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Labor im Westentaschenformat

Lab-on-Chip-Systeme: Mikro-Hightech massentauglich herstellen
Labor im Westentaschenformat

Chips, die die Funktionen eines ganzen Labors enthalten, gibt es viele. Eine günstige Massenherstellung dieser Lab-on-Chip-Systeme lässt sich jedoch kaum umsetzen. Im Rahmen eines europaweiten Projekts entwickeln Forscher nun eine massentaugliche Produktionsplattform für diese sogenannten Westentaschenlabore.

Biologische und chemische Analysen unterschiedlichster Substanzen werden erfahrungsgemäß in einem Labor durchgeführt. Darunter stellt man sich einen großen Raum vor mit allerlei elektrischen Geräten, Abzügen und chemischen Substanzen, in dem Wissenschaftler mit weißen Kitteln arbeiten. Eine ganz andere Art von Labor stellen sogenannte Lab-on-Chip-Systeme dar. Diese „Westentaschenlabore“ sind nur wenige Zentimeter groß und vereinen doch alle notwendigen Funktionalitäten, um hochkomplexe Analysen mit nur winzigen Mengen an Flüssigkeiten durchführen zu können. In den letzten Jahren wurden zwar viele leistungsfähige Lab-on-Chip-Systeme entwickelt, allerdings konnten sich diese aufgrund zu teurer und unflexibler Produktionsmethoden nur vereinzelt oder noch gar nicht auf dem Markt etablieren.

Seit einem Jahr arbeiten Forscher des Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen nun gemeinsam mit ihren Kollegen des Spin-Offs Polyscale GmbH & Co. KG sowie zehn weiteren Industriepartnern aus Deutschland, Finnland, Spanien, Großbritannien, Frankreich und Italien daran, eine wirtschaftliche und flexible Produktionstechnologie für Lab-on-Chip-Systeme zu entwickeln. Das Projekt mit dem Namen ML² (MultiLayer – MicroLab) wird bis zum Herbst 2016 mit 7,69 Mio. Euro im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm gefördert. „Ein Hauptgrund für die fehlende Markteinführung liegt in den Fertigungstechniken, mit denen die Lab-on-a-chip-Systeme hergestellt werden“, sagt Christoph Baum, Gruppenleiter am Fraunhofer IPT. Sie lassen sich seiner Meinung nach „oft nicht in die Massenproduktion überführen“. Zudem gestaltet es sich problematisch, elektrische Funktionen auf dem Westentaschenlabor zu integrieren: Hier gibt es zwar Ansätze – massentauglich sind sie jedoch noch nicht.
Lab-on-Chip-Systeme erzeugen ihren großen Nutzen dadurch, dass sie mehrere Funktionen auf einem kleinen Chip integrieren. Dabei nutzen sie mikrofluidische Strukturen, um winzige Mengen von Testflüssigkeiten auf dem Chip transportieren und verarbeiten zu können. Mit der Integration von optischen und elektronischen Funktionen auf dem Chip können komplexe biologische und chemische Analysen vollständig und automatisch durchgeführt werden.
Die Vorteile von Lab-on-Chip-Systemen sind unbestritten. Erste mikrofluidische Systeme mit geringer Komplexität sind schon Ende der 1990er-Jahre auf dem Markt erschienen und bewiesen das Marktpotenzial dieser Technologie. In den darauffolgenden Jahren wurden immer komplexere mikrofluidische Systeme mit mehr integrierten Funktionen und komplexeren Anordnungen der mikrofluidischen Kanäle entwickelt. Für die nächsten Jahre sagen Analysen führender Markforschungsinstitute Umsatzwachstumsraten von 13,5 % und ein Marktvolumen von über 1,62 Mrd. Euro im Jahr 2015 voraus.
Die mögliche Substitution von teurem Laborequipment sowie dem entsprechenden räumlichen und personellen Bedarf ist hoch attraktiv. Zudem entfällt die örtliche Bindung, so dass Analysen direkt vor Ort durchgeführt werden können, wo sie benötigt werden. Damit entfällt auch der sonst benötigte logistische Aufwand.
Mit dem Projekt ML² wollen die Forscher die Entwicklung einer neuen Generation von mikrobiologischen Systemen (MNBS) basierend auf einem neuen Design und einer neuen Produktionsplattform voranbringen, welche mikrofluidische, mikrooptische und mikroelektronische Systeme vereint. Die Systemarchitektur basiert dabei auf einem Multilayer-Konzept, welches erlaubt, die verschiedenen Funktionstypen auf einer oder mehreren Lagen zu integrieren. „Ziel ist es, eine Plattform zu schaffen, mit der wir alle nötigen Komponenten herstellen können“, sagt Baum.
Die Produktionsplattform wir d in der Lage sein, sowohl die nur Mikrometer großen Kanalstrukturen, die Versiegelung der Flächen für die Anbindung bioaktiver Substanzen und die optischen Komponenten herstellen zu können als auch die elektrischen Leiterbahnen, die beispielsweise die Kanäle für notwendige Reaktionen beheizen. Die einzelnen Funktionslagen werden anschließend in einem „Rolle-zu-Rolle“-Prozess miteinander verbunden. Dazu müssen die Herstellungsverfahren für die jeweiligen Schichten für den angestrebten massentauglichen Produktionsprozess angepasst werden.
So werden etwa die Kanalstrukturen nicht wie bei heute üblichen Systemen über Spritzguss oder nasschemische Verfahren hergestellt, sondern mit einem Folienprägeprozess erzeugt. Dabei läuft eine Walze mit der aufgebrachten Negativstruktur der Kanäle über eine Endlosfolie und drückt die entsprechenden Vertiefungen hinein. Die elektrischen Leiterbahnen wiederum werden mit Tintenstrahldruckern auf die Folie aufgetragen – mit Tinte, die Kupfer- oder Silbernanopartikel enthält. Nach dem Zusammenfügen brennt ein Laser senkrechte Kanäle ein, wodurch die Verbindung zwischen den einzelnen Schichten geschaffen wird.
Anhand von drei Demonstratoren wollen die Forscher die einzelnen Herstellungsschritte und unterschiedlichen Funktionen der Technologie optimieren und in die Praxis umsetzen und damit die Effizienz der neuen MultiLayer-Produktionstechnik beweisen. Dazu wird beispielsweise ein Schwangerschaftstest mit digitaler Anzeige entwickelt. Diese Tests können zurzeit nur in Niedriglohnländern wirtschaftlich hergestellt werden. Durch den hohen Automatisierungsgrad sinken die Herstellungskosten um bis zu 50 %. Damit soll in Zukunft auch eine Produktion in Europa wieder rentabel sein.
Ein weiterer Demonstrator kann DNA-Untersuchungen mithilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) durchführen. Damit können direkt vor Ort, also am Patientenbett, in der Arztpraxis oder auch in abgelegenen Regionen, in kürzester Zeit umfassende Blutuntersuchungen durchgeführt werden und etwa HIV- oder Hepatitis-Viren nachgewiesen werden. Der dritte Demonstrator kann durch hochsensible optische Sensoren Giftstoffe in Flüssigkeiten aufspüren. Somit lässt sich zum Beispiel die Wasserqualität von Flüssen, Seen oder Trinkwasser überwachen.
Bis Ende 2014 werden alle drei Demonstratoren zum ersten Mal aufgebaut. Daraufhin werden die einzelnen Herstellungsverfahren optimiert und die einzelnen Schritte aufeinander abgestimmt, um am Ende den Gesamtprozess in eine funktionierende Massenproduktion überführen zu können.
Prof. Günther Schuh, Markus Engel Fraunhofer Institut für Produktionstechnologie IPT, Aachen

Vielversprechende Zukunft

Für Lab-on-Chip-Systeme gibt es schier unendlich viele vorstellbare Anwendungsmöglichkeiten. Zunächst werden weiterhin kritische Parameter wie Schnelligkeit, Größe und Kosten optimiert, etwa durch Integration neuer Technologien wie OLED (organische Leuchtdioden). Damit kann ein immer breiteres Spektrum an medizinischen und chemischen Tests einer immer größeren Zahl an Anwendern kostengünstig und lokal verfügbar zugänglich gemacht werden. Langfristig wird es Anwendungen für jeden Bereich geben: Hightech-Sofort-Bluttests für die Arztpraxis, HIV-Tests für die entlegensten Regionen der Welt und Wassertests etwa für Reisende in gefährdete Gebiete. Denkbar sind aber auch winzige Chips, die in jedem verpackten Lebensmittel enthalten sind und den Gehalt an Schimmelpilzen anzeigen. Damit würde das Mindesthaltbarkeitsdatum durch ein intelligentes und individuelles System abgelöst.
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