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Wo rohe Kräfte sinnvoll walten

Massivumformung: Rohre aus dem Vollen gepresst
Wo rohe Kräfte sinnvoll walten

Mit dem Press- und Ziehverfahren fertigt Vallourec & Mannesmann Tubes aus massiven Metallblöcken dickwandige, nahtlose Großrohre. Die High-Tech-Produkte werden nicht nur im Kraftwerksbereich oder für die Erdölexploration, sondern oft auch für Komponenten des Maschinenbaus eingesetzt.

Dipl.-Ing. Klaus Vollrath ist Fachjournalist in Herne

Wenn es um höchste Belastbarkeit geht, ist das nahtlose Stahlrohr fast unschlagbar“, erklärt Wolfgang Grümmer, Abteilungsdirektor Verkauf Added Value, auf dem Weg durch die Pressenhalle der Vallourec & Mannesmann Tubes GmbH im Düsseldorfer Stadtteil Reisholz. Hier ist die Produktion in vollem Gange: Langsam gleitet der Deckel von einem der großen Tieföfen, ein Kran senkt seinen zangenbewehrten Arm in die wabernde Hitze und hebt einen hellrot glühenden Stahlblock heraus, dessen Hitzestrahlung selbst auf eine Entfernung von mehr als zehn Metern noch unangenehm zu spüren ist.
Mit dem Brocken im Griff fährt der Kran vor die haushohe Presse im Zentrum der Halle, wo der Block in einer runden Stahlmatrize landet. Diese fährt unter den Pressenzylinder. Ein meterlanger, mannsdicker Lochdorn senkt sich fast gemächlich herab. Dann bringt die Presse ihre Druckkraft von 40000 kN ins Spiel und zwingt den Dorn immer tiefer in das Material hinein. Wie Teig unter dem Daumen eines Bäckers bewegt sich der Stahl um den eindringenden Dorn herum nach oben. Die Bewegung stoppt erst, wenn der Block fast ganz durchstoßen ist. Nach dem Herausfahren des Lochdorns bleibt eine Art überdimensionaler Fingerhut zurück.
Der Kran bringt ihn zur Ziehpresse, wo er horizontal auf eine Dornstange gesteckt wird. Diese stößt ihn je nach Bedarf ein- oder mehrmals durch Ziehringe, wobei er mehr und mehr die Form eines Rohrs annimmt. Dessen Innendurchmesser entspricht dem Durchmesser der Dornstange, der Außendurchmesser dem Maß des letzten Ziehrings. Im Prinzip können hierbei beliebige Kombinationen von Durch-messer und Wanddicke eingestellt werden. Die Länge des entstehenden Rohres hängt vom berechneten Einsatzgewicht, das heißt, von der Menge des zur Verfügung stehenden Materials ab. Auf Grund der Abmessungen der Ziehbank ist die nutzbare Rohrlänge auf etwa 10,5 m begrenzt. Das Warmumformen nach den Press- und Ziehverfahren führt – ähnlich wie beim Schmieden – zu einer besonders gleichmäßigen Gefügestruktur. Einer der wesentlichen Unterschiede zu den anderen Herstellungsverfahren nahtloser Rohre besteht darin, dass viel massivere Rohre möglich sind: Während in Reisholz Blockgewichte bis zu 27 t verarbeitet werden, beträgt das maximale Einsatzgewicht beispielsweise beim Pilgerwalzen nur 7 t.
Eine Besonderheit ist auch, dass die Rohre prinzipbedingt einen nahtlos mitgeschmiedeten „Naturboden“ aufweisen. „Das ist immer dann ein wesentlicher Vorteil, wenn das Rohr im späteren Einsatz ohnehin durch einen Deckel verschlossen werden müsste“, erläutert Wolfgang Grümmer. Praxisbeispiele sind Hydraulik- oder Pneumatikzylinder, Reaktoren für die chemische Industrie oder Höchstdruck-Gasspeicher. Ein weiterer Vorzug des Verfahrens ist die praktisch unbegrenzte Legierungsbandbreite. Das Werkstoffspektrum umfasst sowohl unlegierte als auch mittel- und hochlegierte Stähle sowie Duplex-Stähle und austenitische Güten. Darüber hinaus können auch Rohre aus Nickelbasis-, Kupfer- oder Titanlegierungen hergestellt werden.
„Lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen: Wir erzeugen hier High-Tech-Produkte, auch wenn unsere Ausrüstung nicht gerade filigran aussieht“, merkt Grümmer an. Schon die Werkstoffauswahl erfordere den Einsatz hochqualifizierter Spezialisten. Und oft genug sei der Computer schon im Einsatz gewesen, um den Umformprozess durch computergesteuerte Simulation zu optimieren, noch bevor der Block zum Aufheizen in den Ofen gesteckt werde. „Angesichts der Kosten solcher Rohre wollen wir schließlich sicher sein, alle Anforderungen schon beim ersten Anlauf zu erfüllen“, betont der Abteilungsdirektor.
Mit der vorhandenen Ausrüstung können die Reisholzer Rohre mit Innendurchmessern zwischen 220 und 1220 mm und Außendurchmessern bis 1500 mm bei Wanddicken von 18 bis 270 mm erzeugen.
Nach dem Warmumformen wird der Kopf- und Fußschrott – der nicht verwendungsfähige Teil des offenen Endes sowie der Boden – abgetrennt, um ein an beiden Seiten offenes Rohr herzustellen. Nächster Schritt ist normalerweise eine Wärmebehandlung, mit der sich die Eigenschaften des Werkstoffs auf die gewünschten Werte einstellen lassen. Hierfür werden die Rohre in einem modernen Herdwagenofen bei präzise vorgegebenen Temperaturen geglüht und anschließend definiert abgekühlt. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten, von der Abkühlung an Luft über die Wassersprühvergütung bis zum Tauchen ins Wasserbecken. Danach erfolgt meist ein Anlassen, also ein Erwärmen bei definierten Temperaturen, um die beim Härten entstandenen Spannungen abzubauen und die Zähigkeit zu steigern. Dann werden die Rohre auf einer Richtpresse gerichtet.
„Aus Gründen der Prüfbarkeit bearbeiten wir alle Rohre“, verrät Wolfgang Grümmer. „Die für Qualitätskontrollen erforderlichen Messungen können wir nur an bearbeiteten Oberflächen durchführen.“ Da das Unternehmen über einen großen Maschinenpark verfügt, übernimmt es auch viele weitere Bearbeitungsgänge. Dies umfasst sowohl Vorbereitungen wie Richten, Sägen und Überschleifen als auch Präzisionsbearbeitungen wie Drehen, Schleifen, Bohren oder Tieflochbohren. Neben Anlagen für das Strahlen und Bandschleifen verfügt das Unternehmen auch über Horizontalbohr- und Fräswerke für weitergehende Bearbeitungen etwa an Hydraulikzylindern oder für das Ausklinken von Öffnungen für angesetzte Stutzen.
„Die Vielfalt der verfügbaren Anlagentypen ermöglicht für jeden Bearbeitungsvorgang die Wahl der wirtschaftlichsten Alternative“, erläutert Grümmer. „Bei manchen Innenbearbeitungen ist es beispielsweise sinnvoller, zu drehen statt zu bohren, und beim Außenschleifen gibt es gravierende Unterschiede zwischen Längs- und Rundschleifen.“ Viele der dickwandigen, nahtlosen Rohre werden zu Komponenten für den Maschinen- und Anlagenbau wie Hydraulikzylinder, Laufrollen und Walzen, Antriebswellen oder Zylinderlaufbuchsen weiterverarbeitet, weitere im Kraftwerksbau oder für die Erdölexploration eingesetzt.
„Wir sprechen mit dem Kunden über seine Anwendung, statt ihm Halbzeug nach Katalog zu verkaufen“, hebt Grümmer hervor. Viele Arbeitsgänge können problemlos auf den Anlagen in Reisholz gleich mit erledigt werden. „Je tiefer wir dabei in die Fertigungskette des Kunden hineingehen, desto größer ist der Vorteil für beide Seiten“, versichert der Abteilungsdirektor. „Die tonnenschweren Rohre spannt man nicht so mal eben mit ein paar Handgriffen auf eine Drehbank.“ Noch teurer werde es, wenn der Kunde nicht selbst über die Ausstattung zum Bearbeiten solch großer Komponenten verfüge, sondern diese extern durchführen lasse. Dadurch ergebe sich ein ganzer Rattenschwanz an weiteren Kosten, vom Angebotsvergleich im Einkauf über die Transportaufwendungen bis zur mehrfachen Qualitätskontrolle. Das Werk sei für solche Bearbeitungen gut gerüstet und könne diese deshalb in der Regel rationeller ausführen als ein Anwender, der vielleicht nur über eine einzige Großdrehbank verfüge.
Darüber hinaus erfordere die Rohrbearbeitung Spezialisten, die auf Grund ihrer ständigen Praxis die vielen kniffligen Probleme der Rohrbearbeitung „aus dem Effeff“ kennen. „Das beginnt schon beim Festlegen der Vorrohrabmessung und eines detaillierten Ablaufplans unter Berücksichtigung aller verschiedenen Bearbeitungsoperationen“, erläutert Grümmer. „Hier entscheidet oft schon allein die Wahl des richtigen Bearbeitungsansatzes über Kosteneinsparungen in drei-, vier- oder gar fünfstelliger Höhe.“
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
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