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Energieeffizienz: Digitale Zwillinge helfen beim Energiesparen

Energieeffizienz
Digitale Zwillinge helfen beim Energiesparen

Die zunehmende Digitalisierung von Produktionsprozessen eröffnet neue Möglichkeiten, den Energieverbrauch von Anlagen zu optimieren und Ökostrom-Überschüsse besser zu nutzen. Wissenschaftler haben schon wieder einen neuen Trend im Blick: Die Anwendung biologischer Prinzipien bei Produktgestaltung und Produktion.

Autowinder-1 heißt die Anlage im Bitterfelder Lanxess-Werk, die verschiedene Kunststoff-Materialien dazu nutzt, Membranfilter für die Frischwasser-Aufbereitung herzustellen. Entwickelt und gebaut wurde sie vor einigen Jahren von Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und Automatisierung IFF in Magdeburg, die mit der Anlage einen schrittweisen Einstieg in die Digitalisierung des Anlagenbaus verbinden. Der Autowinder-1 ist mit 800 Sensoren ausgerüstet, deren Messwerte dazu dienen, die Anlagensteuerung und die Produktqualität zu optimieren. Dabei räumt IFF-Projektleiter Sebastian Möser ein, dass die Möglichkeiten der verbauten Sensoren hier nur teilweise ausgeschöpft werden. „Wir waren im Jahr 2013 erst in der Lage, 60 Messwerte zu erfassen, die wir dann zeitversetzt in einem einfachen digitalen Modell verarbeiten konnten.“
Diese Datenverarbeitung erfolgte schon damals in der Software namens Vincent, die das IFF für die sogenannte virtuelle Inbetriebnahme von Anlagen entwickelt hatte. Möser bezeichnet Vincent als einen Vorläufer des Digitalen Zwillings, der deutlich leistungsfähiger ist. Er wird bei der Nachfolgeanlage Autowinder-2 eingesetzt, die derzeit von den Magdeburger Wissenschaftlern gebaut wird und bis zum Jahresende 2017 bei Lanxess in Bitterfeld in Betrieb gehen soll. Was unter dem Digitalen Zwilling zu verstehen ist, erklärt der Projektleiter so: „Neben der realen Anlage gibt es gleichzeitig ein digitales Modell ihrer wichtigsten Baugruppen in einer virtuellen Welt.“
Diese virtuelle Welt mit dem digitalen Modell befindet sich auf einem Rechensystem innerhalb eines Schaltschrankes und verarbeitet die Messwerte der Anlage in Echtzeit. Davor steht ein Anlagenbediener und schaut auf ein mobiles Assistenzsystem – beispielsweise einen Tablett-PC –, der ihm alle wichtigen Daten anzeigt. Besonders praktisch ist das, wenn es zu einem Anlagenfehler kommt: Dann kann das Assistenzsystem dem Mitarbeiter mögliche Lösungen vorschlagen und die dafür nötigen Dokumente liefern.
„Im Vergleich zur ersten Anlage setzen wir nur wenig mehr Sensoren ein, erfassen aber eine viel größere Zahl von Messwerten“ berichtet Möser. „Beispielsweise können wir den Strom- und Druckluftverbrauch bestimmter Bauteile zu jedem beliebigen Zeitpunkt ermitteln und die entsprechenden Daten verarbeiten. Ermöglicht wird dies durch ein funktionales Anlagenmodell, gekoppelt mit verschiedenen neuronalen Netzen.“
Das dient vor allem dazu, die Qualität des Produkts weiter zu verbessern. Die Wissenschaftler können aber damit künftig auch ermitteln, wie sich Änderungen der Anlagen-Fahrweise auf den Verbrauch von Strom und Druckluft auswirken. So wollen sie es auch möglich machen, den Energieverbrauch zu optimieren.
Institutsleiter Michael Schenk betrachtet den Autowinder-2 bereits als „wahrlich zu hundert Prozent Industrie-Vier-Punkt-Null-fähig“. Das konkretisierte er im März beim Kongress Ressourceneffiziente Produktion in Leipzig. Künftig müssten die Module so gestaltet werden, dass sie auch über das Internet gesteuert werden können. Dabei wies der Produktionsforscher darauf hin, dass dazu leistungsfähige Datenübertragungssysteme nötig sind, die höchsten Sicherheitsaspekten genügen müssen.
„Virtuelles Fort Knox“ im Aufbau
Ein Schritt in diese Richtung könnte eine digitale Internet-Plattform für Produktionsanwendungen sein, die das IFF derzeit gemeinsam mit sechs Partnerinstituten unter dem Arbeitstitel „Virtuelles Fort Knox“ aufbaut. Fort Knox ist ein stark gesicherter heimischer Stützpunkt der US-Armee, in dem ein Teil der nationalen Goldreserve lagert. „Die Plattform wird im zweiten Halbjahr 2017 intern nutzbar sein“, kündigte Schenk an. Später sollen zunächst einzelne Funktionen auch für weitere Partner zugänglich werden.
IFF-Wissenschaftler sind auch an den Energiespar-Bemühungen der ebenfalls in Magdeburg ansässigen MTU Reman Technologies GmbH beteiligt. Der früher unter dem Namenskürzel SKL bekannte Motorenhersteller hat sich inzwischen weitgehend auf die Wiederaufarbeitung von ausgedienten Dieselmotoren verlegt. Vor sechs Jahren begannen die Gebäudetechniker des Unternehmens damit, nach Möglichkeiten zur Energieeinsparung zu fahnden. „Wir haben hier punktuelle Projekte auf den Weg gebracht, die aber ohne Basiskonzept und ohne Produktbezug waren“, berichtet Gebäudetechnik-Leiter Martin Altrock.
Um systematischer vorgehen zu können, verbündeten sich die MTU-Fachleute mit dem IFF. Die Wissenschaftler hatten eine Methode entwickelt, mit der sie sogenannte Energie-Wertströme untersuchen konnten. „Sie haben in sehr viel Kleinarbeit, mit händischem Messen, mit Auswerten von Produktionsdaten, Produktionszeiten, speziellen Analysen an den Schlüsseltechnologien, die wir im Hause haben, festgestellt, wo unsere Energiesenken lagen“, berichtet Altrock. „Und die lagen nicht dort, wo wir sie am Anfang vermutet hatten.“
Als größte Energieverbraucher erwiesen sich nicht die großen Werkzeugmaschinen, die voluminöse Werkstücke von bis zu 3 m Länge bearbeiten. Verursacher waren vielmehr die Waschmaschinen, die verschmutzte Motorenbauteile reinigen. Sie brauchen große Mengen Warmwasser, das ständig auf Temperatur gehalten und jeden Tag wieder neu erwärmt werden muss. „Wir haben hier die ersten Projekte gestartet“, berichtet Altrock. Weitere Energiespar-Projekte seien inzwischen auch für Druckluft, Heizung, Lüftung und Fassadensanierung aufgesetzt worden. Noch in Arbeit ist ein Projekt, mit dem Bremsenergie von Großmotoren sinnvoll genutzt werden soll.
Wie das IFF arbeitet auch das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz daran, Energie- und Prozessdaten miteinander zu verknüpfen. Institutsleiter Matthias Putz berichtete in Leipzig über Forschungsbestrebungen, schwankende Energieangebote für den Fabrikbetrieb nutzen zu können, über energiesensitive Planungen für einen Span- und Fertigungsprozess oder die energetische Synchronisation von spanenden und umformenden Maschinen.
Inzwischen geht das IWU noch einen Schritt weiter und will schon in der Planung einer Fabrik den Energieverbrauch von Gebäuden und den darin arbeitenden Maschinen und Anlagen ganzheitlich optimieren. „Es ist uns hier gelungen, gemeinsam mit unseren Gebäudetechnikern ein Simulationswerkzeug auf die Beine zu stellen und auszutesten“, konkretisierte Putz das Vorhaben.
Porsches Roboter im Effizienztest
Energetische Optimierungen rücken auch im Porsche-Werk Leipzig zunehmend ins Blickfeld. Im Jahr 2013 ging dort der Karosseriebau für den Sportwagen Macan mit 387 Robotern in Betrieb. „Um die Energieeffizienz der Roboter bewerten zu können, haben wir damals eine spezielle Software entwickelt“, berichtet der Karosseriebau-Planer Timo Vogg. „Sie erfasst mehrere Schwerpunkte der Roboterbewegung, wie Masse, Beschleunigung und Bremseinfallzeiten, die damit transparent werden und von uns gezielt beeinflusst werden können.“ Diese Software erstellt für jeden einzelnen Roboter ein Energieeffizienz-Zertifikat, bei dem ähnlich wie für Kühlschränke Bewertungen von A+ bis D vergeben werden. Damit können die Karosseriebau-Planer und der Anlagenhersteller auf den ersten Blick erkennen, wie effizient der einzelne Roboter in der Praxis arbeitet. In diese Software wurden zunächst die Daten von einigen Robotern des Macan-Karosseriebaus aufgenommen. Ihre Arbeitsweise dient als grundlegender Standard, wenn künftig weitere, neu aufgebaute Roboter optimiert werden sollen.
Im Jahr 2016 ging dann ein weiterer Karosseriebau für den Panamera in Betrieb, der über 475 Roboter verfügt. Hier wollen Vogg und seine Kollegen nun zunächst 13 dieser Roboter energetisch optimieren. Dabei vergleichen sie mit der Robotereffizienz-Software ihre Daten mit den Daten ähnlicher Roboter aus dem Macan-Karosseriebau. „So erhalten wir Hinweise darauf, welche Roboterbewegungen effizienter gesteuert werden können“, berichtet der Planer. „Wir gehen derzeit davon aus, dass durch diese Optimierung bei jedem Roboter bis zu 12 Prozent des Stromverbrauchs eingespart werden können.“
Steuerung mit Preissignalen
Kostensenkung und Klimaschutz lassen sich auch gut miteinander verbinden, wenn das zeitweilige Überangebot an Solar- und Windstrom besser als bisher genutzt werden kann. Denn je weiter die wetterabhängige Stromerzeugung aus Sonne und Wind ausgebaut wird, desto größer wird ihr Einfluss auf die Preisschwankungen an der Leipziger Energiebörse EEX. Auf diesen Zusammenhang weist Alexander Sauer hin, der Bereichsleiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart ist. Daher hält er es für umso wichtiger für die Industrie, ihre Produktionsprozesse auf die Preissignale der Strombörse einzustellen.
Sauer zufolge ist es bereits gängige Praxis in Fabriken, die Produktion einzelner Güter so zu steuern, dass möglichst wenig teure Strombezugsspitzen anfallen. „Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass die Energiemärkte immer weiter geöffnet werden, dann geht es darum, dass wir immer näher an die aktuelle Produktionssituation herankommen“, erklärt der Wissenschaftler. Die Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme müssten künftig nahezu in Echtzeit auf kurzfristig stark schwankende Strombörsen-Preise reagieren können.
Dafür haben Sauer und seine Mitarbeiter bereits eine dezentrale energieflexible Steuerung entwickelt, kurz Deflex genannt. Sie verarbeitet zum einen die aktuellen Strombörsen-Preise. Zum anderen bezieht sie aus dem PPS-System auch Informationen über einzelne Produktionszellen sowie Lager- und Pufferbestände. „So eine Produktionszelle kann sich dann überlegen: Wieviel Zeit habe ich, bis ich anfangen kann, meinen aktuellen Prozess durchzuführen?“, beschreibt der Energieeffizienz-Experte das Grundprinzip.
Eine erste hybride Computersimulation mit Deflex haben die IPA-Leute für die Produktion eines Kunststoffteils mit nachgelagerter Montage in einem Unternehmen umgesetzt. Dazu gehören die Kern-Prozessschritte Trocknen, Spritzgießen, Vorbehandeln, Lackieren und Montieren, die hier auch mit einem Energie-Wertstrom untersucht und ausgewertet wurden. Diese Originaldaten flossen in die Deflex-Simulation ein. Zum anderen werteten sie Spotmarkt-Preise der Energiebörse EEX aus, um die einzelnen Prozessschritte der Produktion zu starten oder zu stoppen. Dann ließen die Wissenschaftler die Simulation für ein Quartal laufen. Ihr Ergebnis: Mit Deflex könnten die Stromkosten für diesen Produktionsprozess um 10 % gesenkt werden.
Dabei lässt Sauer durchblicken, dass hier noch ein einfacher Ansatz verfolgt wurde, der möglicherweise noch verfeinert werden kann. Derzeit laufen zwei Forschungsprojekte, mit denen Deflex in der industriellen Anwendung erprobt wird. Wie IPA-Mitarbeiter Sebastian Weckmann berichtet, handelt es sich dabei zum einen um eine Produktionszelle im Rohbau der Automobilfertigung, und zum anderen um eine Produktion von Magnesium-Druckgussteilen.
Elefant und Werkzeugmaschine
Die zunehmende Digitalisierung von technischen Prozessen könnte auch eine besondere Art der Rückkehr zur Natur ermöglichen. Von „Biologisierung der Produktion“ spricht Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer, der als früherer IWU-Leiter immer noch eng mit der Werkzeugmaschinenbranche verbunden ist. Gemeint ist damit, biologische Prinzipien in die Technik zu übertragen. Bei der Gestaltung von Produkten wird dies bereits seit Jahren praktiziert, offenbar aber auch noch begrenzt von den verfügbaren Rechenleistungen der Konstruktionscomputer. Neugebauer rechnet hier künftig mit großen Fortschritten.
So kann er sich leichte und doch stabile Werkzeugmaschinen-Gestelle vorstellen, die nach dem Prinzip der „Strukturbionik“ konstruiert werden. „Wir wissen, jedes Gramm Masse ist ein Gramm zuviel“, erklärt der Fraunhofer-Präsident. „Wenn Sie sich einen Baum anschauen, der hat nicht eine Faser Holz mehr, als er für seine absolute Stabilität braucht.“ In der Natur gebe es den Sicherheitsfaktor der Chefkonstrukteure nicht. Bei ihr gelte das Strukturprinzip, dass Masse nur dort angereichert wird, wo auch eine Belastung stattfindet.
Das Prinzip der „Bewegungsbionik“ erklärt er am Beispiel eines Elefanten. Der Dickhäuter laufe mit seiner großen Masse gemächlich mit geringer Geschwindigkeit. „Aber wenn er Futter aufnimmt, ist er mit dem Rüssel sehr schnell und hat dort eine zweite Kinematik“, erläutert Neugebauer. „Im Grunde ist der Körper das langsame, große, globale Koordinatensystem, der Rüssel ist das kleine, schnelle.“
Am Fraunhofer IWU sei dieses Prinzip bereits auf Werkzeugmaschinen übertragen worden, die riesige Werkstücke bearbeiten sollten. Dazu gehörten einerseits große Turbinenwellen und andererseits große Trockenwalzen für die Papierherstellung. Um solche Werkstücke bewegen zu können, müsste sehr viel Energie aufgewendet werden. „Also setzt man die Werkzeugmaschine ans Werkstück an“, beschreibt der Fraunhofer-Präsident die energiesparende Lösung. „So ähnlich, wie das der Specht macht, wenn der Baumstamm oder der Lichtmast das Werkstück wäre.“ Mit diesem Ansatz seien deutliche Energieeinsparungen bei gleicher Bearbeitungsgenauigkeit und etwas höherer Produktivität erreicht worden, verdeutliche Neugebauer.
Stefan Schroeter, Energiejournalist in Leipzig
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