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In einer Minute zum fertigen Teil

Werkzeugbau ermöglicht wirtschaftliche Serienfertigung komplexer 3D-Composite-Werkstücke
In einer Minute zum fertigen Teil

Organobleche in einem Schritt umformen, fügen und funktionalisieren – das ist mit den neuen Produktionsverfahren möglich. Nach weniger als 60 s entnimmt der Roboter dem Werkzeug ein fertiges CFK-Bauteil. Damit lassen sich hochfeste Carbon-Strukturteile in großen Serien wirtschaftlich herstellen.

Gerade kommt der BMW i3 auf den Markt, ein Auto, das konsequent für die Anforderungen der Elektromobilität ausgelegt ist. Der Leichtbau spielt dabei eine Schlüsselrolle. Die tragenden Komponenten des i3 bestehen aus Kohlefaser-verstärkten duroplastischen Kunststoffen. Sie geben der Struktur bei geringem Gewicht eine hohe Steifigkeit und Stabilität. Doch gegenüber Duroplasten haben thermoplastische Kunststoffe eine Reihe von Vorteilen. Sie sind

  • auch bei Standard-Umgebungsbedingungen nahezu unbegrenzt lagerfähig,
  • sie verursachen beim Verarbeiten weniger Verschmutzungen,
  • weil der Aushärteprozess entfällt, erlauben sie deutlich kürzere Zykluszeiten,
  • sie haben eine höhere Schlagzähigkeit,
  • sie sind umform- und
  • schweißbar und vor allem
  • sehr gut wiederzuverwerten.
Genug Gründe also, dass Material- und Prozessentwickler intensiv daran arbeiten, im nächsten Schritt faserverstärkte Thermoplaste wirtschaftlich in Serie zu verarbeiten.
In den letzten Jahren gab es zu diesem Thema diverse Forschungsprojekte. Einige davon sind bereits abgeschlossen und haben zu Ergebnissen geführt, die an der Schwelle zum Großserien-Einsatz stehen.
Das Ziel ist, hochpreisige Teile aus bislang aufwändig zu verarbeitenden Werkstoffen wie glas- oder kohlefaserverstärkten Kunststoffen wirtschaftlich in Serie herzustellen. Bei dem Prozess handelt es sich um eine Kombination aus Thermoformen und Spritzgießen. Die Verfahren unterscheiden sich zwar in der Peripherie, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass vorgewärmte Organobleche automatisiert ins Werkzeug eingelegt und dort in einem Arbeitsschritt umgeformt sowie mit Versteifungs- und Funktionselementen – etwa Lagerstellen oder Verschraubungen – versehen werden. Im Minutentakt entstehen so extrem steife und leichte Bauteile.
Eine der großen Herausforderungen für den Werkzeugbauer besteht darin, die bis zu 300 °C heißen, biegeschlaffen Halbzeuge absolut präzise in die Form einzubringen. „Außerdem müssen die Einleger im Werkzeug sicher fixiert sein, so dass sie sich beim Anspritzen der Funktionselemente nicht verschieben“, sagt Wolfgang Rauscher. Er ist bei der C. K. Siebenwurst GmbH & Co. KG in Dietfurt für die Bereiche Anwendungsberatung sowie Forschung und Entwicklung verantwortlich. Und Christian Götze, Leiter Entwicklung und Innovation bei der Georg Kaufmann Formenbau AG in Busslingen/Schweiz, ergänzt: „Entscheidend ist zudem, dass der Umformvorgang zuverlässig und reproduzierbar ist und keine Falten entstehen.“
Siebenwurst war unter anderem am Forschungsprojekt FIT-Hybrid beteiligt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und vom Projektträger Jülich begleitet wurde. Im Rahmen des Projekts, das von 2008 bis 2011 lief, entstand ein Werkzeug für eine Lehnenabdeckung des Audi Q5, das
  • das Umformen der Organobleche,
  • das Fügen,
  • das Aufblasen der Hohlkörper,
  • das Ausblasen der Füllmaterialien und
  • das Einbringen von Funktions- und Versteifungselementen
in einem Arbeitsschritt erledigt. „In weniger als zwei Minuten kommt dabei ein fertiges Bauteil aus dem Werkzeug, das keinerlei Nacharbeit bedarf“, berichtet Rauscher.
Obwohl der Prozess funktioniert und das Bauteil deutliche Vorteile gegenüber einem konventionell hergestellten bietet, fertigt Audi die Teile derzeit noch aus Stahl. Rauscher begründet: „Momentan fehlen noch die Materialkarten, die den Konstrukteuren helfen, die Bauteile so auszulegen, dass deren Festigkeit und Haltbarkeit über die gesamte Lebensdauer sichergestellt sind. Aber alle Materialhersteller arbeiten intensiv an den noch fehlenden Daten.“ Die Serieneinführung sei nicht mehr aufzuhalten, ist der Werkzeugspezialist überzeugt.
Auch Martin Stolorz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie (IPT) in Aachen, sieht in den noch unvollständigen Materialmodellen und der dadurch nicht genügend genauen Simulation der Umformprozesse von Organoblechen das Nadelöhr auf dem Weg zur Großserienfertigung. „Die derzeitigen Systeme lassen noch keine ausreichend exakte Simulation zu. Das erschwert die Prozessauslegung und die Methodenplanung.“ Die mechanische Herstellung der Umformwerkzeuge ist laut dem Forscher Stand der Technik.
Dass thermoplastische Organobleche ihren Weg in die Großserienfertigung finden werden, das bestätigt auch Christian Götze. Kaufmann hat im Oktober 2010 das Projekt Lipa (Lightweight Integrated Process Application) initiiert, das die Schweizer als Technologieentwicklung ohne definiertes Ende sehen. Als Industrieprojekt ohne staatliche Förderung schloss sich Lipa dem BMBF-geförderten Projekt SpriForm an, das von 2007 bis 2011 lief und das Umformen faserverstärkter Kunststoffe mit dem Spritzgießen in einem Werkzeug vereinen sollte. Das Resultat wurde auf der K-Messe 2010 präsentiert. „Wir erhielten damals großes Feedback aus der Industrie“, sagt Götze, „aber die Umsetzung scheiterte an einigen grundlegenden Fragen hinsichtlich der Bauteilgestaltung, der Materialsimulation und der Prozesstechnik.“ Auf die ersten beiden Punkte habe Kaufmann keinen großen Einfluss, deshalb „beschlossen wir, uns um die Prozesstechnik zu kümmern und sie im Rahmen von Lipa weiterzuentwickeln“.
Zusammen mit den Lipa-Partnern Kistler Instrumente, Krelus und Quadrant Plastics Composites hat Kaufmann eine Fertigungszelle aufgestellt, mit der die Schweizer offene Aspekte untersuchen und Lösungen finden wollen. „Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir Technologietage, in deren Rahmen wir Interessenten einladen, um ihnen die Möglichkeiten und Potenziale zu demonstrieren. Wir wollen zeigen, dass die Technologie prozesssicher beherrschbar ist“, erzählt Götze. Das Interesse sei groß. Material- und Sportgerätehersteller, Medizin-, Automobil- und Luftfahrttechniker waren bereits in Busslingen, um sich zu informieren.
Das Organoblech wird mittels Wasserstrahl zugeschnitten, der passende Einleger mittels Infrarot – je nach Matrix-Werkstoff – auf 220 bis 280 °C aufgeheizt und als biegeschlaffes Halbzeug von einem Roboter ins Werkzeug eingelegt. Oberflächlich betrachtet ähnle der folgende Ablauf dem klassischen Spritzgießen mit Einleger. Tatsächlich gehe er aber erheblich weiter, erläutert Götze. Mit der Schließbewegung des Werkzeugs wird das Halbzeug umgeformt. Dazu müssen die Einleger so fixiert, gehalten oder auch freigegeben werden, dass sie sich faltenfrei umformen lassen. Eine integrierte Wasserkühlung temperiert das Werkzeug konstant auf etwa 70 °C. Anschließend werden das Material konsolidiert, die Außenkanten mit Schmelze versiegelt, Versteifungsrippen und Funktionselemente angespritzt, „Bohrungen“ durch Umlenken der Fasern geformt und das fertige Teil vom Handling entnommen. Die Zykluszeit für den Hebel, dessen Fertigung Kaufmann zusammen mit dem Spritzgießmaschinen-Hersteller Arburg auf der K demonstrierte, lag deutlich unter 60 s.
„Aufgrund unserer über 20-jährigen Erfahrung mit biegeschlaffen Teilen in Spritzgießwerkzeugen hatten wir hier eine gute Basis“, erzählt Götze. Dieses Know-how lasse sich zwar nicht 1:1 übertragen, die Prozesstechnologie aber durchaus ableiten. Zu den Schwierigkeiten bei der Prozessführung gehöre auch, dass das Organoblech beim Schließen des Werkzeugs und damit beim Umformen noch warm genug sein muss.
„Die Faltenfreiheit der Bauteile hängt wesentlich von der zu erzeugenden Geometrie ab“, gibt Götze zu bedenken. Ein zu hoher Tiefziehgrad begünstige das Bilden von Falten. Das Ziel müsse daher sein, die Teilegeometrie für das Verfahren zu optimieren und so zu wählen, dass sich der Einleger faltenfrei formen lässt. „Das ist ein Wechselspiel zwischen Bauteil- und Prozessgestaltung“, unterstreicht der Werkzeugspezialist. Deshalb müssten von Anfang an alle beteiligten Disziplinen eingebunden sein – vom Teileentwickler über die Material- und Teilehersteller bis zum Werkzeugbauer und Automatisierer.
Götze betont, die verwendeten Grundkomponenten seien zwar am Markt verfügbar, „aber man muss wissen, bei welcher Anwendung welche Klemmtechnik am besten funktioniert, wo das Organoblech sicher fixiert werden muss und wo es Freiheitsgrade braucht“. Es gebe keine Lösung, die für alle Anwendungen passt, betont der Diplomingenieur. Wurde das Gewebe auf der K-Messe 2010 mit Nadelgreifern gehandhabt, so zeigten die Schweizer in diesem Jahr eine Lösung mit Vakuumgreifern. „Die Prozesstechnik muss zur Anwendung passen“, betont Götze. Entscheidend sei dabei die Schnittstelle zwischen dem Handling – quasi der Hand des Roboters – und dem Werkzeug. Handling und Werkzeug müssten stets anwendungsspezifisch ausgelegt werden.
Einen Schritt weiter als Lipa geht das ebenfalls BMBF-geförderte Projekt E-Profit, das noch bis Herbst 2014 läuft. Zum Jahresende soll das Versuchswerkzeug fertig sein, danach die Evaluierung des Thermoforming-Prozesses erfolgen. Anders als etwa beim Lipa-Prozess werden bei E-Profit die Halbzeuge nicht aus Standard-Organoblechen ausgeschnitten. Im ersten Arbeitsgang baut eine Faser-Legeeinheit den Einleger Belastungs- und Verschnitt-optimiert auf. Diese so genannten BVO-Organobleche bestehen aus übereinandergefügten, unidirektional endlosfaserverstärkten thermoplastischen Bändern. Sie erlauben den Aufbau endkonturnaher, multidirektional und multimateriell verstärkter Halbzeuge mit lokalen Aufdickungen und Aussparungen. Sowohl das Fasermaterial – es sind auch Kombinationen aus Glas-, Basalt-, Natur- oder Kohlefasern möglich – als auch der Legewinkel lassen sich individuell an den jeweiligen Belastungsfall anpassen. „Im Vergleich zu Bauteilen aus konventionellen Organoblechen können wir so das Gewicht um etwa 50 Prozent, den Verschnitt um 50 bis 75 Prozent und die Bauteilkosten um 30 Prozent reduzieren“, beschreibt Henning Janssen, Gruppenleiter der Abteilung Faserverbund- und Lasersystemtechnik am IPT den Nutzen. Zudem seien kleinere Umformradien möglich.
Allerdings kommt beim E-Profit-Prozess nicht ein exakt zugeschnittener Einleger ins Werkzeug. „Der geringe Materialüberstand ermöglicht uns, das biegeschlaffe Organoblech im Werkzeug einzuspannen, ohne mit Nadeln ins Gewebe greifen zu müssen, was ja bei einigen Anwendungen – etwa in der Luft- und Raumfahrttechnik – nicht erlaubt ist“, erläutert Janssen. Damit das Bauteil trotzdem fertig aus dem Werkzeug kommt, wurden Messer integriert. Mit Blick auf die Serienfertigung ist der Beschnitt im Werkzeug jedoch wenig sinnvoll. Durch die abrasive Wirkung des Materials verschleißen die integrierten Messer sehr schnell und ein Laser hätte unerwünschte thermische Einflüsse auf die Matrix. Martin Stolorz vom IPT favorisiert deshalb das Besäumen in einem zusätzlichen Arbeitsschritt auf einer Fräsmaschine.
„Eine der Herausforderungen beim Thermoformen besteht darin, dass die mechanischen und physikalischen Raumeigenschaften faserverstärkter Organobleche gesteuerte Fließprozesse, wie sie beim Metallumformen möglich sind, verhindern“, erläutert Stolorz. „Je nach Umformgrad und Faserorientierung nimmt deshalb die Gefahr der Faltenbildung deutlich zu.“ Gerade bei komplexen 3D-Formen werde es noch einige Zeit dauern, bis sich diese mit der hohen Form- und Maßtreue herstellen lassen, wie vom Metallumformen bekannt.
Der entscheidende Vorteil von Bauteilen aus Organoblechen liegt im Vergleich zu ihren Pendants aus hochfesten Stählen im Gewicht. Bei gleicher Dicke und ähnlichen mechanischen Eigenschaften sind sie um 60 bis 75 % leichter. Dazu kommt, dass so hergestellte Werkstücke bisherige Baugruppen durch einzelne werkzeugfallende Teile substituieren können. Die neuen Hochleistungsteile sind nicht nur leichter, sie können auch dünner, steifer und mit höherer Festigkeit ausgelegt werden. Die potenziellen Anwendungen sind extrem vielfältig.
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