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Folterkammer für Autositze

Prüftechnik: Der stählerne Kollege kennt kein Erbarmen
Folterkammer für Autositze

In der Klimakammer bei Volvo geht es zur Sache: In nur zehn Wochen fügt ein Kuka-Roboter fünf Autositzen soviel Leid zu wie eine fünfköpfige Familie in einem ganzen Autoleben.

Autositze müssen viel aushalten. Nicht nur das Gewicht des Fahrers. Auch seine Bewegungen, wenn er ungeduldig an der Ampel steht oder seinen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche kramt. Das geschieht unzählige Male im Leben eines Autositzes. Hinzu kommt, dass Autos überall auf der Welt gefahren werden. Einige parken unter der Sonne Arizonas, andere in der sibirischen Kühlkammer.

Welches Material hält das aus? Um das herauszufinden, müssen die Autobauer die Sitze ausgedehnten Belastungstests unterziehen – und das bei allen erdenklichen Temperaturen. Auf eine Stellenausschreibung als Autositz-Tester würde sich wohl kaum jemand bewerben. Ein heißer Kandidat für diesen Job ist der Kuka-Roboter KR 210-2. Bei Volvo in Schweden hat er bereits seine erste Stelle angetreten.
Der schwedische Autobauer will nicht nur umweltfreundliche und sichere Autos bauen, sondern legt auch Wert auf Komfort und Qualität. Deshalb hat sich Volvo ein umfangreiches Know-how auf dem Gebiet der Sitzherstellung erarbeitet. Schon lange Zeit werden die Autositze bei Volvo auf Belastbarkeit getestet. Der hohe Qualitätsanspruch hat den Autobauer dazu bewogen, in eine moderne Anlage zu investieren. Darin werden Autositze extremen Klimabedingungen ausgesetzt und die Bewegungen der Autoinsassen authentisch simuliert. Tag und Nacht ahmt dort ein Roboter von Kuka in einer Klimakammer den Menschen beim Autofahren nach und prüft so, was die Sitze aushalten. Zum Schutz ist der stählerne Kollege mit einer speziellen Schutzkleidung umhüllt.
Früher wurden bei Volvo die Autositze mit einem pneumatischen Sitztester geprüft. Dieser konnte die Sitze aber nur zweidimensional belasten. Er übte lediglich horizontale oder vertikale Bewegungen aus. Reibende und rotierende Bewegungen, wie sie beim Autofahren permanent passieren, ließen sich nicht durchführen. Zudem war der alte Sitztester nicht für extreme Temperaturen geschaffen.
„Es gab mehrere Gründe, die für eine neue Testanlage sprachen“, erklärt Eva Richardson, Projektmanagerin bei Volvo. Beispielsweise die Kapazität der neuen Anlage, die bei Investitionsentscheidungen ein wichtiger Faktor ist. „Mit unserem alten Sitztester konnten wir in vier Wochen nur einen Sitz testen und hatten dann nicht einmal zufrieden stellende Ergebnisse“, erzählt Richardson. „Der Roboter hingegen prüft fünf Sitze gleichzeitig in zehn Wochen.“
Die Idee zu dieser Anlage entstand auf einer Messe in Stockholm. Dort sahen Ingenieure von Volvo einen Kuka-Roboter, der kontrollierte, ob die Heizungen in Autositzen den mechanischen Beanspruchungen widerstehen, die während eines Autolebens auftreten. „Wir hatten die Idee, so einen Sitztester auch bei uns zu installieren und fingen an, ein Pflichtenheft zu entwickeln“, erinnert sich Thomas Fjellman, Testingenieur bei Volvo. „Darin sammelten wir alle Anforderungen, die wir an eine solche Anlage hatten.“
Der Roboter arbeitet Tag und Nacht bei schwankenden Temperaturen. Einzig zur Überprüfung der Sitze wird das Programm unterbrochen. Um den Roboter herum sind in der Klimakammer fünf Sitze aufgebaut. Nacheinander führt der Roboter die vorprogrammierten Sitzbewegungen aus. Dafür ist er mit einer speziellen Vorrichtung an der Hand ausgestattet. Dabei handelt es sich um ein Polster, das der menschlichen Körperform nachgebildet ist und als Dummy bezeichnet wird. Den Dummy drückt der Roboter in die Sitze, hebt hin wieder an, simuliert die Bewegung beim Ein- und Aussteigen und reibt und drückt ihn hin und her.
Mit Kraftmoment-Sensoren ist der Roboter in der Lage, menschliche Bewegungen zu reproduzieren und misst die dafür aufgebrachte Kraft. Er ist flexibel programmierbar und verfügt über eine hohe Wiederholgenauigkeit. Der Maschine fährt bei allen Sitzen ein Standardprogramm ab. Wird aber während einer Versuchsreihe ein Sitz hinzugenommen, dann merkt sich der Roboter den Neuling und weiß genau, welche Test-Zyklen dieser Sitz braucht.
Das System kann in sechs Dimensionen messen und bietet eine hohe Genauigkeit. Der Anwender erhält genaue Daten über die Kräfte, die genau an der Fläche auftreten, wo der Dummy den Sitz berührt hat. Die statischen Kräfte des Dummys selbst lassen sich kompensieren, damit daraus keine zusätzlichen dynamischen Kräfte entstehen. Außerdem werden die Bewegungen des Roboters in Bezug auf den Verschleiß des Testobjekts regelmäßig angeglichen. Bei der Anpassung des Gesamtsystems an einen neuen Sitz ist es lediglich erforderlich, das Basis-Koordinatensystem neu zu definieren. Selbst die Reibung zwischen Dummy und Sitz wird erfasst. Sobald ein einstellbarer Grenzwert erreicht ist, entlastet der Dummy den Sitz – so wie beim realen Sitzverhalten.
Roboter und Klimakammer werden von außen gesteuert. Ein Problem war, den Roboter und die Klimaanlage aufeinander abzustimmen. Damit dem Roboter die extremen Temperaturschwankungen und die teilweise hohe Luftfeuchtigkeit nichts anhaben können, ist er in einen speziellen Stoff gekleidet, der aus drei Lagen besteht und von außen extra beschichtet wurde – ähnlich der Kleidung eines Astronauten. Unter dem Stoff wird die Temperatur für den Roboter permanent auf 20 °C gehalten. Dazu wird an drei Stellen kühle Luft unter die Hülle geblasen. Der Roboter besitzt somit seine eigene Klima- Einheit.
Bei der Konstruktion der Anlage wurden einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen. So gibt es einen Notaus-Schalter in Bodennähe, damit die Anlage auch von einem Menschen gedrückt werden kann, der am Boden liegt. „Auf den ersten Blick wirkt das vielleicht seltsam“, erklärt Eva Richardson. „Aber wenn die Kammer niedrige Temperaturen fährt, bilden sich Frostablagerungen am Boden, auf denen man ausrutschen kann.“ Die Anlage soll auch von jemandem abgeschaltet werden könne, der nicht mehr in der Lage ist, aufzustehen.
Aber so weit soll es erst gar nicht kommen, denn die Anlage kann nur von außen gestartet werden. Und sie stoppt, sobald jemand die Türe öffnet. Ein Mensch, der sich innerhalb der Klimakammer befindet, kann diese also nicht starten. Außerdem wird Alarm ausgelöst, wenn Gas austritt oder eine der Sitzheizungen ausfällt. Thomas Fjellmann schätzt die Betreuung durch Kuka: „Kuka hat Kompetenzen auf diesem Gebiet mitgebracht. Andere Hersteller konnten uns keine vergleichbare Lösung anbieten.“
Katrin Stuber Mitarbeiterin bei der Kuka Roboter GmbH in Augsburg-Lechhausen

Der Anwender
Die Volvo Cars Corporation beschäftigt weltweit rund 27 300 Mitarbeiter, von denen knapp 20 000 ihren Arbeitsplatz in Schweden haben. Seinen Hauptsitz hat das Unternehmen in Göteborg. Dort sind Hauptverwaltung, Produktentwicklung und das Marketing unter einem Dach vereint. Die Produktionsstätten befinden sich neben Göteborg noch im belgischen Gent und in Uddvalla in Schweden.

Kosteneffizienz
Wie soll man Autositze testen? Ganz so einfach wie mit der Schublade bei Ikea ist das nicht. Die wird nur ständig auf- und zugeschoben. Bei Autositzen ist das komplexer. Man denke nur an die Belastung beim Ein- und Aussteigen. Was ein herkömmlicher Sitztester bei Volvo in fünf Monaten abgearbeitet hat, schafft der Kuka-Roboter jetzt in der Hälfte der Zeit. Und die Testergebnisse sind ungleich differenzierter und genauer.
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