Startseite » Themen » Industrie 4.0 »

Normierung als Basis für Wachstum

Standardisierung im Umfeld von Industrie 4.0
Normierung als Basis für Wachstum

Im Rahmen von Industrie 4.0 kommunizieren Prozesse, Systeme, Maschinen, Rohstoffe und Menschen. Mehrwert entsteht daraus nur, wenn sich alle verstehen. Sprich: Wenn standardisierte Schnittstellen über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus festgelegt werden.
Im privaten Bereich funktioniert es bereits: das Handy meldet sich via Bluetooth im Fahrzeug an, der WLAN-Drucker dient unterschiedlichen Nutzern und der USB-Stick wandert problemlos vom Rechner zum Fernseher. Das funktioniert, weil sich die Hersteller auf gemeinsame Schnittstellen und Protokolle verständigt haben. Schwieriger wird es, wenn ganze Wertströme vernetzt werden sollen. Die dazu notwendigen Standards fehlen noch, sind aber in Arbeit. Die Zeit drängt: Laut einer Umfrage der Unternehmensberatung Staufen sehen mehr als die Hälfte der befragten 179 Unternehmen in fehlenden Normen und Standards aktuell das größte Hindernis auf Deutschlands Weg zur Industrie 4.0-Nation.
Schnittstellen-Standards allein reichen jedoch nicht aus. Ebenso wichtig sind zum Beispiel auch methodische Lösungen für standardisierte Software-Entwicklungen und nicht zuletzt eine möglichst eindeutige Datensemantik. Sie unterstützt nicht nur den technischen Austausch, sondern das gemeinsame Verständnis sowie die korrekte Interpretation aller Daten und Prozesse. Und auch die Webprotokolle selbst müssen sich den neuen Anforderungen des Internets der Dinge beugen. Weltweit arbeiten die meisten Geräte beim Datenaustausch noch mit dem fast 30 Jahre alten Internetprotokoll IPv4. Das Problem dabei: IPv4 unterstützt nur vier Milliarden IP-Adressen; die meisten davon sind schon vergeben. Jedes neue Gerät braucht aber seine eigene IP-Adresse. Die Lösung: das Nachfolgeprotokoll IPv6. Es bietet 340 Sextillionen IP-Adressen; das ist eine Zahl mit 39 Stellen. Das sollte für alle möglichen Anwendungen reichen – allerdings dachten das die Entwickler von IPv4 auch und werden heute durch die Anforderungen des Internets der Dinge widerlegt.
Für die notwendige Standardisierung gibt es bereits unterschiedliche, teils kooperierende Initiativen. Auf europäischer Ebene diskutierten am 12. Oktober 2016 rund 100 Experten aus Ministerien, Behörden und Normungsorganisationen auf der „German Pre-G20 Standardisation Conference – Standards Boost the Digital World“ über Normung in der Digitalisierung. Die Konferenz fand vorbereitend zur am 1. Dezember beginnenden deutschen G20-Präsidentschaft statt.
Internationale und nationale Akteure
In Deutschland haben mehrere Industrieverbände im Umfeld der Hannover Messe 2016 das Standardization Council Industrie 4.0 gegründet. Die Gründungsinitiatoren sind der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom), die Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (DKE), das Deutsche Institut für Normung (DIN), der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sowie der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI). Ziel dieser Normungsinitiative ist die Überwindung noch bestehender Branchengrenzen zwischen Elektrotechnik, Maschinenbau und IT. Sie vertritt auch die Interessen der Mitglieder gegenüber anderen internationalen Konsortien und organisiert und gestaltet die deutsche Normungs-Roadmap Industrie 4.0.
Entstanden ist das „Standardization Council Industrie 4.0“ aus der „Plattform Industrie 4.0“ heraus. Dieses Netzwerk treibt die digitale Transformation in der Produktion voran und erarbeitet dafür Handlungsempfehlungen für Politik und Unternehmen. Dazu gehören vor allem auch die Entwicklung und internationale Verankerung von Standards.
Darüber hinaus haben die Industrie 4.0-Akteure den Verein „Labs Network Industrie 4.0“ gegründet (www.lni40.de), dessen Aufgabenfeld eher praktisch ausgerichtet ist: Er soll neue Industrie 4.0-Lösungen und die darin genutzten Standards testen. Die Ergebnisse fließen wiederum über das Council direkt in die Fortentwicklung von Standards ein. Dabei sollen vor allem auch mittelständische Unternehmen in die Standardisierungsarbeit eingebunden werden.
Referenz für digitalen Wandel
Als Grundlage für die deutsche Roadmap zu Industrie 4.0 dient das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0, kurz RAMI 4.0. Das serviceorientierte Modell soll komplexe Zusammenhänge in kleinere, überschaubare Teilaspekte aufgliedern – zum besseren Verständnis und für mehr Überblick.
RAMI4.0 besteht aus einem dreidimensionalen Koordinatensystem, das alle relevanten Themen abbildet. Das Modell erfasst jeden Produktionsgegenstand über seinen kompletten Lebenszyklus hinweg und bildet ihn IT-seitig einheitlich und durchgängig ab. Als Produktionsgegenstand zählen: reale Dinge, deren digitales Modell, der Zugriff auf Informationen, die notwendigen Daten, die Funktionen und übergeordnet die Organisation mit ihren Geschäftsprozessen. Das entspricht den horizontalen Layern im Modell.
Die linke horizontale Achse jedes Layers beschreibt den Lebenszyklus von Anlagen und Produkten. Grundlage dazu ist die IEC 62890 für das Life-Cycle-Management. In der Abfolge wird zwischen Typ und Instanz unterschieden. Aus einem „Typ“ wird eine „Instanz“, wenn die Entwicklung und Prototypenfertigung abgeschlossen ist und die Fertigung des eigentlichen Produktes beginnt.
Auf der rechten horizontalen Achse sind die Hierarchiestufen der Kommunikationsnetze entsprechend der IEC 62264 angeordnet. Mit dem Bezug auf diese internationale Norm für Integration von Unternehmens-EDV und Leitsystemen wird deutlich, dass auch hier bestehende Standards eingebunden werden sollen. Diese Hierarchiestufen stellen die unterschiedlichen Funktionalitäten innerhalb der Fertigung dar und reichen vom Produkt über Sensoren vor Ort bis hin zur unternehmensweiten und unternehmensübergreifenden Vernetzung. Mittlerweile hat DIN, das Deutsche Institut für Normung, mit der DIN SPEC 91345 auch den offiziellen Standard für das Referenzarchitekturmodell RAMI4.0 veröffentlicht.
Die Vorteile von RAMI 4.0
Zielsetzung ist ein gemeinsames Verständnis für Industrie-4.0-Technologien – für Standards, Normen und praktische Fallstudien. Das Modell gibt eine Orientierung und zeigt Lücken in der Standardisierung auf. Bei Überschneidungen kann ein Vorzugsstandard definiert werden. Gerade auch der mittelständische Maschinenbau wird von RAMI 4.0 profitieren, weil das Modell die Einführung und Umsetzung von herstellerübergreifenden Lösungen eröffnet und fördert. Andererseits hängt der Erfolg von RAMI 4.0 auch davon ab, wie der Mittelstand als Anwender und gleichzeitig Anbieter von Industrie 4.0 das nötige Expertenwissen einbringt.
Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 ist die Basis für weitere Arbeitsschritte. Als nächste Ausbaustufen sieht der ZVEI konkreten Bedarf beispielsweise bei der Identifikation von Dingen. Sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sich Produktionsgegenstände selbstständig in der vernetzten Produktion finden können. Auch der Quality of Services (QoS) rückt beim ZVEI in den Fokus – und damit Dienste wie Zeitsynchronisation, Echtzeitfähigkeit oder auch die Ausfall-sicherheit von Industrie 4.0-Komponenten. Und nicht zuletzt gibt es auch Handlungsbedarf bei der Industrie 4.0-Kommunikation. Hier existieren vielfältige Kommunikationsverbindungen und Protokolle, die zumindest auf ihre Industrie-4.0-Tauglichkeit abgeklopft werden müssen: beispielsweise Ethernet-basierte Feldbusse oder auch OPC-UA, das Protokoll für die Kommunikation zwischen Maschinen.
In den USA treibt das Industrial Internet Consortium (IIC) die Standardisierung voran. Internationale Konzerne wie zum Beispiel General Electric, Cisco und IBM, aber auch asiatische Branchenriesen wie Huawei und Hitachi arbeiten in diesem Rahmen zusammen. Aus Deutschland sind bisher erst Siemens und Bosch dabei. Inwieweit die Initiativen in Konkurrenz stehen, lässt sich noch nicht abschätzen. Das US- Modell „Industrial Internet Reference Architecture“ (IIRA) beschreibt Mindestanforderungen an Software und Maschinen. Die Amerikaner verfolgen aber einen breiteren Ansatz als das deutsche Referenzarchitekturmodell RAMI4.0. Sie binden unter anderem auch das Internet der Dinge ein und integrieren zum Beispiel das Energie- und Gebäude-Management.
Seit März 2016 kooperiert die deutsche Standardization Council Industrie 4.0 mit dem ICC. Die Zusammenarbeit kann bereits auf erste erfolgreiche Projekte verweisen: zum Beispiel auf das Bosch-Werk Homburg im Saarland. Dort steuert eine Software die vorausschauende Produktion von Hydraulikventilen. Dabei funktioniert die Fertigungslinie nach deutschen Standards, das Energiemanagement nach amerikanischen. In Homburg wird die Fertigung so gesteuert und optimiert, dass der besonders teure Spitzenstromverbrauch vermieden wird – unter dem Strich sinken damit die Energiekosten.
Auch Frankreich und Deutschland kooperieren beim Thema Digitalisierung. Der deutschen „Plattform Industrie 4.0“ entspricht die französische „Alliance Industrie du Futur“ (siehe Seite 37). Beide Initiativen arbeiten an gemeinsam Pilot- und Forschungsprojekten und haben sich darauf geeinigt, einen gemeinsamen Rahmen weiterzuentwickeln, der von RAMI 4.0 abgeleitet ist.
Mit China hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie bereits eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Dabei zeigen sich die Differenzen zwischen dem Vorgehen in beiden Ländern. In China definieren staatliche Einrichtungen die Standards und schreiben oft deren Anwendung vor, hierzulande ist das Sache der Unternehmen. Japan indes sieht die Annäherung kritisch. Unter dem Titel „Deutsch-chinesische Allianz könnte Japan schaden“ fasste die Nikkei Asian Review den vorherrschenden Standpunkt zusammen. Aber auch dort soll die japanische „Industrial Value Chain Initiative“ (IVI) Standards für eine Vernetzung von Fabriken definieren und japanische Industriestandards international verbreiten. Die IVI-Mitglieder wollen ein eigenes Kommunikationsprotokoll für die Verbindung von Fabriken und Anlagen entwickeln und ihre Sicherheitstechniken standardisieren. Im Rahmen der Hannover Messe wurde dieses Jahr ein Memorandum of Understanding über eine engere Zusammenarbeit für Industrie 4.0-Standards unterzeichnet.
Pragmatismus entscheidet
Reinhard Clemens, CEO von T-Systems und Partner der Plattform Industrie 4.0: „Das IIC kommt pragmatisch voran, dort wird nicht großartig standardisiert, sondern es werden Quasi-Standards gesetzt. Unsere Gründlichkeit könnte zur Bedrohung werden. Am Ende gewinnt vielleicht nicht der Beste, sondern der Schnellste.“

Sie sind eingeladen
Industrie-4.0-relevante Normen und Standards werden auf verschiedenen technischen Ebenen und von verschiedenen Gremien entwickelt und ausgehandelt. Die „Plattform Industrie 4.0“ versteht sich als Koordinator aller Aktivitäten. Sie will ein konzertiertes Vorgehen der unterschiedlichen Organisationen und Verbänden sicherstellen und bietet sich als Ansprech- und Dialogpartner für alle Interessengruppen an. Sie ist grundsätzlich für alle interessierten und qualifizierten Akteure offen. Die Besetzung erfolgt durch den Lenkungskreis auf Basis nachgewiesener fachlicher Expertise sowie der Bereitschaft, als regionaler Multiplikator zu wirken.

Die Geschichte der Plattform Industrie 4.0
Die Bundesregierung stuft Industrie 4.0 als wichtiges Zukunftsprojekt ein und unterstützt die technologische Entwicklung. Der durch das BMBF eingesetzte Arbeitskreis Industrie 4.0 publizierte im Oktober 2012 die „Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0“. Die Verbände Bitkom, VDMA und ZVEI – sie repräsentieren zusammen über 6000 Mitgliedsunternehmen – schlossen im April 2013 eine Kooperationsvereinbarung für eine thematische Zusammenarbeit über Verbandsgrenzen hinweg. Daraus resultiert die Plattform Industrie 4.0. Ihr offizieller Start wurde auf der Hannover Messe 2013 bekannt gegeben. Im April 2015 kamen weitere Akteure aus Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik hinzu. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Bundesforschungsministerin Prof. Dr. Johanna Wanka leiten die Plattform gemeinsam mit hochrangigen Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften. Bisher hat das Bundesforschungsministerium für die Forschungsagenda Industrie 4.0 Fördermittel in Höhe von über 120 Mio. Euro bewilligt.
Autor: Michael Grupp, Redakteur in Stuttgart

Die Serie rund um Industrie 4.0
Wir begleiten Sie auf dem Weg zur Digitalisierung: In dieser Ausgabe beleuchten wir die Aspekte rund um Normung und Standards. Wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen möchten, finden Sie in unserer Schwesterzeitschrift „Elektro Automation“ ergänzende Informationen.
Unsere Webinar-Empfehlung
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de