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„Industrie 4.0 muss finanzierbar sein“

Vorreiter in Forschungslandschaft
„Industrie 4.0 muss finanzierbar sein“

Die Forschungsgesellschaft Hahn-Schickard hat seit ihrer Gründung im Jahr 1955 mehrere Industriewandel durchlaufen und geprägt. Das aktuelle Steckenpferd ist eine Professur für cyber-physische Systeme. Was es damit auf sich hat, erläutert Prof. Roland Zengerle, Leiter des Instituts am Standort Villingen-Schwenningen. ❧ Nora Nuissl

Groß wie ein Zuckerwürfel, vier Gramm leicht und im Inneren öffnet sich eine Membran in einem Fünftausendstel-Millimeterkleinen Bewegungsraum – das entspricht der Hälfte der Größe von Feinstaubpartikeln. Die Rede ist von einem Mikroventil. Was zunächst vielleicht nur Wissenschaftler verzückt, bekommt eine andere Bedeutung, wenn 28 dieser Ventile ihre Aufgabe 27 Mio. km von der Erde entfernt bestreiten. Die Mikrokomponenten sind nämlich in einem Gas-Chromotographen innerhalb des Minilabors Philae verbaut, das die Weltraumsonde Rosetta im November 2014 auf dem Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko abgesetzt hat. Mit dem Labor wollen Forscher vom Kometen entnommene Gase auf enthaltene organische Moleküle analysieren und prüfen, ob die Zusammensetzung der von Molekülen auf der Erde ähnelt. Die Mikroventile steuern über eine hauchdünne Membran die Gaskomponenten innerhalb des Chromotographen, die dann für weitere Analysen in ihre Bestandteile zerlegt werden.

Der Landung der Sonde auf dem Kometen fieberten am 12. November vor zwei Jahren nicht nur die Ingenieure des Landekontrollzentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln und Darmstadt entgegen, sondern auch ein Entwicklerteam der Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen. Denn die Wissenschaftler haben gemeinsam mit dem Pneumatik-Hersteller Hoerbiger-Origa-Systems die Mikroventile entwickelt.
Süddeutsche Uhren ticken nach Hahn-Schickard-Zeit
Der Einsatz dieser Mikrotechnik im Weltraum ist nur eines von vielen Projekten, das der Forschungs- und Entwicklungsdienstleister Hahn-Schickard in Deutschland umgesetzt hat. Die Institution hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1955 ein hohes Ziel gesetzt: „Den Wandel zu gestalten, für diesen Zweck ist Hahn-Schickard gegründet worden“, erklärt Prof. Roland Zengerle, Institutsleiter am Standort Villingen-Schwenningen. Und diese Trendsuche sowie -gestaltung hat Hahn-Schickard mehrfach erfolgreich gemeistert.
Verwurzelt ist die Forschungsgesellschaft in der Uhrentechnik und Feinmechanik. Damit griff das Stuttgarter Institut den damaligen Trend auf: Die Region des Schwarzwaldes galt in den 50er-Jahren als Domäne der aufstrebenden Uhrenindustrie. Schnell war Hahn-Schickard so renommiert, dass der Süddeutsche Rundfunk seine Uhren nach ihren Zeitsignalen stellte. Doch die Forschungsgesellschaft hat sich nicht auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Als in den 70erJahren die Quarzuhr eingeführt wird, gerät die boomende Uhrenbranche unter Druck. Von Beginn an arbeitet Hahn-Schickard eng mit Industrieunternehmen in der Region zusammen – und identifiziert so rasch das nächste Zugpferd in der Branche: die Mikrosystem- und Mikrotechnik.
Trotz eines anfänglichen Aufschwungs der Mikrotechnik Mitte der 80er-Jahre, gilt es, auch immer wieder Zweifel zu beseitigen. „Als ich bei Hahn-Schickard begonnen habe, stand die Mikrosystemtechnik oft in der Kritik. Es gab immer die Frage: Ist das wirklich so wichtig oder ist das nur ein Hype-Thema?“, erinnert sich der Institutsleiter. Im darauffolgenden Jahrzehnt beweist sich aber, dass das Institut den richtigen Riecher für den Trend hatte: Die Automobilindustrie setzt Mikrosystemkomponenten erstmals in Sensoren ein, um beispielsweise Airbags auszulösen, Schleudern zu vermeiden oder um das Fahrzeug zu navigieren. Darauf folgt der Einsatz in mobilen Endgeräten, Spielekonsolen und Videospielen. 1988 eröffnet Hahn-Schickard einen zweiten Standort in Villingen-Schwenningen, der sich auf die Mikro- und Informationstechnik fokussiert. In den Milleniumsjahren nimmt die Gesellschaft die Sensorik als weiteren Schwerpunkt ins Portfolio auf und eröffnet 2016 ein weiteres Institut für Mikroanalysesysteme in Freiburg.
Das Besondere der Forschungsinstitution begründet sich laut Zengerle in deren Brückenfunktion zwischen der Grundlagenforschung an Universitäten und der Umsetzung in industriellen Anwendungen. „Unternehmen finden es gut, wenn es jemanden gibt, der losgelöst vom Tagesgeschäft bis zu zehn Jahre vorausdenkt und den Firmen aufzeigt, was man alles machen kann“, sagt der Inhaber der Professur für Anwendungsentwicklung am Institut für Mikrosystemtechnik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Und genau diese Anwendungsnähe schätzen die Unternehmen in der Region. Aktuell generiert Hahn-Schickard rund 35 % bis 40 % seines Umsatzes mit Industrieprojekten.
Einen weiteren Erfolgsfaktor sieht Zengerle in der eigenen Belegschaft: „Ein Merkmal von uns ist, dass wir immer wieder junge, neugierige Absolventen und Absolventinnen der Ingenieurwissenschaften von Hochschulen einstellen, die viel Euphorie und Visionen mitbringen. In Kombination mit unseren erfahrenen Mitarbeitern ergibt das eine ideale Basis für die Forschung“, erläutert er.
Heute stehen die Hahn-Schickard-Institute mit dem Trendthema Industrie 4.0 wieder vor einem Umbruch. Dafür sei die Forschungsgesellschaft nach Angaben des promovierten Physikers jedoch gut gerüstet. Hierbei spiele auch die lokale Lage in die Karten: „Die Region Schwarzwald-Baar-Heuberg ist gekennzeichnet durch einen sehr starken Maschinenbau. Wenn eine Produktion optimiert werden soll – mit dem Ziel sich künftig selbst zu organisieren – kann das nur mit Maschinen funktionieren. Daher ist die Branche, in der Industrie 4.0 eine große Rolle spielt, direkt betroffen“, erklärt der Institutsleiter. Demnach gebe es viele Vorreiter, die erste intelligente Anwendungen bieten und zugleich offen für weitere Entwicklungen sind.
Aus dieser Offenheit gingen bereits erste Kooperationsprojekte mit regionalen Unternehmen hervor: Ein Beispiel ist das E-Meter. Mit dem sensorischen cyber-physischen System sollen Ressourcen in bestehenden Produktionsanlagen effizient genutzt werden. Dafür werden an einer Maschine mehrere energieautarke Mini-Funksensoren angebracht, die den elektrischen Energieverbrauch erfassen und so helfen, auftretende Fehler frühzeitig zu erkennen.
„Um das Potenzial von Industrie 4.0 zu schöpfen, muss man keine neue Fabrik bauen“, betont der Institutsleiter. „Wir achten darauf, dass wir durch neue Technologien, die man in bestehende Anlagen integrieren kann, mehr Wert generieren können. So bleibt Industrie 4.0 finanzierbar für Unternehmen.“ Das schätzen diese auch.
In einem weiteren Forschungsprojekt namens Niki 4.0 hat die Institution gemeinsam mit der Hochschule Offenburg und dem Forschungszentrum Informatik FZI am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) einen Werkzeugkasten bestehend aus Software und Sensorik entwickelt, mit dem KMU Industrie 4.0 in der eigenen Produktionshalle ausprobieren können. „Gerade bei der Wartung und Planung bietet die vernetzte Produktion große Potenziale für Prozess- und Kostenoptimierung. Wir erleben aber häufig besonders bei KMU eine vorsichtige Zurückhaltung beim Thema Industrie 4.0, weil hohe Investitions- und Umrüstungskosten befürchtet werden“, erklärt Projektleiter Dr. Christoph Rathfelder von Hahn-Schickard. Im Projekt werden bei der interessierten Firma Sensoren an bestehenden Anlagen installiert, die zusätzliche Daten wie beispielsweise Lufteinwirkungen oder Schwankungen der Umgebungstemperaturen erfassen. Diese Daten sind besonders in umgebungsempfindlichen Produktionsverfahren oder -anlagen, wie dem Spritzgussverfahren, relevant. „Die Fertigungsprozesse werden nicht beeinflusst, da die Sensoren nur über Maschinenzustände informieren und nicht in die Regelung und Steuerung der Anlagen eingreifen“, sagt Rathfelder.
Verkauf von Daten wird in der Zukunft wichtiger als die Hardware
Aktuell plant das Forschungshaus eine Professur für cyber-physische Systeme, um Industrie 4.0 insbesondere für KMU voranzutreiben. „Wir können unsere Hardware, also Sensoren, heute so upgraden, dass sie Industrie-4.0-fähig ist. Morgen verkauft man wahrscheinlich vor allem Daten. Daher war es für uns wichtig, dass wir uns mehr in Richtung Software und Datenanalyse entwickeln“, erklärt Zengerle. Einige Unternehmen in der Region begeisterten sich so für die Idee, dass sie sich für zehn Jahre als Stifter verpflichtet haben. Geforscht werden soll vor allem in den Bereichen „Sichere Datenübertragung“ und „Big Data“. Die Industriepartner erhoffen sich dadurch Pilotprojekte und künftige Anwendungen. Starten wird die Professur voraussichtlich ab Ende nächsten Jahres. Zengerle strebt damit bescheidene Ziele an: „Ich wünsche mir, dass man in zehn Jahren deutlich erkennen kann, was aus dem Thema Industrie 4.0 tatsächlich wurde.“
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