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„Schneller als in Echtzeit“

Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky zu den Herausforderungen der Digitalisierung
„Schneller als in Echtzeit“

Der digitale und der demografische Wandel verändern und befruchten die Arbeitswelt gleichermaßen. Der Trend- und Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky sagt, was auf die Unternehmen zukommt und wie Firmenchefs darauf reagieren sollten. ❧ Das Interview führte Dietmar Kieser

Journalisten beschreiben die Wirklichkeit, Trendforscher die Zukunft. Wie weit reicht Ihr Blick nach vorn, Herr Jánszky?

Wir Zukunftsforscher wählen typischerweise einen Prognosehorizont von zehn Jahren, um den Graubereich weitgehend auszuschließen. Unserer Erfahrung nach trifft eine Zehn-Jahres-Prognose eher zu. Das ist einerseits der Schnelligkeit der Entwicklung geschuldet, andererseits liegt es an der Art, wie wir prognostizieren.
Auf welcher Grundlage arbeitet Ihr Institut 2b Ahead Think Tank in Leipzig?
Wir arbeiten mit abgesicherten, systematischen Befragungsverfahren wie der Delphi-Methode. Dabei identifizieren wir jene Menschen, die durch ihre aktuellen Entscheidungen mehr Einfluss auf die Zukunft haben als andere – also die Strategie- oder Technologieentscheider. Diese CEOs und Innovationschefs der markt- und technologieprägenden Unternehmen befragen wir ausführlich zu ihrem Tun und welche Entwicklungen sie in drei, fünf und zehn Jahren kommen sehen. Aus diesen Hochrechnungen peilen wir dann den Prognosehorizont an. Vieles ist aber auch nur auf fünf Jahre hin abschätzbar.
Was erwartet ein Unternehmen, wenn es Sie beauftragt?
Ihre Erwartungshaltung ist eine andere als vor fünf Jahren. Damals wollten sie von uns klipp und klar wissen, wie sich Kundenwünsche verändern und wie ihre zukünftigen Produkte beschaffen sein sollten. Heute wollen sie wissen, wie sie auf die Digitalisierung reagieren müssen. Wir reden zwar seit 15 Jahren über diesen Trend, aber erst jetzt scheint das Thema anzukommen. Und sie erwarten Hilfe bei der Umstellung ihrer Unternehmenskultur.
Können Sie das konkretisieren?
Oft geht es darum, Führungskräfte oder Mitarbeiter zu befähigen, schneller zu denken und Neues zu adaptieren. Sie sollen die Entwicklungsgeschwindigkeit im Bereich der Technologie aufnehmen und ihre bisherigen Methoden- und Regelkorridore verlassen. Dabei helfen alters- wie auch kulturell und geschlechtlich gemischte Teams. Doch ein Team allein reicht nicht. Seine Mitglieder müssen trainiert und die Routinen in den Köpfen gedreht werden, um eingetretene Pfade verlassen zu können. Das ist die Herausforderung.
Ist das auch das Thema von Rulebreaker, dem neuen deutschen Start-up-Inkubator?
Ja, Rulebreaker sind Prototypen starker Innovatoren. Sie schauen sich bewusst an, welchen Regeln ihre Branche unterliegt – und kehren diese um. Damit brechen sie bewusst, immer aber leidenschaftlich die Grundregeln ihrer Branchen. Keineswegs geht es darum, Gesetze zu brechen, sondern aus dem Bruch eingefahrener Regeln, und damit aus einer starken Veränderung, Positives zu ziehen. Dieses Denken versuchen wir in Unternehmen zu verankern, damit sie mehr Geschäft generieren.
Ist dies nicht eher eine Frage des Talents?
Dies liegt jeweils zur Hälfte in den Genen und in der Sozialisation begründet. Manche Menschen empfinden eine höhere Zufriedenheit, wenn sie sich permanent gewissen Risiken aussetzen. Diese Sensation Seaker machen laut Studien rund 20 Prozent der Bevölkerung aus. Sie tragen dieses Gen in sich, die anderen 80 Prozent nicht. Jenen hilft es aber, wenn sie Denkroutinen durchbrechen. Ein Beispiel: Als ich mich mit Fußballtrainern befasst habe, traf ich auf Thomas Tuchel, den heutigen Trainer von Borussia Dortmund. Sein Credo: Tritt ein neuer Trainer an, muss das alte Spielsystem schleunigst aus den Köpfen der Spieler raus und das neue hinein. So sollte es auch in Unternehmen der Fall sein.
Was ist das Rezept des Trainers Tuchel?
Als Thomas Tuchel damals den Cheftrainerposten bei Mainz 05 antrat, verfolgten seine Außenspieler die Grundregel, an der Seitenlinie entlang nach vorn zu stoßen und reinzuflanken. Diese Longline-Pässe abzuschaffen, hätte selbst ein Verbot nicht vermocht. Was hat er also gemacht? Im Training ließ Tuchel seine Mannen nicht auf einem kompletten Feld spielen, sondern schirmte die Ecken des Spielfeldes ab. Ein Longline-Pass hätte den Ball ins Aus befördert. Jetzt waren sie gezwungen, Diagonalpässe zu spielen. Das heißt, man kann Routinen nicht verändern, wohl aber Regeln und damit das Umfeld. Zugleich muss man es den Menschen ermöglichen, sich selbst neue Routinen anzueignen und diese nicht anzuordnen. Die Unternehmen mit dieser Taktik vertraut zu machen, ist unser Ziel.
Wie viel Kulturwandel in Unternehmen ist dafür nötig?
In den meisten Fällen ist es nicht sinnvoll, sämtliche Regeln im Unternehmen zu verändern. Das wäre gefährlich fürs Geschäft. Hilfreich ist aber das Bild einer Flotte, die aus großen und kleinen Schiffen besteht. Man muss sich in die Lage versetzen, neben seinem großen Schiff, auf dem die Regeln weiterhin gelten, kleine geschützte Räume zu entwickeln. Deren Teams entwickeln eigene Regeln. Typischerweise nennt man das Inkubatoren.
Das bisherige Innovationsmanagement hat also ausgedient?
Gängige Innovationsmanagement-Konzepte schaffen oft nur inkrementelle Innovationen, die Verbesserungen meist nur in kleinen Schritten bewirken. Gegen die Dynamik der Digitalisierung kann diese Strategie nicht mithalten. Mithalten kann man aber mit dem Modell der Flotte: Es streut das Risiko einer Fehlinvestition auf verschiedene kleine Schnellboot, von denen das eine oder andere durchstarten wird.
Fällt dieses Konzept auf fruchtbaren Boden?
Führende deutsche mittelständische Unternehmen, also die Hidden Champions und Weltmarktführer in ihren Nischen, sind sehr daran interessiert, solche Inkubatoren-Modelle aufzubauen. Sie spüren, dass ihre Machtbasis langsam bröckelt, wenn sie sich jetzt nicht bewegen.
Deutsche Politiker und Unternehmer pilgern in Scharen ins Silicon Valley, um sich in puncto Digitalisierung inspirieren zu lassen. Bleibt es beim Pilgern, oder gelingt es uns, eigene Vorbilder zu schaffen?
Daran wird gearbeitet, aber wir stehen ganz am Anfang. Das Silicon Valley ist auf eine andere Geschwindigkeit gepolt. Vom Konzern bis zum kleinen Start-up arbeiten alle nach der Lean-Start-up-Methode mit Innovationszyklen von zwei bis drei Wochen. In wenigen Tagen wird eine Idee identifiziert, ein Prototyp gebaut und programmiert. Nachdem Testkunden die Innovation erprobt haben, durchlaufen ihre Entwickler einen Turbo-Lernprozess. Dann senkt oder hebt sich der Daumen und es geht in die nächste Runde. Diese Geschwindigkeit sehe ich hier nirgendwo.
Viele Mittelständler sehen ihr Geschäft nicht von der digitalen Welle bedroht. Ab wann könnte es eng werden?
Das ist von Branche zu Branche unterschiedlich und meistens preisgetrieben. Am schnellsten wird es die Bau- und Gesundheitsindustrie treffen. Bei gleichbleibender Dynamik bei der Entwicklung 3D-gedruckter Häuser, wird in fünf Jahren ein derartiges Haus viel günstiger sein als ein herkömmlich gebautes. Und die Nahrungsmittelindustrie hat es noch nicht verstanden, dass in der Genetik die Veränderung aktuell noch schneller verläuft als das Mooresche Gesetz…
… wonach sich die Leistung von Prozessoren etwa alle zwei Jahre verdoppelt.
Die Genetiker rechnen damit, dass in drei bis vier Jahren der Preis für die Sequenzierung einer individuellen DNA unter 100 Dollar fallen wird. Damit lässt sich der aktuelle Bakterienmix im Körper eines Menschen kostengünstig berechnen. Dies wiederum wird individualisierte und damit adaptive Nahrung beschleunigen. Traditionelle Branchen wie die Nahrungsmittel- und die Pharmaindustrie, aber auch der Maschinenbau, kennen sich in ihrem eigenen Beritt bestens aus. Was außerhalb passiert und woher die Angriffe drohen, blenden sie aus.
Womit müssen Unternehmen rechnen?
In den nächsten fünf Jahren werden wir hier richtige Angriffe erleben. Für Unternehmen aus dem Maschinenbau wird der 3D-Druck ein großes Thema werden.
Wird auch die zunehmende Vernetzung der Gesellschaft die Unternehmenswelt verändern?
Das Smartphone entwickelt sich im Laufe der nächsten fünf Jahre zu einem intelligenten Assistenten für die meisten Fragen, die sich heute stellen. Mit intelligent meine ich wirklich intelligent. Das Computerprogramm Watson aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz von IBM hat die Quizsendung Jeopardy gegen zwei menschliche Gegner gewonnen. Watson wurde auch für die Krebsdiagnose trainiert. Ärzte halten das Programm für den besten Diagnostiker der Welt. Als der Supercomputer vor vier Jahren die Game Show gewonnen hat, hatte er die Statur zweier amerikanischer Kühlschränke. Heute ist er so groß wie drei Pizzaschachteln, in fünf Jahren wird er auf Handy-Größe schrumpfen und zum Preis eines solchen erhältlich sein.
Das Handy des Jahres 2020 ist schlau wie Watson?
Jeder Käufer wird über diese Rechenleistung standardmäßig verfügen. Er wird sich daran gewöhnen, mit dem Smartphone zu reden, das ihm qualifizierte Antworten im beruflichen wie im privaten Umfeld gibt. Zugleich verändern sich Vertrauensverhältnisse. Während wir heute Menschen vertrauen, weil sie uns die besten Antworten geben, werden wir zukünftig dem Handy vertrauen. Kompetente Antworten zu bekommen, wird vor allem für Firmen wichtig. Sie müssen es schaffen, aufs Handy ihrer Kunden zu gelangen, die ihre Maschinen nutzen. Sind sie auf diesem intelligenten Assistenten nicht präsent, werden Unternehmen für Kunden nicht sichtbar sein.
Keine App, kein Geschäft?
Im Prinzip ja. Allerdings muss die App einen echten Nutzen stiften. Insofern hat die Vernetzung eine riesige Auswirkung. Die zweite große Frage neben der Digitalisierung ist die Demografie. In den nächsten zehn Jahren wird die Verrentung vieler aus der Generation der Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt eine Lücke von 6,5 Millionen Fachkräften reißen. Wir sehen einer Situation entgegen, in der die besten Mitarbeiter alle zwei Wochen Anrufe von Headhuntern erhalten.
Worauf läuft das hinaus?
Schätzungsweise 40 Prozent der Facharbeiter werden ihrer Firma treu bleiben, weil sie sich regional nicht verändern wollen. Wiederum rund 40 Prozent werden permanent zwischen einzelnen Unternehmen hin und her wechseln. Nach Ende eines Projektes sind sie wieder weg. Die Strategie gerade von Maschinenbauunternehmen muss sein, diese permanent wechselnden Projektarbeiter anzuziehen.
Wie und worüber?
Über intelligente berufliche Netzwerke – die intelligent gewordenen Linked-ins oder Xings, aber auch über das ganz persönliche Netzwerk der Führungskräfte. Nicht das der HR-Abteilung, sondern von Team- oder Abteilungsleitern. Wer keine Kompetenz im Netzwerken auf diesen Plattformen hat, kommt an diese 40 Prozent nicht heran. Er wird Produktionseinbußen haben, weil er keine Leute findet. Die Projektarbeiter ihrerseits werden bis zu 20 verschiedene Arbeitgeber haben. Unternehmen werden viel Geld in die Hand nehmen müssen, um diese Leute an sich zu binden.
Was war für Sie das spannendste Thema in den letzten Jahren?
Wie sich die Arbeitswelt in Deutschland genau an dieser Stelle verändern wird. Im Kontext der Fachkräfteverknappung wird auch das sogenannte Predictive Enterprise ein wichtiger Zukunftsaspekt: softwaregesteuert durch ein Betriebssystem, das Prognosen aus Daten erstellt und auf dieser Basis selbstständig das Unternehmen führt. Aufgrund von Wahrscheinlichkeiten werden Produkte oder Dienstleistungen definiert, die morgen oder übermorgen nachgefragt werden. Beispielsweise erkennt die Software, dass in zehn Stunden am Flughafen ein Mitarbeiter mit einer bestimmten Kompetenz benötigt wird. Sinn der Sache ist, schneller als in Echtzeit zu sein und jetzt schon zu wissen, was in den nächsten fünf Stunden oder Tagen passieren wird.
Siehe Buchtipp auf Seite 72

Sven Gábor Jánszky
Er versammelt jährlich 250 Innovations-chefs zu einem Zukunftsworkshop, entwirft mit ihnen Businessszenarien und gibt diese als Trendstudien heraus: Sven Gábor Jánszky (42), Leiter der 2b Ahead Think Tank GmbH in Leipzig, hat viele Hüte auf. Der Zukunftsforscher ist Buchautor – aktuelles Werk: „2025 – So arbeiten wir in der Zukunft“ –, verfasst Trendanalysen, berät und coacht Manager und Unternehmen und ist Aufsichtsrat der Karlshochschule International University in Karlsruhe.
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