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„DIE OBERFLÄCHE hat Hebelwirkung“

Dr. Martin Metzner vom Fraunhofer IPA betont den mächtigen Einfluss der Oberflächentechnik
„DIE OBERFLÄCHE hat Hebelwirkung“

Oberflächentechnik | Der Preis „DIE OBERFLÄCHE“ ist in mehrerlei Hinsicht etwas Besonderes: Ausgelobt von Wissenschaftlern widmet er sich der Praxis und ist disziplinoffen. Welches Signal er setzt, erklärt Dr. Martin Metzner, Abteilungsleiter Galvanotechnik am Fraunhofer IPA. §

Autor: Olaf Stauß

Herr Dr. Metzner, Sie loben den Preis „DIE OBERFLÄCHE“ nun zum dritten Mal aus, zusammen mit der Messe O&S, dem Industrieanzeiger und dem Fachmagazin WOMag. Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen?

Wir sind positiv überrascht. Denn wir haben wieder – wie beim ersten und zweiten Mal – über 20 Bewerbungen. Am Anfang hat uns das nicht verwundert, weil wir ja alle oberflächentechnischen Disziplinen ansprechen. Aber dass die Zahl der Einreichungen im dritten Jahr wieder so hoch ist, war nicht zu erwarten. Denn es kann ja nur das an Innovationen auflaufen, was innerhalb von zwölf Monaten erarbeitet worden ist.
Was ist das Besondere an diesem Preis?
Er ist der einzige disziplinoffene Preis in der Oberflächentechnik – sonst gibt es nur spezielle Ausschreibungen wie einen Galvano-, Lack- oder einen PVP/CVD-Preis et cetera. „DIE OBERFLÄCHE“ richtet sich also an alle Disziplinen auf allen Ebenen und in allen Tiefen – der Innovationspreis schließt die Forschung ebenso ein wie die industrielle Produktion oder die Anlagentechnik.
Wie ist die Qualität der Vorschläge?
Wie in den letzten Jahren kann ich auch dieses Jahr sagen: Rund drei Viertel der eingereichten Innovationen sind sehr hochwertig. Das macht die Auswahl für uns in der Jury nicht gerade einfach.
Was ist denn das Hauptkriterium dafür, positiv bewertet und nominiert zu werden?
Ganz wichtig ist uns die industrielle Umsetzbarkeit einer Innovation. Und zwar in dem Sinne, dass die oberflächentechnische Neuerung als Hebel wirkt, um Verbesserungen zu erzielen. Fortschritte allein in der Grundlagenforschung sind für den Preis nicht relevant. Natürlich stellt sich hier die Frage, wie wir ‚Innovation‘ definieren. Wir verstehen darunter eine deutliche Verbesserung in einer Produkteigenschaft oder der Effizienz eines Produktes oder seiner Fertigung – sei es beim Material oder im Energieverbrauch. Das sind unsere Hauptkriterien.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Klar, letztes Jahr ging der erste Preis an die J. Wagner GmbH aus Markdorf, die einen Durchbruch bei der elektrostatischen Pulverbeschichtung von MDF-Standardplatten erzielt hat, so etwas wie Pressspanplatten. Dieses Verfahren ist nun eine prozesssichere Alternative zum Nasslackieren und erheblich energieeffizienter. Wagner konnte vorrechnen, dass sich beim Ausschöpfen des Marktpotenzials eine CO2-Menge einsparen lässt, die tausenden von Transatlantikflügen mit einer Boeing 747 entspricht.
Daran sehen Sie, dass auch kleine und mittelständische Unternehmen, von denen eine Vielzahl unserer Einreichungen stammt, beträchtliche Innovationen und Hebelwirkungen generieren können.
Es geht Ihnen also um den „Hebel“, der sich generieren lässt?
Ja. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Effizienz, sondern ebenso bezogen auf Produkteigenschaften wie beispielsweise Verschleißbeständigkeit oder auf Verbesserungen in der Produktion.
Was war der Anlass, „DIE OBERFLÄCHE“ ins Leben zu rufen?
Bei uns in der Branche gibt es viele Hidden Champions. Und mit der Oberflächentechnik lassen sich wirklich starke Hebel erzeugen – und zwar für viele Industriezweige. Leider jedoch gehen die vielen Innovationen, die häufig von kleinen und mittleren Unternehmen auf den Weg gebracht werden, in der Fachöffentlichkeit etwas unter. Diese stärker zu würdigen und zu highlighten war ein Motiv für den Preis. Und auch, hier am Industriestandort Stuttgart einen Pflock für die Oberflächentechnik einzuschlagen.
Wird die Oberflächentechnik oft verkannt in ihrem Einfluss?
Ja, sicherlich. Ihre tatsächliche Bedeutung wird schon daran klar, dass nahezu alle technischen Produkte über Oberflächen interagieren. Den Stellenwert der Disziplin zeigen auch die vielen zig Milliarden Euro an volkswirtschaftlichen Schäden, die durch Korrosion entstehen: Ein Auto, das nicht wegrostet, muss nicht verschrottet werden. Hier geht es um Oberflächentechnik. Ebenso wie bei der Effizienz eines Antriebsstranges. Hier ist Reibung das Thema. Oder bei Windkraftanlagen: Die Lebensdauer der Rotoren hängt davon ab, wie gut sie bei 300 Stundenkilometern Umfangsgeschwindigkeit mit auftreffenden Wassertröpfchen fertig werden.
Wie könnten die Möglichkeiten der Oberflächentechnik besser genutzt werden?
Traditionell ist es ja so, dass sich der Konstrukteur erst am Ende eines Entwicklungsprozesses um die Oberfläche eines Produktes kümmert und sich mehr oder weniger abschließend für eine passende Beschichtung entscheidet. Bezieht man die Chancen durch Oberflächentechnik aber viel früher in die Produktentstehung mit ein, kann man das in ihr schlummernde Potenzial noch viel stärker wecken.
Haben Sie auch hierfür ein Beispiel?
Schauen wir doch wieder auf unseren letztjährigen Preis, Platz drei: Automobilbauer Daimler ist es mit einer innovativen Innenwandbeschichtung der Kurbelgehäuse seines V6-Otto-Motors gelungen, gegenüber dem bisherigen Benchmark weitere zwei Prozent CO2 und 2,4 Kilogramm Gewicht einzusparen – also durch Reibungsminimierung. Oder ein Beispiel aus der Produktion: Bei der Neuplanung einer galvanotechnischen Anlage für einen Kunden konnten wir die Energieeffizienz des Beschichtungsprozesses verdreifachen. Das zeigt, wieviel Potenzial in der Oberflächentechnik steckt.
Was können Firmen tun, um dieses Potenzial besser zu nutzen?
Zunächst einmal brauchen sie entsprechendes Personal dafür und das ist nicht einfach, weil die Oberflächentechnik an den Hochschulen stiefmütterlich behandelt wird. So hat die TU Ilmenau mit ihrem singulären Studiengang Elektrochemie und Galvanotechnik ein absolutes Alleinstellungsmerkmal in Deutschland.
Andererseits werden die Anforderungen an die Oberflächentechnik immer spezieller. Von daher müsste man den Firmen zu der Überlegung raten, sich die Oberflächentechnik direkt ins Haus zu holen. Inzwischen wird wieder sehr viel über Insourcing nachgedacht, um Know-how zu sichern und die Lieferketten kompakter zu machen.
Was bietet das Fraunhofer IPA in der Oberflächentechnik?
Wir fokussieren uns am IPA – und das P steht für Produktion – auf die Lackiertechnik bei meinem Kollegen Michael Hilt und seiner Abteilung und auf die Galvanotechnik bei mir, sowie darüber hinaus auch noch auf den Bereich funktionale Materialien. Aber der Schwerpunkt der Oberflächentechnik liegt ganz klar bei diesen beiden ‚althergebrachten‘ Technologien. Das sind gerade die Themen, die 75 Prozent des Umsatzes in der Oberflächentechnik bestreiten.
Warum haben die Lackiertechnik und die Galvanotechnik ein solches Gewicht?
Beide Technologien arbeiten unter Verzicht auf hohe Temperaturen und unter Normaldruck, also ohne Vakuum. Das bedeutet, dass sie hoch effizient und hoch wirtschaftlich sind – und das ist der Grund, warum wir ihnen am IPA so viel Platz einräumen.
In welche Richtungen geht Ihre Arbeit in der Galvanotechnik?
Unser Tätigkeitsfeld ist einerseits das Generieren von Schichtwerkstoffen und der zugehörigen Verfahren zur Abscheidung (im galvanischen Bereich sind das die Elektrolyte und Verfahren) und andererseits die Anlagenplanung und -konzipierung. Daraus leitet sich als drittes Aufgabenfeld die Schadensanalyse in Produktion und Feld ab, um Produktionsprobleme beurteilen und Anlagen optimieren zu können.
Schließt dies auch Grundlagenforschung ein, etwa um spezielle Verfahrensentwicklungen voran zu treiben?
Teilweise ja. Wo es strategisch für uns sinnvoll ist, engagieren wir uns auch in Grundlagenprojekten, die typischerweise DFG-finanziert sind. Wo Grundlagen gänzlich fehlen, was in der Galvanotechnik stellenweise vorkommt, beschäftigen wir uns auch damit, um die gewonnenen Erkenntnisse im Sinne des Fraunhofer-Ansatzes in die Industrie transferieren zu können.
Was sind derzeit die großen Innovationslinien in der Oberflächentechnik?
Wie schon angesprochen: In der Produktion ist dies die Effizienz in Bezug auf Energie- und Materialeinsatz. Die Galvanotechnik kann hier sehr viel leisten mit endmaßgenauen Beschichtungen und Ähnlichem. Auch das Maßschneidern von Beschichtungsstoffen ist ein starker Trend. Unsere Hauptauftraggeber im Bereich Verfahrensentwicklungen arbeiten mit Inhouse-Galvaniken, die Schichtwerkstoffe für teilweise exotische Eigenschaftsfenster benötigen. Das reicht von extrem verschleißbeständig unter speziellen Bedingungen bis hin zu eigenspannungsarm – es gibt alle möglichen Varianten.
Einmal ganz persönlich: Im Studium haben Sie Feuer gefangen für die Galvanotechnik und bis heute nicht mehr davon gelassen. Was reizt Sie so sehr daran?
Mit der Galvanik können Sie zum Beispiel endmaßgenau beschichten und das ohne jegliche Materialverluste. Alles was an Metall eingekauft wird, kommt auch drauf – beispielsweise bei manchen Hartchromgalvaniken.
Und von den Tools her haben Sie in der Galvanotechnik eine riesige Beeinflussungsmatrix, die das Fenster der erzielbaren Eigenschaften extrem weit öffnet, aber auch ein sehr komplexes Wissen erfordert, um diese Prozesse in der Produktion zu führen. Das ist mein persönlicher Reiz an der Galvanotechnik. Und der Grund, warum wir unsere inzwischen 22 Mitarbeiter starke Abteilung so breit aufgestellt haben: Von der Anlage über die Schichtwerkstoffe und die Elektrolyte bis hin zu den Gesamtprozessen decken wir alles ab – ein Spannungfeld vom klassischen Maschinenbau bis hin zur organischen Chemie.
Ein anderes Thema, bei dem Sie sich stark engagieren, ist die Verordnung REACh, die immer noch hohe Wellen schlägt. Wieso?
Inzwischen geht es aber weniger um das eigentliche Thema REACh als vielmehr um die Halb- und Unwahrheiten, die drum herum gesponnen werden. Da ist die Rede von ‚Stoffverbotsverordnung‘ und Ähnlichem, was definitiv falsch ist. Solche Aussagen bringen extrem viel Unruhe in die beschichtende und anwendende Industrie und das ist fatal für unseren Wirtschaftsstandort, für den Umwelt- wie auch den Mitarbeiterschutz. Denn ein Abwandern von unverzichtbaren Technologien in Länder, die weniger Wert auf Mitarbeiter und Umwelt legen, kann niemand wollen.
Was wäre Ihr Appell?
Mein großer Wunsch wäre es, dass sich der eine oder andere, der zum Thema referiert, zuvor gründlich informiert. •
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