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„Die Karawane in die richtige Richtung führen“

Interview mit WZL-Direktor Prof. Günther Schuh
„Die Karawane in die richtige Richtung führen“

„Internet of Production für agile Unternehmen“, so lautet das Leitthema des AWK 2017. Als Repräsentant der veranstaltenden Aachener Institute WZL und IPT erläutert Prof. Günther Schuh die Inhalte des diesjährigen Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquiums. ❧ Mona Willrett

Herr Prof. Schuh, wie hat sich die Produktionstechnik seit dem letzten AWK verändert, das ja auch schon die vernetzte Fertigung zum Thema hatte?
Vor drei Jahren postulierten wir, die internetbasierte Vernetzung werde kommen und nicht nur eine neue Connectivity bringen, sondern auch transparente Prozesse. Wir gehörten damals zu den Mutigen, die schon von einer Revolution redeten. Heute kenne ich kein Unternehmen mehr, in dem nicht über das Thema gesprochen wird. Auch wenn der konkrete Nutzen anfangs vielen noch unklar war, so gibt es inzwischen doch eine Reihe von Betrieben, die Erfahrungen gesammelt haben. Einige sind schon ziemlich weit. Mancher dachte zunächst an neue Geschäftsmodelle, aber die entscheidenden Effekte liegen oft viel näher. Um die Potenziale zu erkennen und sie dann heben zu können, benötigen wir eine eigenständige Datenebene, die wir Smart Data nennen.
Das Motto des AWK 2017 lautet ‚Internet of Production für agile Unternehmen‘. Was verstehen Sie darunter?
Den meisten Fertigern ist gar nicht bewusst, wie viel Zeit sie mit dem Suchen von und dem Warten auf Informationen vergeuden. Durch das ‚Internet of Production für agile Unternehmen‘ wird es künftig möglich sein, Daten ungehindert über Domänengrenzen hinweg schnell, effizient und sicher auszutauschen – beispielsweise zwischen PLM-, FEM- oder CAD-Systemen und der Maschinensteuerung. Das wird die Prozesse in produzierenden Unternehmen in einer Weise beschleunigen, die bis vor kurzem undenkbar war.
Wie unterscheidet sich das Internet of Production vom Internet der Dinge?
Anfangs war das Internet der Dinge eine schwer vorstellbare Metapher. Sie stand dafür, verschiedene Endgeräte übers Netz zu verbinden und so Daten austauschen zu können. Nun wäre es natürlich toll, das auch in der Produktionstechnik zu realisieren. Das Problem dabei: Das Internet of Production ist um eine oder zwei Zehnerpotenzen komplexer. Es muss ein Vielfaches an Parametern verknüpfen, zwischen denen es noch dazu keine linearen Zusammenhänge gibt. Wir kennen zwar die wesentlichen Korrelationen, wir können sie aber nur heuristisch und nicht deterministisch beschreiben, also nicht über Formeln definieren. Um das zu erreichen, müssen wir unser Prozessverständnis ausbauen, und dazu brauchen wir Smart Data, die wir Domänen-übergreifend nutzen können.
Wie unterscheidet sich der europäische Ansatz vom amerikanischen oder asiatischen?
Die chinesischen Ansätze lehnen sich mittlerweile stark an unsere akademisch-wissenschaftliche Herangehensweise an. Die Amerikaner gehen dagegen recht pragmatisch vor. Sie definieren gesellschaftliche relevante Domänen – beispielsweise die Gesundheit, die Produktion oder die Logistik – und legen den Fokus auf den Datenaustausch zwischen diesen Domänen. Sie sagen: ‚Wir wissen zwar noch nicht, wie das große Ganze aussieht, aber wir schaffen mal die wichtigen Schnittstellen‘. Deren Ansatz ist durchaus interessant. Deshalb sind einige Vorreiter unserer Industrie-4.0-Szene auch Mitglied in amerikanischen Industrial-Internet-Gremien. Wir sind in Sachen Umsetzung in die Praxis noch nicht die Schrittmacher, aber bei uns wird das Thema in einer Intensität diskutiert, die sehr wertvoll ist.
Wie wird sich das Verhältnis zwischen realer und virtueller Welt verändern?
Das verschiebt sich in Richtung Virtualität. Die Amerikaner halten die totale Virtualisierung für möglich. Ein Silicon-Valley-Mann sagte mir mal: ‚Warum soll ich an den Strand fahren und die Füße ins Wasser stellen, wenn ich das virtuell einfacher haben kann?‘ Da stellt sich natürlich die Frage, ob man das will. Unser Ansatz ist vielmehr, über eine einfache Vernetzung die Option zu schaffen, alle möglichen Endgeräte mit dem Internet zu verbinden, so dass jedes Gerät – und jeder Teilnehmer – mitteilen kann, wie es ihm geht oder was es gerade benötigt. So können wir Abbilder in eine Parallelwelt transferieren und dort für Simulationen nutzen, die uns dann wiederum in der Realität auf dem idealen Weg zum Ziel navigieren.
Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf auf dem Weg zum Internet of Production?
Um die komplexe Parallelwelt beherrschen und die Potenziale von Industrie 4.0 in der Breite ausschöpfen zu können, brauchen wir parallele Datenstrukturen, die so generisch wie möglich sein sollten. Wenn wir diese Informationen clever nutzen, sind damit riesige Potenziale verbunden.
Welche Potenziale sind das?
Ich wage zu behaupten, dass es die Nutzer in mehr als der Hälfte aller Fälle nicht schaffen, das Leistungspotenzial ihrer Produktionsanlagen auszuschöpfen. Und die Maschinenbauer kommen nicht an die Informationen heran, um ihre Kunden hier individuell zu unterstützen. Ebenso wenig kommen sie an jene Daten, mit deren Hilfe sie ihre Produkte und Serviceleistungen verbessern könnten. Dazu fehlt die Transparenz.
Wie muss sich die Werkzeugmaschine entwickeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben?
Die Maschinenanbieter müssen viel Know-how und Prozesswissen in die Anlage integrieren und so ihre Kunden unterstützen, das Produktionssystem nah am jeweiligen Optimum zu betreiben. Viele Anwender blicken heute noch zu kurz. Sie glauben, ihr Know-how schützen zu können, indem sie sich abschotten. Dabei könnten sie ihre Anlageneffektivität dramatisch steigern, wenn sie gegenüber dem Maschinenbauer offener wären. Andererseits wollen viele Maschinenbauer diesen Service gar nicht anbieten. Sie fürchten, damit ihren Neumaschinenabsatz zu schwächen. Das ist aber der falsche Ansatz, denn diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Und deshalb sollte jeder bestrebt sein, möglichst früh davon zu profitieren. So könnten sich beispielsweise Anbieter und Betreiber einer Anlage den Profit teilen, der durch Optimierungsmaßnahmen entsteht. In diesem Vorgehen läge für beide auch die Chance, sich im internationalen Wettbewerb einen Vorsprung vor weniger qualifizierten Marktbegleitern zu verschaffen.
Bis wann rechnen Sie mit durchgängigen, industrietauglichen Lösungen?
Das hat schon begonnen. Was zum Beispiel Trumpf macht, das hat schon alle nötigen Elemente. Das beginnt beim Technologiewissen, das die Ditzinger in ihre Anlagen und Assistenzsysteme einfließen lassen, und geht über die offene App-Plattform Axoom weiter bis hin zu den Finanzierungs- und Betreibermodellen. Die Zeiten, in denen es reichte, ausschließlich an der Produktivität der Maschinen zu feilen, sind vorbei. Allerdings müssen sich auch die Kunden öffnen, um aus einem solch bunten Strauß an Möglichkeiten den maximalen Nutzen für ihren individuellen Bedarf ziehen zu können.
Welche Risiken sind mit der Digitalisierung der Fertigung verbunden?
Für unsere traditionellen Fertigungsbetriebe – vom Maschinenbauer bis zum Lohnfertiger – sehe ich eine der größten Gefahren darin, dass sich neue Player zwischen sie und ihre Kunden schieben. Wer die Prozessoptimierung beherrscht, kann beispielsweise Produktionsleistung anbieten, quasi als Fabrikant ohne Fabrik auftreten und den klassischen Playern das Geschäft abnehmen. Amazon ist ein gutes Beispiel, wie das laufen kann. Der Versandriese hat sich zuerst zwischen die Buchhändler und ihre Kunden geschoben, und heute bietet der Online-Shop alle denkbaren Produkte.
Worauf sollten Betriebe auf ihrem Weg in die Digitalisierung achten?
Ausgangspunkt sollte immer eine gründliche Bestandsaufnahme sein. Führende deutsche Technikwissenschaftler haben in der acatech eine Art Quick-Check entwickelt, den Industrie 4.0 Maturity Index. Mit dessen Hilfe lässt sich innerhalb weniger Tage ermitteln, wo ein Betrieb steht. Auf dieser Basis sollte das Unternehmen dann eine individuelle Digitalisierungsstrategie erarbeiten und diese dann konsequent umsetzen. Jedem, der diesen Weg gehen will, muss aber klar sein: Das ist kein Kurzzeitprojekt!
Können Fertigungsbetriebe ohne vernetzte Prozesse im internationalen Wettbewerb weiterhin erfolgreich sein?
Wir reden beim Internet of Production zwar von einer Revolution, trotzdem wird das nicht von heute auf morgen passieren. Das ist eine kontinuierliche Entwicklung, die sich vermutlich über einige Jahre hinzieht. Insofern muss man nicht zu den ‚First movern‘ gehören. Was man jedoch mindestens bieten muss, ist ein digitales Frontend, eine Plattform, auf der ein Kunde schnell und einfach alle relevanten Informationen über Produkte und Leistungen abrufen und beispielsweise Produkte konfigurieren kann. Andernfalls wechselt der Interessent zu einem anderen Anbieter, der diesen Service bietet.
Wo liegen die Stolpersteine auf dem Weg zur vernetzten Produktion?
Die liegen vor allem in den Köpfen der Beteiligten. Produzierende Unternehmen sollten sich nicht länger als Produkt- sondern vielmehr als Nutzenanbieter verstehen. Kunden wollen weder eine Maschine noch ein Werkzeug, sie wollen ein fertiges Produkt. Und die Aufgabe eines Herstellers von Fertigungstechnik ist es, seinen Kunden auf möglichst einfache Weise zu diesem Bauteil zu verhelfen.
Was erwarten Sie sich vom AWK 2017?
Ich wünsche mir, dass das AWK sowohl Anbietern als auch Nutzern von Produktionstechnik zu einem gedanklichen Durchbruch verhilft und die Karawane in der Breite in die richtige Richtung bewegt. Wir zeigen, was zur Agilität gehört – möglichst wenig suchen und kaum noch warten – und stellen glaubhaft dar, welche enormen Potenziale mit der Umsetzung von Industrie 4.0 sowohl in der Entwicklung als auch in der Produktion und in der Nutzung der Produkte verbunden sind. Unsere Expertenvorträge aus der Industrie zeigen, dass es geht und was es bringt.
Weitere Informationen zum Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquium 2017 gibt es auf www.awk-aachen.de.
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