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Fahrerlos durch den Verkehr

Autonome Fahrzeuge
Fahrerlos durch den Verkehr

Moderne Sensorik unterstützt Autofahrer schon heute in vielen Serienmodellen. Doch einige Ingenieure gehen noch einen Schritt weiter: Sie wollen das Lenkrad vollständig in die Hände der Technik geben und so neue Verkehrskonzepte verwirklichen.

Auf einem stillgelegten Luftwaffenstützpunkt der United States Air Force, rund 120 km nordöstlich von Los Angeles, fahren Autos über staubigen Asphalt. Das Besondere daran: Die Fahrzeuge haben keine Insassen. Wie von Geisterhand gesteuert, folgen sie sicher dem Straßenverlauf, halten an Kreuzungen oder manövrieren zielstrebig in eine Parklücke. Dass hier Weichen für die Zukunft des Automobils gestellt werden, ist auf den ersten Blick nur schwer zu erkennen.

Ortswechsel: Der Berliner Straßenverkehr gilt unter Autofahrern nicht unbedingt als Wohlfühlprogramm. Ganz im Gegenteil: Das hohe Verkehrsaufkommen sowie zahlreiche Baustellen erschweren selbst geübten Hauptstadtbewohnern den täglichen Weg zur Arbeit. Für die Mitarbeiter des Projekts Autonomos an der Freien Universität Berlin war dies offenbar genau die richtige Herausforderung. Unter der Leitung von Prof. Raúl Rojas entwickelten sie das Fahrzeug „MadeInGermany“, einen modifizierten VW Passat, vollgestopft mit Sensorik: Sechs Laser, die an Front- und Heckseite integriert sind, scannen die Umgebung des Fahrzeugs mit je vier Strahlen. Derartige Sensoren werden heute bereits – unter anderem für die technische Umsetzung von Einparkhilfen – in Serienmodellen verbaut. Im Fahrzeug der Berliner Wissenschaftler werden sie zusätzlich von einem rotierenden Laserscanner, der sich auf dem Dach des Wagens befindet und mit 64 Strahlen eine 360°-Rundumsicht ermöglicht, unterstützt. Sieben Radareinheiten sollen vor oder hinter dem Fahrzeug befindliche Autos erkennen. Die „Augen“ von „MadeInGermany“ bilden gleich mehrere Kameras. Eine von ihnen erkennt die Fahrbahnmarkierung und sorgt so dafür, dass das Auto die Spur hält. Eine weitere Kamera filmt das Geschehen aus der Fahrerperspektive und kann so beispielsweise Ampeln registrieren. Eine spezielle Wärmebildkamera erkennt zudem Passanten und Tiere. „Wir haben das Fahrzeug mit sehr vielen Sensoren ausgestattet, weil in dieser Phase des Projekts vor allem die Sicherheit im Vordergrund steht“, erklärt Projektleiter Rojas. Später werde die Zahl reduziert, um das System einfacher und wirtschaftlicher zu gestalten.
Seine Position ermittelt das Fahrzeug selbstständig über eine GPS-Einheit. Sie arbeitet deutlich präziser als beispielsweise ein Navigationsgerät. Während die Abweichung bei TomTom und Co. bis zu 15 m betragen kann, sind es bei dem Auto der FU Berlin maximal 50 cm. Die Position der GPS-Satelliten wird dabei durch eine Antenne empfangen und ein Navigationscomputer berechnet die aktuelle Fahrzeugposition. Eine Inertialeinheit (IMU), ausgestattet mit Beschleunigungssensoren und Gyroskop, kann die Position bei kurzfristiger Verdeckung der Satelliten – beispielsweise bei der Fahrt durch einen Tunnel – interpolieren. „Mit all diesen Daten haben wir mehr Informationen, als ein menschlicher Autofahrer jemals verarbeiten könnte“, so Rojas. Deshalb besteht die Schaltzentrale des Wagens auch gleich aus mehreren Computern. Einer von ihnen ist ausschließlich für die Verarbeitung der Videodaten, welche die Fahrbahnmarkierungs-Kamera liefert, zuständig. Ein weiterer errechnet mit Hilfe der GPS-Daten die aktuelle Position.
Die Steuerungsintelligenz steckt in einem Laptop mit einem Vierkern-Prozessor, der alle Sensordaten empfängt und zu einem Gesamtbild der Verkehrssituation vereint. Der Steuerungsrechner weiß, wo sich das Auto befindet, kennt die aktuelle Geschwindigkeit und Lenkradstellung, berechnet die erwartete Fahrbahn in den nächsten Sekunden und zugleich die Position von möglichen Hindernissen. Wird die Straße beispielsweise plötzlich von einem Fußgänger überquert, wird dies über die Sensorik erkannt und der Steuerungsrechner befiehlt, das Auto zu bremsen. Gelangt das Auto an eine Stelle mit dichtem Verkehr, kann “MadeInGermany“ den anderen Autos im Schritttempo folgen und dabei den notwendigen Sicherheitsabstand einhalten.
Die Kommunikation zwischen der Steuerungseinheit und dem Fahrzeug erfolgt über einen CAN-Bus. Dieser bildet in modernen Fahrzeugen die Schaltzentrale. Wichtige Komponenten wie der Motor, die Bremse oder das Lenkrad verschicken Sensorwerte über den CAN-Bus und können auch über diese Leitungen Befehle erhalten: Ein am CAN-Bus angeschlossener Rechner kann den Motor beschleunigen, die Bremse betätigen oder das Lenkrad drehen.
Der Grundstein für „MadeInGermany“ wurde bereits vor rund sechs Jahren auf dem ehemaligen US-Airforce-Stützpunkt bei Los Angeles gelegt. Hier veranstaltete die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa), eine Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums, im November 2007 den Wettbewerb „Urban Challenge“. Für das Team, das als erstes einen 60 Meilen langen und in drei Missionen unterteilten Stadt-Parcours innerhalb von weniger als sechs Stunden absolviert, wurde von der Darpa ein Preisgeld von insgesamt 3,5 Mio. US-Dollar ausgeschrieben. Es war bereits die dritte Ausgabe des Wettbewerbs, bei dem Teams aus vier Kontinenten ihre Fahrzeuge ins Rennen schickten. Sie setzten sich aus Hochschulen, Unternehmen der Automationsbranche sowie der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zusammen. Auch die FU Berlin war mit dem „MadeInGermany“-Vorgänger „Spirit of Berlin“ – einem umgebauten Dodge Caravan – dabei. Das Team schaffte es jedoch nicht ins Finale der besten Elf.
Trotz des Ausscheidens bei der Urban Challenge gab der Wettbewerb den Berlinern den Anstoss, das Projekt weiter voranzutreiben. Denn Autos, die ihre Umgebung wahrnehmen, Hindernisse und Verkehrssituationen automatisch erkennen können, werden aus Sicht der Wissenschaftler das Bild der Stadt in den nächsten Jahrzehnten radikal verändern. So sollen autonome Fahrzeuge beispielsweise das Konzept des Carsharings verbessern: Fahrerlose Taxen könnten Passagiere vor der Haustür abholen, zur Arbeitsstelle bringen und anschließend weitere Passagiere befördern. Dadurch könnte eine Stadt wie Berlin mit nur einem Fünftel des heutigen Autobestands auskommen, so die Forscher. Autos, die über ihre Sensorik Passanten oder andere Verkehrsteilnehmer erkennen, würden zudem besser reagieren als der Mensch, der oft durch Unaufmerksamkeit oder Müdigkeit Unfälle verursacht. Auch in München, Karlsruhe und Braunschweig werden ähnliche Konzepte – teilweise auch im Stadtverkehr – getestet. Deshalb ist Rojas überzeugt: „Fahrzeuge wie ‚MadeInGermany‘ werden die Art, wie wir uns in Städten bewegen, grundlegend verändern.“

Blick über den Tellerrand

USA
Zu den populärsten Projekten in den Vereinigten Staaten zählt das fahrerlose Auto des Internetkonzerns Google. Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Stanford University konnten die Google-Ingenieure die Darpa Grand Challenge 2005 gewinnen. Im vergangenen Jahr erhielt das Fahrzeug vom US-Bundesstaat Nevada die Lizenz für Tests auf öffentlichen Straßen. Die ersten Probefahrten mit dem modifizierten Toyota Prius sind nach Angaben des Unternehmens aus Mountain View erfolgreich verlaufen.
Italien
Wissenschaftler der Universität Parma legten im Jahr 2010 mit insgesamt vier autonomen Fahrzeugen eine 13 000 km lange Strecke von Rom nach Shanghai zurück. Die Autos waren nicht nur mit zahlreichen Sensoren ausgestattet, sondern wurden darüber hinaus von Elektromotoren angetrieben. Die Batterien der Fahrzeuge mussten regelmäßig nach zwei bis drei Stunden Fahrzeit aufgeladen werden. Trotzdem erreichte das Team um Prof. Alberto Broggi pünktlich die Weltausstellung in der chinesischen Metropole.
Singapur
Die Nanyang Technological University (NTU) und die JTC Corporation haben vor kurzem in dem Insel-Stadtstaat erste Straßentests mit einem fahrerlosen Elektrofahrzeug angekündigt. Ein achtsitziger Shuttlebus soll auf einer 2 km langen Strecke zum Einsatz kommen und innerhalb eines zweijährigen Projekts so optimiert werden, dass er sich sicher in den normalen Verkehr einfügt. Die Partner wollen zudem Lade- und Stromspeichertechnologien weiterentwickeln.
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