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Ein Roboter packt aus

Schwäbische Tüftler schließen 30 Jahre alte Automatisierungslücke
Ein Roboter packt aus

Automatisierung | Was der Verpackungsbranche seit Mitte der 80er-Jahre nicht gelungen ist, schaffte ein kleines Unternehmen am Rand der schwäbischen Alb. Der Sondermaschinenbauer Goldfuß entwickelte ein System, das Kartonierer automatisch mit Faltschachteln versorgt. §

Autor: Uwe Böttger

Das Video von Goldfuß Engineering auf Youtube dauert rund anderthalb Minuten. In der kurzen Zeit greift sich ein Dualarm-Roboter von Yaskawa per Saugeinheit einen verschlossenen Karton von der Palette und positioniert ihn in der Bearbeitungsstation. Schneidevorrichtungen unter dem Karton und am Roboter durchtrennen die Klebestellen. Vier Sauger erfassen die Deckelemente und halten sie offen. Die beiden Roboterarme greifen in den Karton, entnehmen einen Stapel Faltschachteln und führen sie einer Verpackungsmaschine zu. Der Vorgang wiederholt sich einmal. Am Ende wird der Karton sauber zusammengefaltet und entsorgt. Fertig.

Das Ganze ist auch irgendwie amüsant – zum Beispiel wenn der Roboter mit einem Arm eine Zwischenlage hinter sich wirft. Aber vor allem erscheinen die Bewegungen und Abläufe naheliegend und einfach, genial einfach. Das ist wohl auch der Grund, warum es der Verpackungsbranche in so vielen Jahren nicht gelungen ist, den Vorgang zu automatisieren. Geniale Lösungen sind eben nicht alltäglich. Thomas Goldfuß kann das lange Versäumnis der Verpackungshersteller nicht persönlich bestätigen. Dafür ist der Geschäftsführer der Goldfuß Engineering GmbH mit Sitz in Balingen zu jung und noch nicht lang genug in der Verpackungstechnik unterwegs. Aber ein wahrer Kenner der Szene, der den Markt seit Jahrzehnten beobachtet, hat in seiner Firma angerufen. „Der hat uns das so erzählt“, versichert Goldfuß. In der langen Zeitspanne sei lediglich eine teure Anlage entstanden, die nur Spezialkartons verarbeiten konnte. Und die waren ebenfalls sehr kostspielig. „Irgendwann wurde das Projekt nicht weiter verfolgt“, so Goldfuß.
Den Anstoß für ihre Entwicklung bekamen die Schwaben vom Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, die eine automatische Beschickungsanlage für ihre Verpackungsmaschinen am Standort Biberach brauchten. Die Aufgabenstellung war eine echte Herausforderung. Erstens musste die Anlage flexibel sein und mit den vielen unterschiedlichen Faltschachteln ohne lange Umrüstzeiten zurechtkommen. Zweitens erwartet der Kunde, dass das Material schonend transportiert wird. Eindrücke oder gar Kratzer auf den Medikamenten-Päckchen sind nicht akzeptabel. „Noch empfindlicher sind die Firmen aus der Food- und Kosmetikindustrie“, weiß Goldfuß. „Hier übernimmt die Verpackung teilweise die Aufgaben eines Verkäufers, denn der Kunde trifft viele Entscheidungen vor dem Regal.“ Man stelle sich vor: Ein Anti-Aging-Creme in einer beschädigten Verpackung. Das geht gar nicht.
Also machten sich Spezialisten aus Balingen ans Werk. Der Kern der Anlage ist ein Dualarm-Roboter, mit dem sich die geforderte Flexibilität erreichen lässt. „Mit zwei Armen bekommen wir nicht nur verschiedene Faltschachtel-Typen, sondern auch unterschiedlich große Stapel in den Griff“, erklärt Goldfuß den Vorteil der beiden Arme. Ein normaler Roboter mit einem Arm würde die Stapel mit einem Greifer aufnehmen. Bei einem Produktwechsel müsste auch der Greifer ausgetauscht werden und die Flexibilität wäre dahin.
„Der Clou an unserer Lösung ist aber nicht unbedingt der Roboter, sondern die Schwenkeinheit, die ihm gegenüber steht und den Karton mit den Faltschachteln hält“, macht es Thomas Goldfuß spannend. Bevor der Roboter mit seinen beiden Armen zugreift, dreht sich die Schwenkeinheit um 40 Grad nach rechts. Der Stapel im geöffneten Karton folgt der Schwerkraft und rutscht ebenfalls nach rechts. So entsteht am linken Ende zwischen Stapel und Kartonwand eine Lücke, in die der erste Roboterarm mit seinem schaufelähnlichen Greifer hineinfahren kann. Jetzt dreht sich die Einheit um 40 Grad zur anderen Seite und es bildet sich auf die gleiche Weise ein zweiter Spalt für den zweiten Arm. Mit diesem Verfahren bekommt der Roboter den Stapel sanft in den Griff, ohne auch nur eine Spur an den Faltschachteln zu hinterlassen.
„Im Film sieht das alles ganz logisch aus“, stellt Thomas Goldfuß fest. „Aber es ist eben wie mit allen einfachen Lösungen: Man muss erst einmal drauf kommen.“ Da hat er Recht. Ein Mensch würde sich bei dieser Aufgabe vorsichtig mit den Fingern zwischen Kartonage und Stapel „hineinpuhlen“ und so einen Spalt schaffen. Mit einem Roboter kann man die Sache so nicht angehen. Dafür fehlen der Maschine Fingerspitzengefühl und Erfahrung. Da helfen auch keine Sensoren. Die Schwenkeinheit schafft die erforderlichen Lücken mit Hilfe der Schwerkraft.
Hat der Roboter den ersten Stapel einer Charge im Griff, läuft im Hintergrund ein Analyseprogramm ab. Das Ziel ist, den Stapel mit so wenig Kraft wie möglich aus dem Karton zu holen und auf die Verpackungsmaschine zu legen. Gleichzeitig sucht die Software den optimalen Winkel zwischen den Schaufeln der Greifer und dem Faltschachtel-Stapel. Der Roboter beginnt zum Beispiel mit einem Winkel von 5 Grad und einer kleinen Kraft. Ein Sensor beobachtet, ob der Stapel mit diesen Einstellungen sicher mitgenommen werden kann. Falls nicht, wird der Winkel minimal verändert und die Kraft leicht erhöht. Das wiederholt sich so lange, bis das Handling funktioniert. Die ermittelten Einstellungen werden für den Rest der Charge beibehalten.
So wenig Kraft wie möglich – aber so viel wie nötig, um das Produkt sicher transportieren zu können. Dieses Prinzip ließ sich fast immer einhalten. Aber eben nur fast. Hin und wieder waren Faltschachteln dabei, bei denen die Technik versagte. „Die notwendige Greifkraft wurde größer als erlaubt und hinterließ Spuren oder Beschädigungen auf dem Produkt“, umschreibt Thomas Goldfuß das Problem. „Manche Chargen waren einfach anders, selbst mit den Händen bekam man die Schachteln ganz schlecht aus dem Karton.“ Und wenn sich der Mensch schwer tut, dann hat der Roboter erst recht Probleme – trotz aller Sensoren und Software. Zusammen mit dem Hersteller gingen die Schwaben der Sache auf den Grund, konnten das Problem eingrenzen und fanden schließlich eine Lösung. Heraus kam eine Spezifikation, die bei der Fertigung der Faltschachteln in Zukunft beachtet werden muss. „Für den Hersteller ist diese Liste kein Mehraufwand“, versichert Goldfuß. „Aber unser Roboter kommt seither mit jeder Charge zurecht.“ (weitere Infos dazu im Interview).
Im Jahr 2013 wurde die Lösung mit Dualarm-Roboter und Schwenkeinheit entwickelt und auf den heutigen Stand gebracht. Im letzten Jahr war Thomas Goldfuß damit beschäftigt, das System bei den Herstellern von Verpackungsmaschinen bekannt zu machen. Davon gibt es einige in Deutschland, Thomas Goldfuß war bei allen. „Unsere Anlage hat ja nur zusammen mit einer Verpackungsmaschine einen Nutzen“, stellt er fest. Deswegen sucht der Geschäftsführer die Zusammenarbeit mit den großen Herstellern. Einige sind interessiert und haben bereits die Daten zu ihren Anlagen geschickt. „Wir konstruieren dann unser System dazu und erstellen ein komplettes Layout, wie das Ganze am Ende aussehen könnte“, so Goldfuß.
In diesem Jahr sind die Endkunden dran. Firmen aus dem Pharma-, Food- und Kosmetikbereich, die eine Verpackungsmaschine im Einsatz haben. „Im Moment bin ich missionarisch unterwegs und erkläre den Leuten unser System“, sagt Thomas Goldfuß. „Da muss ich schon persönlich hinfahren. Es reicht nicht aus, einen Flyer zu verschicken – der kommt nie an.“ Jedenfalls nicht bei den Leuten, die für Goldfuß wichtig sind, für die er seinen Roboter mit Schwenksystem gebaut hat.
Thomas Goldfuß ist zuversichtlich, dass über kurz oder lang die Sache ins Rollen kommt. Ein erster Erfolg hat sich bereits im November 2014 angekündigt. Der Laupheimer Maschinenbauer Uhlmann, ein Spezialist für pharmazeutische Verpackungsanlagen, soll ein System in Peking installieren. Zum Lieferumfang gehört die Beschickungslösung aus Balingen. „Die China-Sache wird sich herumsprechen“, ist sich Thomas Goldfuß sicher. „Entwickler, die große Verpackungslinien planen, kriegen das mit. Für uns kann das nur gut sein.“ •

„Unsere Lösung gibt es kein zweites Mal“

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Herr Goldfuß, ein Roboter holt Faltschachteln aus einem Karton und legt sie auf eine Verpackungsmaschine. Ist der Prozess so einfach wie er sich anhört?
Sicher nicht. Wenn der Roboter zum Beispiel mit einem Arm bereits im Karton steckt, dreht sich die Schwenkeinheit. Da muss der Roboter exakt mitgehen. Für uns war das eine steuerungstechnische Herausforderung, die wir erst einmal bewältigen mussten.
Was ist das Besondere an der Anlage?
Der Clou ist nicht unbedingt der Roboter, sondern die Schwenkeinheit, mit der wir einen Spalt im Karton schaffen. In den kann der Roboter hineinfahren, ohne Spuren auf den Faltschachteln zu hinterlassen.
Gab es Probleme bei der Entwicklung?
Faltschachteln bestehen aus Papier. Und bei einem Naturstoff können immer Toleranzen und Probleme auftauchen. Wir bekamen Chargen von Faltschachteln, die ließen sich mit dem Roboter prima handhaben. Dann gab es wiederum Lieferungen, da ging gar nichts. Wir standen vor einem Rätsel.
Haben Sie das Rätsel gelöst?
Es war viel Entwicklungsarbeit nötig, bis wir das in den Griff bekamen. Die Lösung beginnt beim Faltschachtel-Hersteller. Der muss die Produkte nach einer Spezifikation von uns produzieren. Er muss nichts Besonderes machen, einfach nur bestimmte Dinge einhalten, damit unser System funktioniert.
Welche Dinge muss der Hersteller einhalten?
Das ist unser internes Know-how. Aber eines kann ich sagen: Für den Hersteller ist es gar kein großer Aufwand, er muss nur dran denken. Unsere Spezifikation ist gerade mal fünf Seiten lang. Viel aufwendiger war es, das Problem einzugrenzen. Dazu haben wir uns mit den Herstellern zusammengesetzt und gefragt. Wie macht ihr das eigentlich? Warum gibt es unterschiedliche Lieferungen?
Ab wann rechnet sich Ihr System?
Die Anlage lohnt sich, sobald mehr als 200 Schachteln pro Minute in der Verpackungslinie verarbeitet werden. Je mehr das sind, desto interessanter wird unsere Lösung für den Nutzer. Wir gehen davon aus, dass sich unser System spätestens nach drei Jahren amortisiert hat.
Haben Sie mit Ihrer Lösung etwas völlig Neues in der Verpackungsbranche geschaffen oder gibt es vergleichbare Lösungen?
Es gibt andere Lösungen, aber die brauchen immer einen speziellen Karton. Unsere Lösung funktioniert mit einer Standard-Verpackung. Das gibt es meines Wissens so kein zweites Mal. Ich habe jedenfalls noch nichts Vergleichbares gesehen. •
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