner ein komplettes Entsorgungsmanagement an, ergänzt durch den so genannten Recyclingpass von LCE. Dieser enthält auf vier bis fünf Seiten die wichtigsten Recycling- und Demontageinformationen, wie sie von der EU-Elektroaltgeräte-Richtlinie WEEE gefordert sind. Wird die WEEE wie vorgesehen bis August 2004 in nationales Recht umgesetzt, ermöglicht das Pape/LCE-Servicepaket den Geräteanbietern, ihre Recyclingauflagen ohne zusätzlichen eigenen Organisationsaufwand zu erfüllen.
Jährlich 2,5 Millionen Altautos bringen Stoffkreisläufe in Schwung
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