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Der World Wide Wettlauf ist längst gestartet

Industrie 4.0
Der World Wide Wettlauf ist längst gestartet

Der Begriff Industrie 4.0 ist zweifellos in Deutschland entstanden. Doch dies heißt nicht, dass wir bei der Digitalisierung der Industrie heute und in Zukunft die führende Nation sind. Dies zeigt der aktuelle Vergleich mit den USA und asiatischen Ländern.

„Wir müssen uns nicht verstecken in Bezug auf Produktion und Services sowie in Bezug auf die Digitalisierung von Produktionsprozessen. Hier sind wir führend. Die Amerikaner müssen hier von uns lernen – und nicht umgekehrt“, stellte Prof. Wolf-Dieter Lukas, Leiter der Abteilung V, Schlüsseltechnologien – Forschung für Innovation im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), im November 2016 auf dem zehnten nationalen IT-Gipfel in Saarbrücken klar. Matthias Machnig, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI), ergänzte. „Wir stehen qualitativ auch in der Forschung hervorragend da, nur quantitativ müssen wir noch zulegen.“

Die Aussagen der beiden Politiker auf dem alljährlich stattfindenden Kongress des BMWI verdeutlichen: Deutschland will sich bei Industrie 4.0 nicht die Butter vom Brot nehmen lassen – weder von den USA noch von anderen Ländern wie China oder Japan. Um dem Thema gerecht zu werden, wird der Kongress ab 2017 dann auch Digital-Gipfel heißen.
Denn eins ist klar: Das globale Rennen um die Industrie-4.0-Pole-Position hat längst begonnen – und ob Deutschland als Erster durchs Ziel fahren wird, ist noch längst nicht ausgemacht – obgleich der Begriff hierzulande entstand, nämlich 2011 im Vorfeld der Hannover Messe als Zukunftsprojekt im Rahmen der Hightech-Strategie. Acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, hat 2013 dann eine Forschungsagenda und Umsetzungsempfehlungen vorgestellt, die auf Betreiben des BMBF ausgearbeitet wurde.
„Innerhalb weniger Jahre hat sich der in Deutschland geprägte Begriff Industrie 4.0 zu einer internationalen Marke entwickelt. Das zeigt: Als Fabrikausstatter der Welt traut man uns zu, kompetent mit den Herausforderungen einer digitalisierten, vernetzten Industrieproduktion umzugehen“, sagt Acatech-Präsident Prof. Henning Kagermann. Doch auch andere Länder rund um den Globus treiben die Digitialisierung der Industrie voran: In den USA spricht man vom „Internet of Things“. Und die chinesische Regierung hat in ihrem Programm „Made in China 2025“ rund 50 Industrie-4.0-Leuchttumprojekte definiert.
Kein Wunder, dass in Deutschland die Sorge wächst, dass die Implementierungs- und Innovationsgeschwindigkeit in Asien und vor allem den USA deutlich höher sein könnte als bei uns im Land. Eine Befragung im Auftrag des IT-Branchenverbands Bitkom belegt dies: 559 Produktionsleiter, Vorstände oder Geschäftsführer von deutschen Industrieunternehmen ab 100 Mitarbeitern wurden gefragt, welche Nation ihrer Meinung nach beim Wandel von der klassischen zur vernetzten Fabrik international den Ton angibt. Auf Platz eins landeten mit 28 % die USA, knapp vor Deutschland mit 25 %. Japan belegt mit 20 % den dritten Platz. Es folgen mit großem Abstand Frankreich, China sowie Korea und die Niederlande.
Doch was ist dran an diesen Meinungen? Eine aktuelle Studie des chinesischen Informations- und Telekommunikationsanbieters Huawei und des Handelsblatt Research Instituts stellt klar: Von den vier bedeutendsten Volkswirtschaften, die bei der Digitalisierung der Produktion im Wettbewerb stehen – Deutschland, China, Japan und die USA – hat sich bisher kein Land einen Vorsprung erarbeitet, der nicht mehr einzuholen wäre. Für die Studie „Industrie 4.0 im internationalen Vergleich“ haben die Autoren die Industrie-4.0-Wettbewerbsfähigkeit in zwei Schritten analysiert: Im ersten Schritt wurde eine Übersicht erstellt, welche Bedeutung das Thema in den vier Ländern hat. Anschließend haben sie im zweiten Schritt anhand von fünf Kategorien in einer makroökonomisch-strategischen Analyse die Voraussetzungen untersucht, welche die vier Länder für eine erfolgreiche Transformation ihrer Wirtschaft zu Industrie 4.0 haben.
Die Stärke Deutschlands liegt demnach in der Konzentration von Industrie 4.0 auf das produzierende Gewerbe. Kein Wunder, denn das produzierende Gewerbe in Deutschland erzeuge „einen für ein entwickeltes Land überdurchschnittlichen Anteil an der Bruttowertschöpfung und ist von großer Bedeutung für den deutschen Arbeitsmarkt“. Obwohl die absolute Wertschöpfung des produzierenden Gewerbes in Deutschland kleiner sei als in den Vergleichsländern, liegen die Exporte dieses Sektors vor Japan und den USA – ein Hinweis auf die Stärke deutscher Produkte im internationalen Wettbewerb.
Deutscher IKT-Sektor schwächelt
Minuspunkte gibt es aber für den deutschen Informations- und Kommunikationstechnologie-(IKT)-Sektor. Er sei im Vergleich mit den anderen Ländern sehr klein, auch seine Bedeutung für die Volkswirtschaft sei wesentlich geringer als in den anderen Ländern. Die deutschen Exporte auf diesem Gebiet liegen weit hinter denen Chinas und der USA und auch die Ausgaben des Sektors für Forschung und Entwicklung sind im internationalen Vergleich auf einem niedrigen Niveau.
Als eine weitere deutsche Schwäche identifiziert die Huawei-Studie die digitale Infrastruktur. Vor allem mangele es an drahtlosen Breitbandanschlüssen, die Investitionen in Telekommunikationsdienstleistungen liegen weit unter denen anderer Länder.
Dennoch sind sich die Experten sicher, dass Deutschland über einen starken deutschen Industrie-4.0-Sektor verfügt, der zu einem globalen Leitanbieter avancieren könnte. Um diese Position zu erreichen, gibt die Studie die Empfehlung, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im produzierenden Gewerbe zu erhöhen. Auch sollten Kooperationen verstärkt international angestrebt werden. „Durch gemeinsame Standards würden sich deutsche Unternehmen den Zugang zu wesentlich größeren Absatzmärkten sichern“, so die Autoren. Sie raten zudem zu einer stärkeren Förderung des Unternehmertums in Deutschland. Neben dem schwierigen Zugang zu Risikokapital sei allerdings auch ein Mentalitätswandel erforderlich: Es herrsche eine zu geringe Bereitschaft, Risiken einzugehen.
USA: IKT top – Industrie mit Problemen
Gerade umgekehrt sind die Vorzeichen in den USA: Der IKT-Sektor ist top, die produzierende Industrie schwächelt noch, zeigt die Huawei-Studie. In den USA sei die Digitalisierung der Wirtschaft thematisch deutlich breiter aufgestellt als in Deutschland. Zudem sei das Thema weniger politisch gesteuert, sondern werde stärker aus der Wirtschaft heraus vorangetrieben. Der IKT-Sektor sei einer der leistungsfähigsten der Welt. Die absolute Wertschöpfung liege wesentlich höher als die von Vergleichsländern, der Sektor habe eine überdurchschnittliche Bedeutung für die gesamte Wirtschaft.
Den gelungenen Handschlag von Produktion und IT in den USA zeigt das Industrial Internet Consortium (IIC), das die Telekommunikationsanbieter AT&T, der Netzausrüster Cisco, der Elektrokonzern GE sowie die IT-Riesen IBM und Intel 2014 gegründet haben. Zahlreiche weitere Unternehmen wie Bosch und Siemens sind ihm mittlerweile beigetreten. Die US-Regierung stellt zudem finanzielle Mittel für Innovationszentren auf Basis von Public-Private-Partnerships bereit.
Doch auch die USA haben ihre Schwächen: Diese liegen laut der Studie im produzierenden Gewerbe. Allerdings ist die Re-Industrialisierung dort im vollen Gang, und „ein Aufschwung der US-Industrie könnte durch Industrie 4.0 beflügelt werden“. Wenn das produzierende Gewerbe gemeinsam mit der starken IKT-Branche an der Entwicklung von Industrie 4.0 arbeite, sei eine Re-Industrialisierung in den USA möglich.
Auch im Bereich der Innovationsfähigkeit attestieren die Autoren der Studie den USA gute Voraussetzungen. Die Forschung und Entwicklung sei sehr stark, das Land für seine aktive Start-up-Szene bekannt. „Vor dem Hintergrund der sehr guten Ausstattung mit Risikokapital und der kulturell stark ausgeprägten Risikobereitschaft bei Unternehmensgründungen ist auch eine zukünftig starke Stellung des Landes zu erwarten“, begründen die Autoren.
Japan forciert die Automatisierung
Japans Industrie ist der Huawei-Studie zufolge für Innovationen bekannt. Außerdem habe die Politik den Willen, Industrie 4.0 zu unterstützen. Das Land befindet sich allerdings seit Jahren in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Industrie 4.0 könne demnach über die Zukunft entscheiden: Entweder nutze Japan die Möglichkeiten der Digitalisierung, um dem Seitwärtstrend entgegenzuwirken. „Sollte dies allerdings nicht gelingen, droht sich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes deutlich zu verschlechtern“, so die Huawei-Experten. Besonders große Ambitionen bestehen nach Analysen des Germany Trade & Invest (GTAI) im Bereich der Industrierobotik. Bis 2020 soll nach dem Willen der Regierung der Automatisierungsgrad durch Industrieroboter im Fertigungsprozess von großen Unternehmen von gegenwärtig 10 auf 25 % erhöht werden. Der Markt für japanische Industrieroboter soll sich in den kommenden fünf Jahren auf 8,9 Mrd. Euro verdoppeln.
Um Standards für die Entwicklung der vernetzten Fabrik und eine eigene Plattform zu schaffen, hat Japan 2015 die Industrial Value Chain Initiative (IVI) gegründet. Etwa 40 japanische Unternehmen sind dieser Interessensverbindung laut der deutschen Wirtschaftsförderungsgesellschaft GTAI bislang beigetreten, darunter auch die deutschen Niederlassungen von Bosch und Beckhoff Automation.
China positioniert die Studie in den meisten Kategorien am Ende der Rankings. Jedoch habe sich das Land in den vergangenen Jahren mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt – und dies gelte auch im Bereich Industrie 4.0. Wenn China vor dem Hintergrund der im Gegensatz zu Deutschland erstarkenden IKT-Industrie auf dem Gebiet Industrie 4.0 den Trend fortsetzen könne, habe das Land die Möglichkeit, sich noch deutlich weiter nach vorn zu schieben.
China mit großen Ambitionen
Das künftige Industrie-4.0-Potenzial Chinas sorgt hierzulande für große Diskussionen, denn chinesische Unternehmen kaufen derzeit verstärkt deutsche Firmen mit Automations-Know-how auf – eine wesentliche Komponente für die Digitalisierung der Industrie. Die diesjährige Übernahme des Roboterherstellers Kuka durch Midea war nur die Spitze des Eisbergs. Im Reich der Mitte sind Anstrengungen politisch gesteuert und Teil einer breit angelegten Modernisierungsstrategie. Ziel ist die Transformation von der arbeitsintensiven Industrie- zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft.
Das strategische Industrieentwicklungsprogramm „Made in China 2025“ kommt für GTAI einer „Kampfansage an das internationale Innovations- und Technologie-Establishment“ gleich. Denn Mergers & Acquisitions sind ein bevorzugtes Mittel, um die Ziele von „Made in China 2025“ zu erreichen. Im Rahmen dieses Programms setzt die Regierung in Peking die Förderung von zehn strategischen Industriebranchen fort. Dazu gehören unter anderem Robotik, CNC-Maschinen sowie Informations- und Kommunikationstechnologie. „Viele dieser strategischen Bereiche finden sich auch in der Hochtechnologiestrategie Deutschlands wieder, was den Ehrgeiz des Programms zeigt“, betont GTAI.
Im Gegensatz zu früheren staatlichen Wirtschaftsplänen spielen Mengensteigerungen dabei keine wichtige Rolle. Ziel ist vielmehr Innovation und eine wachsende Unabhängigkeit von ausländischer Spitzentechnologie. So soll sich die Zahl der Patente bis 2025 verdreifachen. Angestrebt werden zudem 40 Innovationszentren für industrielle Fertigung über China verteilt.
Dass Industrie-4.0-Know-how aus Deutschland in China gut ankommt, zeigt auch das Beispiel des Münchner Kunststoffmaschinenbauers Krauss Maffei, der seit Anfang 2016 zur Chemchina Unternehmensgruppe gehört. „In China entsteht durch die Ein-Kind-Politik ein zunehmender Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Dadurch ist der Druck zur Automatisierung noch größer als hier im Westen. Wir prüfen gemeinsam mit unserem Eigentümer, wie wir in unserem Umfeld die Automatisierung weiter vorantreiben können“, verriet Krauss-Maffai-CEO Dr. Frank Stieler kürzlich der Schweizer Fachzeitschrift Kunststoffxtra. Auf der Kunststoffmesse K 2016 im Oktober sagte er: „Wir haben die Vision, künftig große Teile von Reifenfabriken aus einer Hand anzubieten.“ Während Krauss Maffei mit dem Extruder aus der Gummimischung die Reifenauflagefläche und die Seitenwände produziert, werden von den drei Chemchina-Unternehmen die Mixer und die Pressen hergestellt.
Die Sorge der deutschen Öffentlichkeit, dass chinesische Firmen etablierte deutsche Unternehmen und deren Industrie-4.0-Know-how kaufen und absaugen sowie die Fabriken und Arbeitsplätze schließlich nach China verlagern, kann Christoph Hoene, Inhaber von Hoene Consult, nicht nachvollziehen: „Ich kenne keinen einzigen Fall, bei dem ein chinesischer Investor so gehandelt hat. Im Gegenteil: Die chinesischen Unternehmen gehen heute sehr professionell vor, haben großen Respekt vor eingeführten deutschen Marken sowie dem Know-how und der Technologie der deutschen Unternehmen. Und für die deutschen Firmen, die heute Chinesen gehören, war die Übernahme in der Regel von Vorteil.“
Daniela Bartscher-Herold, Partner beim Münchner Beratungsunternehmen EAC-Euro Asia Consulting, sieht dies nicht so entspannt: „Die Belege dafür, dass beide Seiten profitieren, stehen noch aus. Dies wird erst die Zeit zeigen.“
Sie kritisiert vor allem, dass die Voraussetzungen für Mergers & Acquisitions in China und Deutschland unterschiedlich sind. „Und dies muss die Politik auch so deutlich ansprechen.“

Miteinander oder gegeneinander?
Um die Standardisierung im Bereich 4.0 voranzutreiben, hat Deutschland die Plattform Industrie 4.0 gegründet. In den USA gibt es als „Gegenveranstaltung“ das Industrial Internet Consortium, in Japan die Industrial Value Chain Initiative (IVI). Ist dies auf Dauer zielführend? Nein, sagt Acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, in ihrer jüngsten Studie „Industrie im globalen Kontext“. Im Bereich der Standards sprechen sich die Autoren der Studie gegen Silolösungen aus. Acatech-Präsident Prof. Henning Kagermann: „Auf lange Sicht werden sich offene Standards durchsetzen, die von vielen Playern genutzt und weiterentwickelt werden.“ Dennoch gibt es keine weitreichende Zusammenarbeit. „Für Deutschland besteht das Risiko, dass die US-Konsortien zügig ‚Quasistandards’ etablieren und deutschen Unternehmen dadurch den Rang bei der Standardisierung ablaufen“, befürchtet Acatech. Mit China hat die Bundesregierung 2015 das erste bilaterale Kooperationsabkommen bei Industrie 4.0 geschlossen. Derzeit existieren laut BMWI 20 deutsch-chinesische Kooperationsprojekte. Gemeinsam mit dem chinesischen Amt für Standardisierung (SAC) will das BMWI zudem die Normungsaktivitäten vorantreiben.
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