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Stromfresser abschalten und auswechseln

Mit cleveren Spartechniken reduziert die Automobil- und Zulieferindustrie Energie- und Materialverbräuche
Stromfresser abschalten und auswechseln

Neue Fertigungsmethoden und Techniken können den Energie- und Materialverbrauch in der Automobil- und Zulieferindustrie deutlich senken. Dabei kann es sinnvoll sein, etablierte Fertigungsprozesse schrittweise zu optimieren. Die größten Einsparungen sind allerdings dann möglich, wenn der Produktionsablauf vollkommen neu durchdacht wird.

Die neue, fünfstufige Servopressen-Straße im Presswerk des Leipziger BMW-Werks ist nicht nur stark, sondern auch schnell. Mit 9100 t Gesamtpresskraft und bis zu 17 Hüben pro Minute verarbeitet sie Stahlbleche zu Pressteilen, die später zur Außenhaut der Einer-Reihe von BMW zusammengesetzt werden. 70 Mio. Euro investiert der Automobilkonzern in die neue Anlage des Göppinger Pressenherstellers Schuler, der vor vier Jahren auch schon die erste Pressenstraße des Leipziger Werks aufgebaut hatte.

Bei diesen imposanten Anlagen kommt es zunehmend nicht nur auf Kraft, Genauigkeit und Geschwindigkeit an, sondern auch auf einen möglichst niedrigen Energieverbrauch. Schließlich benötigt schon die erste Pressenstraße jährlich 6500 MWh, um 6,4 Mio. Großteile herzustellen. Das sind immerhin 5 % des gesamten Stromverbrauchs im Werk, der 2012 bei 122 000 MWh lag. Dabei ist die erste Pressenstraße bereits mit einigen Energiesparfunktionen ausgerüstet, die Schuler in den vergangenen Jahren entwickelt hatte. Dazu gehört eine Pausenschaltung, die bei einem längeren Stillstand der Anlagen die unnötigen Stromfresser abschaltet: die Aggregate für Hydraulik, Schmierung und Kühlung. Mit einer solchen Pausenschaltung sinke die Leistungsaufnahme einer sechsstufigen Servo-Pressenlinie von 320 auf 12 kW, berichtet Schuler-Vorstand Joachim Beyer. Wenn die Anlage am Wochenende nicht laufe, lasse sich allein dadurch der jährliche Stromverbrauch um 7 bis 12 % senken.
Eine weitere Energiesparfunktion, die in der ersten Pressenstraße des Leipziger BMW-Werks schon eingesetzt wird, ist der generatorische Betrieb der Antriebsmotoren. Er macht es möglich, die Bremsenergie einzelner Pressen zu gewinnen. Sie entsteht, wenn die Stößel der Pressen abgebremst werden. Die Servomotoren, die zuvor die Stößel beschleunigt hatten, arbeiten dann als Generatoren und speisen den gewonnenen Strom in einen Gleichstrom-Zwischenkreis. Aus diesem Zwischenkreis werden die benachbarten, möglichst zeitversetzt arbeitenden Pressen angetrieben. „Damit können wir die Energie, die in einem Bereich über Bremsen gewonnen wird, der Nachbarpresse zur Verfügung stellen“, erklärt Beyer. Die Bremsenergie, die dann noch übrig bleibt, wird in einem Schwungrad gespeichert und so für spätere Leistungsspitzen verfügbar.
Den meisten Strom in einer Pressenstraße braucht allerdings das hydraulische Ziehkissen der ersten Operationsstufe. Das Ziehkissen hält das umzuformende Blech mit einer genau bemessenen Kraft, die darüber bestimmt, wie viel Material in die Form fließt. Allein dafür wendete eine Pressenstraße bisher 29 % ihres gesamten Stromverbrauchs auf. Deshalb haben sich die Schuler-Experten intensiv mit der Ziehtechnik beschäftigt. Das erste Ergebnis ist ein Energiespar-Ziehkissen, das durch eine verbesserte Konstruktion den Stromverbrauch des Ziehkissens bereits drastisch um 57 % senkt. Das entspricht Beyer zufolge einer jährlichen Stromkosten-Ersparnis von 80 000 Euro.
Von dieser Entwicklung soll nun auch das BMW-Werk Leipzig profitieren, in dessen zweiter Pressenstraße das Energiespar-Ziehkissen bereits eingesetzt wird. Weil hier auch eine Pressenstufe weniger arbeitet, rechnet die Werksleitung damit, dass die neue Anlage 10 bis 15 % weniger Strom verbrauchen wird als die erste Pressenstraße. Beyer ist sogar noch etwas optimistischer und erwartet Einsparungen von deutlich über 20 %.
Dabei geht die Entwicklung im Hause Schuler schon weiter. Der Pressenhersteller hat inzwischen die sogenannte stationäre Blechhalterung entwickelt, die gemeinsam mit der sogenannten Servo-Direkt-Technologie weitere Stromeinsparungen ermöglichen soll. Was im Laborbetrieb schon funktioniert, wird nun auch auf einem Prototypen im Erfurter Umformcenter erprobt. Das gesamte Energie-Einsparpotenzial, das sich in einem Karosserie-Presswerk mit bisher üblichen Anlagen erschließen lässt, beziffert Beyer mit 50 %. „Das erfordert natürlich weitere Entwicklungsarbeit.“
50 % Energieeinsparung – das war auch das Ziel der im Jahr 2010 gestarteten Innocat Innovationsallianz „Green Carbody Technologies“ (Grüne Karosserie-Technologien), an der sich Schuler beteiligt hatte. In diesem Verbund-Forschungsprojekt arbeiteten 60 Partner aus der Automobilindustrie, der Stahl- und Zulieferindustrie sowie der Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) an Lösungen, wie Fahrzeugkarosserien umweltgerechter und ressourcenschonender als bisher produziert werden können. Die Ergebnisse ließen sie in eine „virtuelle Referenzfabrik“ einfließen, die aus Werkzeugbau, Karosseriebau, Presswerk und Lackiererei besteht.
Die Bilanz des 2012 abgeschlossenen, mit 15 Mio. Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts ist auf den ersten Blick ernüchternd: Mit den bearbeiteten Projekten lasse sich der Energieeinsatz in einer Referenzfabrik um 10 % senken, resümiert Innocat-Projektleiter Prof. Dr.-Ing. Matthias Putz. Allerdings weist der Hauptabteilungsleiter Produktionsmanagement beim Fraunhofer IWU auch darauf hin, dass von den ursprünglich geplanten 60 Teilprojekten nur 30 bearbeitet werden konnten. Für die übrige Hälfte der Teilprojekte hätten die Fördermittel nicht ausgereicht. Putz geht davon aus, dass das erschließbare Energiesparpotenzial sonst deutlich höher liegen würde. „Einige Projekte sind von den Unternehmen auch ohne Fördermittel bearbeitet worden“, sagt der Projektleiter. „Über die Ergebnisse haben wir aber noch keine Informationen. Sie werden oft als Firmengeheimnisse behandelt.“
Einige Ansätze von Innocat finden sich inzwischen in einem langfristig angelegten FhG-Zukunftsprojekt wieder: der energie- und ressourceneffizienten Produktion in einer weitgehend emissionsneutralen Fabrik, in deren Abläufe der Mensch ergonomisch eingebunden ist. In dieser „E3-Fabrik“ wollen die Forscher bisher bestehende technologische Grenzen überwinden, neue Produktionssysteme und Organisationsformen schaffen. Dabei müssen viele Fertigungsverfahren optimiert oder sogar ausgetauscht werden.
So lassen sich etwa spanende Produktionsmethoden durch Umformprozesse ersetzen. Frank Treppe, FHG-Abteilungsleiter Forschungspolitik, nennt als Beispiel das Kaltwalzen bei der Zahnrad-Herstellung, das die Zerspanung bereits in einigen Bereichen ablösen kann. „Dieser Prozess, ein Zahnrad umformtechnisch herzustellen, geht viel schneller und materialsparender“, erklärt Treppe. „Er bringt sicherlich noch nicht die Genauigkeit, die für das Sechsganggetriebe erforderlich ist. Aber ich denke, für den Rückwärtsgang reicht die Qualität schon.“ Gewalzte Zahnräder haben seiner Ansicht nach den Vorteil, dass sie über eine höhere Tragfähigkeit und Festigkeit verfügen. Seine Vision ist, dass eines Tages Zahnräder nur noch in Walzprozessen hergestellt werden.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, welche Material- und Energieeinsparungen mit besseren Fertigungsverfahren möglich sind, liefert der Weinheimer Dichtungsspezialist Freudenberg. Das Unternehmen fertigt jährlich über 200 Mio. Simmerringe für Kunden in der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und einer Vielzahl weiterer Branchen. Jeder Simmerring besitzt ein Trägerteil aus Stahl, das ganz oder teilweise von einem Elastomer ummantelt ist. Bis 2010 wurden diese tragenden Blechringe ausschließlich auf Band- oder Stufenpressen aus breiten Stahlbändern gestanzt. Beim Stanzen entsteht verfahrensbedingt Abfall: das Stanzgitter sowie die ausgestanzte Ronde in der Blechmitte.
Um diesen Abfall zu vermeiden, hat Freudenberg die Schmalband-Umform-Laserschweiß-Technologie (SUL) entwickelt, die Stanzen durch Schweißen ersetzt. Ausgangsmaterial ist hier ein Schmalband, das über Rollbiege-Einheiten gerollt, per Laser abgetrennt und anschließend vom gleichen Laser direkt zu Ringen verschweißt wird. Dabei fallen keine Stanzabfälle mehr an, der Materialnutzgrad liegt bei nahezu 100 %. Die SUL-Anlage arbeitet fast vollständig abfallfrei und reduziert den Materialeinsatz um durchschnittlich 73 % im Vergleich zum konventionellen Stanzprozess. Damit spart sie nach Angaben des Unternehmens jährlich 1800 t Stahl – und damit auch große Mengen Energie, die für die Produktion dieser Stahlmenge nötig wären.
In eine ähnliche Richtung bewegt sich der Chemnitzer Werkzeugmaschinenhersteller Niles-Simmons. Er hat ein horizontales Bearbeitungszentrum N20 für den Maschinenbau, die Automobilindustrie und die Luftfahrtindustrie entwickelt, in dem zahlreiche Energiespartechniken angewandt werden. Dazu gehören Volumenstrom-geregelte Antriebe, verbrauchsoptimierte mechatronische Baugruppen und die Reduzierung bewegter Massen. „Im Vergleich zur Vorgänger-Maschine haben wir etwa elf Prozent Energieeinsparung realisiert“, fasst Technik-Geschäftsführer Dr. Bernhard Pause das Ergebnis zusammen. Bei einer Trockenbearbeitung soll der Leistungsbedarf für ein typisches Werkstück sogar um 20 % sinken. Hinzukommen könnte noch eine Wärmerückgewinnung, mit der ein zusätzliches Energiesparpotenzial von zehn Prozent erschließbar ist, falls die Einsatzbedingungen beim Kunden das erlauben.
Mit der N20 hat Niles-Simmons auch damit begonnen, bei der Kurbelwellen-Bearbeitung einzelne, energieaufwendige Bearbeitungsschritte durch weniger aufwendige Schritte zu ersetzen. „Wir ersetzen teilweise Fräsbearbeitungen durch Dreh- und Drehräumverfahren“, erklärt Pause. Neben der Energieeinsparung werde damit auch eine höhere Genauigkeit am Werkstück erreicht. Das Chemnitzer Unternehmen kann auch schon das aufwendige und energieintensive Induktivhärten von Lagerstellen durch das sparsamere und genauere Festwalzen ersetzen. Die dafür nötigen Festwalz-Einrichtungen bietet es bisher auf zusätzlichen Spezialmaschinen an. „An der Integration dieser Verfahren in die N20 wird momentan gearbeitet“, berichtet der Geschäftsführer.
Energieeffiziente Maschinen und Anlagen sind oftmals in der Anschaffung teurer als andere, rechnen sich aber über ihre Nutzungsdauer. Darauf hin weist Naemi Denz, Geschäftsführerin für Technik des Branchenverbands VDMA. Doch nach ihren Erkenntnissen berücksichtigen erst 15 % der produzierenden Unternehmen die Lebenszyklus-Kosten, wenn sie sich für eine Investition entscheiden. „Ein geringer Wert, der es nicht einfach macht, am Markt verfügbare Technologien durchzusetzen“, findet sie.
Mitunter denken aber auch die Anwender schon weiter als die Maschinenlieferanten. So suchte der Chemnitzer Kleinserienproduzent und Prototypenbauer BMF nach einer Lösung, wie kleine Werkstücke in geringen Stückzahlen zuverlässig sandgestrahlt werden können. Bei seinem Dienstleister geschah das in zeit- und energieaufwendiger Handarbeit, die zudem oft recht unterschiedliche Resultate brachte. Deshalb entwickelte die BMF GmbH, deren Gründer über Erfahrungen im Maschinenbau verfügen, die Strahlanlage Twister. Unterstützt wurden sie dabei vom Steinbeis-Innovationszentrum Antriebs- und Handhabungstechnik im Maschinenbau, und gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.
„Twister kann im Durchschnitt zehnmal so viele Werkstücke bearbeiten, wie das bisher mit handelsüblichen Handstrahlkabinen möglich war“, berichtet BMF-Geschäftsführer Ronny Bernstein. Die Stromkosten je Werkstück sollen sogar um 95 % auf 0,0018 Euro sinken. BMF will die Strahlanlage nun selbst in Kleinserie bauen und sich damit ein neues Geschäftsfeld erschließen. Dass die Anlage im Februar auf der Leipziger Maschinenbau-Messe Intec einen Preis gewann, sorgte schon einmal für Aufmerksamkeit.
Stefan Schroeter Freier Journalist in Leipzig

„Das erschließbare Potenzial ist bei allen drei ,E‘ noch denkbar hoch“

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Nachgefragt

Fraunhofer strebt eine Fabrik der Zukunft an, die auf den drei Säulen Effizienz, Emissionsneutralität und Ergonomie aufbaut. Wie würden Sie den gegenwärtigen Zustand dieser drei Säulen beschreiben?
Bei der Energie- und Materialeffizienz gibt es schon große Anstrengungen. Begonnen hat es etwa im Jahr 2007 mit einer Studie, in deren Folge ab 2010 eine erste Umsetzung im Rahmen des Innocat-Projekts erfolgte. Emissionsneutralität und Ergonomie, also die künftige Form der Einbindung des Menschen in die Produktion, sind noch junge, zusätzliche Säulen für den Systemansatz der E3-Fabrik.
Wenn jede dieser drei Säulen bis 2020 zehn Meter hoch werden sollte – wie hoch wären sie dann jetzt, gemessen an der aktuellen Situation der deutschen Industrie?
Bei der Einbindung des Menschen wäre die Säule wahrscheinlich ein bis zwei Meter hoch. Was die Emissionen betrifft, würde ich sagen: zwei bis drei. Und der Effizienzsäule würde ich drei Meter geben. Das erschließbare Potenzial ist bei allen drei „E“ schon noch denkbar hoch. Fraunhofer setzt hierzu aktuell ein großes Leitprojekt unter Führung des Präsidenten Professor Neugebauer auf. sts
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