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Ratterschwingungen erfolgreich abstellen

Biaxiale Hilfsmassendämpfer für Werkzeugmaschinen
Ratterschwingungen erfolgreich abstellen

Hilfsmassendämpfer als passive Systeme erhöhen die Dämpfung strukturmechanischer Systeme. An Werkzeugmaschinen verringern sie Resonanzüberhöhungen kritischer Eigenschwingungsformen. Am WZL der RWTH Aachen wurde ein Hilfsmassendämpfer für mehrere Schwingungsformen gleichzeitig ausgelegt, um die Werkzeugmaschinen zu stabilisieren.

Das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen hat in den letzten Jahren mehr als 300 Werkzeugmaschinen messtechnisch untersucht. Eingeschlossen sind hier Bearbeitungsversuche, Untersuchungen des statischen und dynamischen Nachgiebigkeitsverhaltens, Quasistatik- und Modalanalysen. Die gemachten Erfahrungen führen zu dem Schluss, dass bei der Entwicklung von Werkzeugmaschinen häufig kein hinreichend guter Kompromiss zwischen Steifigkeit der Maschinenstruktur und Antriebsdynamik gefunden werden kann.

Viele untersuchte Maschinen weisen deutliche Resonanzüberhöhungen im dynamischen Nachgiebigkeitsverhalten auf, die meist auf Strukturschwachstellen zurückzuführen sind. Noch ist die gesicherte Vorhersage der tatsächlichen Resonanzüberhöhung aufgrund der nicht hinreichend genau bestimmbaren Dämpfungseigenschaften von Struktur- und Koppelelementen nach dem heutigen Stand der Technik – etwa bei Simulationen – nicht möglich. Umso notwendiger ist es, nach der Inbetriebnahme einer Werkzeugmaschine die Prozess-Maschine-Interaktion weiter optimieren zu können. Heute werden drei wesentliche Ansätze unterschieden:
  • Prozessseitige Optimierung
  • Konstruktive Optimierung
  • Dynamische Zusatzsysteme
Je nach Lebenszyklusphase einer Werkzeugmaschine haben alle drei Ansätze ihre Vor- und Nachteile mit Blick auf ihre Kosten und ihren Nutzen.
Als passives Zusatzsystem findet bei Werkzeugmaschinen im Wesentlichen der Hilfsmassendämpfer (HMD) Anwendung. Bei diesem System wird eine Zusatzmasse über ein Feder-Dämpfer-Element an die Maschinenstruktur gekoppelt. Durch die relative Geschwindigkeit zwischen Maschine und Zusatzmasse kann in dem Dämpfungselement (beispielsweise Kautschuk) Schwingungsenergie in Form von Wärme dissipiert werden. Die Auslegung solcher HMD folgt prinzipiell dem Vorgehen im obigen Bild.
Bei der Definition der Zielfunktion zur Auslegung eines HMD muss zwischen fremderregten und selbsterregten Schwingungen unterschieden werden. Bei fremderregten Schwingungen, etwa durch den Messereingriffsstoß in einem Fräsprozess, sind die auftretenden relativen Verlagerungen zwischen Werkzeug und Werkstück direkt von der Amplitude des gerichteten Nachgiebigkeitsfrequenzganges der Werkzeugmaschine abhängig. Bei selbsterregten Schwingungen und insbesondere beim Regenerativeffekt, auch bekannt als „Rattern“, ist vielmehr der Realteil des gerichteten Nachgiebigkeitsfrequenzganges entscheidend. Nach der messtechnischen Untersuchung der Maschine und damit einer Klärung zur Art der Erregung, dem dynamischen Nachgiebigkeitsverhalten der Maschine und der kritischen Schwingungsformen, kann der Hilfsmassendämpfer über analytische Gleichungen ausgelegt werden.
Professor Manfred Weck schlägt in seinem Fachbuch „Werkzeugmaschinen – Messtechnische Untersuchungen und Beurteilung, dynamische Stabilität“ (Springer-Verlag, 2006) vor, wie bei der Auslegung von HMD vorzugehen ist, mit dem Ziel, die Resonanzüberhöhung bei Störungen im Bearbeitungsprozess durch Fremderregung zu minimieren.
Im ersten Schritt wird die zu bedämpfende Resonanzstelle als Einmassenschwinger approximiert. Anschließend muss eine zulässige maximale Resonanzhöhe durch den Ingenieur definiert werden. Im Folgenden lassen sich dann die nötige Hilfsmasse sowie die optimale Steifigkeit und Dämpfung des Koppelelementes bestimmen. Übliche Massenverhältnisse von Hilfsmasse zur schwingenden Masse liegen im Werkzeugmaschinenbereich bei 20 %.
Im Fall der Selbsterregung schlagen die Autoren dieses Beitrags ein analoges Verfahren vor, um die Parameter des HMD für eine Reduktion des negativen Realteils optimal auszulegen. Sie empfehlen den Einbezug der unteren und oberen Residuen bei der Approximation der kritischen Resonanzstelle, wodurch direkt das Masseverhältnis berechnet werden kann, bei dem der Realteil für das schwingende System bei jeder Frequenz um die zu bedämpfende Resonanzstelle größer gleich Null wird. Somit wäre eine Selbsterregung mit Hilfe des so ausgelegten passiven Systems ausgeschlossen.
Die analytischen Gleichungen zur Auslegung von Hilfsmassendämpfer können auch angewandt werden, wenn über einen HMD zwei entkoppelte richtungsunabhängige Schwingungsformen bedämpft werden sollen. Das nachfolgende Beispiel soll das Vorgehen für diesen Fall verdeutlichen.
Ausgangslage waren hörbare Schwingungen bei der Bearbeitung von Bauteilen mit dem im Bild oben schematisch dargestellten Bearbeitungszentrum. Die Schwingungen hinterließen auf dem Werkstück sichtbare Markierungen, die außerhalb der geforderten Qualitätsansprüche lagen. Das WZL der RWTH wurde beauftragt, Ursache und Lösungen für diese Schwingungserscheinung zu finden.
Im ersten Schritt konnten mittels Schwingungsmessung bei der Bearbeitung die dominanten Schwingungsfrequenzen (90 Hz und 105 Hz) ermittelt werden. Die detaillierte Auswertung der Messdaten im Frequenzbereich sowie die zusätzlich gemessenen Nachgiebigkeitsfrequenzgänge, die das darunterstehende Bild zeigt (Gxx & Gyy ohne HMD), bestätigten die Vermutung, dass es sich hier um Ratterschwingungen handelte. Abschließend konnten über die Modalanalyse die kritischen Schwingungsformen der Maschine identifiziert werden. Das obere Bild zeigt schematisch die zwei Schwingungsformen (X-Richtung: 90 Hz; Y-Richtung: 105 Hz). Der passive HMD war im Vergleich zur Konstruktions- oder Prozessoptimierung die einfachste und kostengünstigste Option. Dieser HMD musste jedoch in der Lage sein, zwei Schwingungsformen parallel zu stabilisieren. Nachdem der optimale Ort für einen solchen HMD gefunden war (siehe Kreuz im zweiten Bild), wurde auf Basis der Messdaten ein biaxialer HMD entwickelt, der aus einer Hilfsmasse und Feder-Dämpferelementen mit richtungsabhängigen Eigenschaften besteht.
Für die Ermittlung der optimalen Eigenschaften der beiden Feder-Dämpfer-Elemente ergibt sich demnach eine Kopplung zwischen den beiden Wirkrichtungen des HMD und somit eine zusätzliche Komplexität. Als konstruktive Randbedingung wurde die Hilfsmasse auf circa 10 kg begrenzt. Im unteren Bild sind die Ergebnisse nach der Montage des biaxialen HMD gezeigt: In X-Richtung konnte der negative Realteil um den Faktor 4.9 und in Y-Richtung um den Faktor 4.5 reduziert werden, wodurch die Bearbeitungsprozesse in beiden Richtungen erfolgreich stabilisiert wurde. Um den negativen Realteil weiter zu reduzieren, wäre der Einsatz einer größeren Hilfsmasse möglich. Für die Dynamik der Vorschubachsen wäre dies jedoch nachteilig.
Professor Christian Brecher, Stephan Bäumler, Birk Brockmann WZL der RWTH Aachen
Literaturverzeichnis: Brecher, C.; Guralnik, A.; Wissmann, M.; Berk, D.; Paluszek, H.; Schwenke, H.: Untersuchung der dynamischen Strukturverformung von Werkzeugmaschinen mit Tracking-Interferometern. Tagungsband: 16. GMA/ ITG-Fachtagung „Sensoren und Messsysteme“, AMA Service GmbH, Wunstorf, 2012, S.386-396 Brecher, C.; Bäumler, S.; Brockmann, B.: Hilfsmassendämpfer für Werkzeugmaschinen. wt Werkstattstechnik online, Jahrgang 103, Heft 5, ISSN 1436–4980, Springer-Verlag, Berlin, 2013, S. 395-401 Weck, M.; Brecher, C.: Werkzeugmaschinen – Messtechnische Untersuchung und Beurteilung, dynamische Stabilität. Springer-Verlag, Berlin, 2006
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