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Für jedes Problem die richtige Schraube

Verbindungstechnik
Für jedes Problem die richtige Schraube

Der C-Teile-Spezialist Ferdinand Gross mit Sitz in Leinfelden bei Stuttgart findet eine Lösung für die Probleme seiner Kunden, wenn andere Großhändler schon aufgegeben haben.
Loctite ist der Industriekleber schlechthin. Er wird auch gerne auf das Gewinde von Schrauben verteilt, um die Verbindung sicherer zu machen. Wenn jedoch Thomas Erb die kleinen, roten Loctite-Fläschchen bei einem Kunden auf der Werkbank stehen sieht, wird er skeptisch. Der Geschäftsführer der Ferdinand Gross GmbH & Co. KG mit Sitz in Leinfelden bei Stuttgart stellt dabei nicht den Kleber in Frage, aber den Prozess. „Man kann nicht davon ausgehen, dass der Werker immer daran denkt, den Kleber aufzutragen“, weiß Erb aus Erfahrung. „Und hat er es getan, war es auch die richtige Menge?“
Genau deswegen hatte das Unternehmen Koenig & Bauer Probleme mit seinen Schrauben. Sie stellten keinen Kraftschluss mehr her. Obwohl der Mitarbeiter das Teil fest angezogen hatte, kam keine Verbindung zum Material zustande. Der Würzburger Druckmaschinenhersteller ist ein wichtiger Kunde von Ferdinand Gross und so dauerte es nicht lange, bis sich ein Techniker aus Leinfelden die Geschichte vor Ort anschaute. Und siehe da: Die Schrauben wurden mit Loctite präpariert und anschließend in eine sogenannte Sackloch-Bohrung eingedreht. Es stellte sich schließlich heraus, dass der Werker nach dem Prinzip „je mehr desto besser“ vorgegangen war. Er hatte jede Menge Kleber auf das Gewinde aufgetragen, der sich dann am Grund der Bohrung sammelte und diese teilweise füllte. Beim Eindrehen der Schraube war die Flüssigkeit irgendwann so stark komprimiert, dass weitere Umdrehungen nicht mehr möglich waren.
„Wenn wir sehen, dass der Kunde klebt, dann haken wir nach und schlagen vor, den Prozess noch einmal gemeinsam anzuschauen“, erzählt Erb. Nach einer solchen Runde entscheidet sich der Auftraggeber meist für eine zuverlässige Komplettlösung und ordert Schrauben mit einer klebenden Beschichtung. Solche Zusatzleistungen fasst Thomas Erb unter der Rubrik Anwendungsberatung zusammen. Und die wird bei Ferdinand Gross immer wichtiger. Dem Kunden reicht es nicht mehr, das richtige Produkt zur rechten Zeit in der richtigen Menge zu bekommen. Er erwartet zunehmend, dass ihn sein Lieferant bei der Lösung seiner Probleme planerisch und konstruktiv unterstützt.
Die Kässbohrer Geländefahrzeug AG ist so ein Kunde, der mehr erwartet als Schrauben und Muttern. Das Laupheimer Unternehmen dominiert den Markt der Pistenraupen mit einem Anteil von rund 50 %. Der Pistenbully, so werden die Modelle aus Oberschwaben umgangssprachlich genannt, ist ein Kettenfahrzeug. Die Kette besteht aus einem Aluminiumprofil, das an einem Gummigurt verschraubt wird. „Wenn sich das Fahrzeug bewegt, dann wirken an dieser Stelle enorme Drehmomente“, weiß Erb. Pistenraupen können dank ihres niedrigen Schwerpunkts und der großen Auflagefläche extreme Steigungen bewältigen. Dabei werden sie durch eine bis zu 1200 m lange Seilwinde unterstützt und zugleich gesichert. Die gewaltigen Kräfte, die während der Fahrt wirken, gehen voll auf die Schrauben, die die Kette zusammenhalten.
Das Gewinde der Schrauben, die hier zum Einsatz kommen, ist teilweise orange eingefärbt. In diesem Bereich, den man in der Fachsprache Prekote nennt, sind Mikro-Kapseln aufgebracht, in denen sich Klebstoff und Härter befinden. Beim Einschrauben in das Gewinde werden die Kapseln zerstört. Die beiden Stoffe werden freigesetzt und vermischen sich. Schließlich kommt es zu einer chemischen Reaktion, der Klebstoff härtet aus und es stellt sich die gewünschte Sicherungswirkung ein. Die Schraube kann nur einmal verwendet werden, aber das spielt bei dieser Applikation keine Rolle. Die Kette ist ein Verschleißteil, muss 6000 Stunden halten und wird dann komplett entsorgt. Danach beginnt das Spiel wieder von vorn. „Mit dieser Technik können wir die geforderte Sicherheit bieten“, so Erb. „Die Schraube darf sich auf keinen Fall lösen, denn dann bricht sie, die Kette fällt auseinander und der Fahrer gerät womöglich in Gefahr.“
Die Verbindungstechnik wirkt auf den ersten Blick trivial. Tatsächlich war es laut Erb nicht so einfach, das ganze Konstrukt mit dem Kunden so zu dimensionieren, bis alles gepasst hat. Vor knapp drei Jahren war die Schraube in ihrer aktuellen Version ausgereift und einsatzbereit. Es war klar definiert, wie viele Gewindegänge mit dem Kleber gefüllt werden. Zudem wurde der Füllgrad im Vergleich zur Vorgängerversion deutlich erhöht und die Einfärbung aus psychologischen Gründen von türkisgrün auf orange umgestellt. Die neue Farbe soll speziell Kässbohrer-Kunden in den USA beruhigen, die zuvor mit der türkisgrünen Varianten eines anderen Lieferanten schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Inzwischen setzen alle auf den neuen Look und sind davon überzeugt, dass mit der Kette alles klar ist, wenn sie von orangenen Schrauben zusammengehalten wird. „Von der Sorte liefern wir jedes Jahr zwei bis drei Millionen Stück und bislang ist alles gut gegangen“, freut sich der Schwabe.
Die deutsche Bahn ist mit 9 Mio. Euro Umsatz aktuell der größte Kunde von Ferdinand Gross und hat natürlich auch Erwartungen, die über ein zuverlässiges C-Teile-Management hinausgehen. Die Spezialisten aus Leinfelden versorgen das Unternehmen mit über 60 Mio. Teilen im Jahr. Die gelieferten Waren reichen von der Normschraube bis zum eigens konstruierten Spezialdrehteil und bleiben für den Fahrgast unsichtbar. Trotzdem ist ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen, denn ein üblicher Triebwagen wird von rund 24 000 Schrauben zusammengehalten. Die meisten dieser Kleinteile kommen aus Leinfelden. Geliefert wird über ein Kanbansystem, das die Verfügbarkeit von rund 10 000 kundenspezifischen Teilen in den mehr als 400 Kanban-Lagerorten sicherstellt. Mit diesem automatisierten C-Teile-Management konnten die Mobilitäts-Experten ihre Beschaffungskosten um 70 % drücken. Das war mit ein Grund, warum Ferdinand Gross zum zweiten Mal von der deutschen Bahn zum Lieferanten des Jahres in der Kategorie „Allgemeine Bedarfe und Leistungen“ gekürt wurde.
Aktuell geht der ICE der vierten Generation in den Probebetrieb und soll ein neues Kapitel im Fernverkehr einläuten. „Da sind wir komplett mit drin“, versichert Thomas Erb. „Für uns ist allerdings nicht der Bau des ICE interessant, sondern die regelmäßigen Wartungen.“ So werden nach knapp 300 000 km Laufleistung die Fahrmotoren, die Lager und Wellen der Radsätze sowie die Kupplungen geprüft. Einmal im Jahr nach rund 600 000 km stehen zusätzliche Prüfungen an den Luftpressern und der Trafo-Kühlung sowie Arbeiten im Fahrgastraum an. Nach 1,2 Mio. km werden alle weiteren Komponenten des Zuges untersucht und bei 2,4 Mio. km schließlich die Drehgestelle getauscht. Und bei all diesen Aktivitäten ist Ferdinand Gross mehr oder weniger beteiligt.
Thomas Erb kramt eine Schraube aus einem kleinen Vorrat heraus, den er zu Demo-Zwecken auf seinem Schreibtisch in einem Glas hortet. „Wenn die Schraube bricht, fällt beim ICE das Rad ab“, versichert er und fixiert das Teil mit ernster Miene. Mit einem Mal werden die Bilder von Eschede wieder lebendig. „Aber keine Angst“, beruhigt der Manager. „Wegen dieser Schraube wird kein Zug entgleisen.“ Es handelt sich um eine sogenannte Klasse-100-Schraube, die im Außenbereich zusätzlich gehärtet ist. Die Rippen des Gewindes sind so robust, dass sie das Gegenmaterial verformen und sich dort im wahrsten Sinne des Wortes hineinfressen. Die Vibrationen des fahrenden Zuges müssten also nicht nur die Vorspannung der Schraube, sondern zusätzlich die fest gebackenen Rippen überwinden, um die Verbindung zu lösen. „Das ist schlicht und ergreifend unmöglich“, versichert Erb. Mit einem kulinarischen Vergleich will der Geschäftsführer noch einmal unterstreichen, dass die Schraube nur an der Oberfläche gehärtet und nicht durchgehärtet ist. „Es ist wie bei einem guten Steak – wenn man es durchbrät, ist es kaputt.“
Ende letzten Jahres hatten die Schwaben noch einmal richtig Stress. Auslöser war der Autobauer Porsche, der ein akutes Problem hatte und dieses an seinen Zulieferer, die BOS Baumeister & Ostler GmbH & Co. KG, weitergab mit der Bitte um eine zügige Lösung. BOS ist ein Kunststoffverarbeiter und stellt unter anderem Kofferraumabdeckungen, Armlehnen, Sicherheitsnetze und Türgriffsysteme her. Außerdem ist BOS ein guter Kunde von Ferdinand Gross. Da ist es nur logisch, dass der Interieur-Profi den Druck ungefiltert an seinen Schraubenlieferanten weitergibt. BOS hat seinen Firmensitz in Ostfildern, keine 5 km von Leinfelden entfernt. Für eine spontane, persönliche Absprache war also gesorgt.
Das Problem des Sportwagen-Herstellers aus Stuttgart-Zuffenhausen war die Befestigung der Hutablage beim aktuellen Porsche Cayman. Beim Vorgängermodell war die Geschichte halbherzig mit einer Schraubverbindung gelöst, die nicht wirklich funktionierte. Das Ganze war eher eine nervige Fummelei. „Der Kunde kauft ein teures Auto und wenn er die Hutablage herausnehmen will kriegt er einen Hals“, bringt es Thomas Erb auf den Punkt.
Die Situation wurde noch etwas verschärft, weil die Spezialisten bei BOS das Pferd von hinten aufzäumten und erst mal einen eleganten Antriebsknopf aus Kunststoff entwickelten. Damit sollte der Porschefahrer später die eigentliche Schraube der Hutablage elegant lösen und wieder festdrehen können. Das Teil hatte ein ansprechendes Design und lag hervorragend in der Hand. An der Gegenseite war eine rechteckige Vertiefung vorgesehen, mit der die eigentliche Schraube gepackt wird. Fehlte eigentlich nur noch die Schraube mit einem passenden Aufsatz, der sich elegant in die Vertiefung des Designteils von BOS einfügt.
Die Herstellung der fehlenden Schraube war das Kernproblem der ganzen Geschichte. Die Herausforderung dabei war, das Teil an einem Stück und in einem Schritt zu fertigen. Ein anderer Lieferant hatte bereits eine Lösung angeboten, die allerdings aus mehreren Schritten bestand. Zuerst wurde die Schraube mit einem Schlitz hergestellt. In diesen Schlitz steckte man danach ein kleines Querstück, das auch genau in die Vertiefung der Kunststoff-Kreation von BOS passte. „Am Ende wurde die beiden Komponenten verklebt, verschweißt oder sonst wie verbunden“, beschreibt Erb den umständlichen Prozess. „So konnte das nichts werden, das passte einfach nicht zu Porsche“.
Am Ende hat Ferdinand Gross mal wieder die Kartoffeln aus dem Feuer geholt. Thomas Erb greift erneut in sein Glas, in dem sich der kleine Vorrat an Präsentations-Schrauben befindet, und wirft etwas lässig die Lösung des Porsche-Problems auf den Tisch: Eine kleine Schraube, die statt eines Schraubenkopfs ein winziges Querbälkchen hat. „Sieht wie immer unscheinbar aus“, bemerkt Erb richtig, nimmt den eleganten Antriebsknopf von BOS in eine Hand und steckt mit der anderen die kleine Schraube in den vorgesehen Schlitz. Passt wie angegossen. „Aber ganz so einfach war die Geschichte dann doch nicht“, betont der Manager. „Bei der Schraube handelt es sich um ein Kaltfließ-Pressteil und es gibt in Europa fast niemanden mehr, der so was macht.“ Erst im fernen China fanden die Schwaben ein Unternehmen, das in der Lage war, das geforderte Teil aus einem Stück zu fertigen.
Ende November letzten Jahres kamen die ersten 5000 Stück mit dem Flugzeug nach Stuttgart. Porsche wollte mit der Verschraubung im Dezember beginnen und hatte den Druck auf BOS kontinuierlich erhöht. „Das war mehr als just-in-time“, versichert Erb. Es folgte eine weitere Charge mit 10 000 Stück, ebenfalls mit dem Flieger. Im Januar kamen schließlich die richtigen Mengen auf dem üblichen Weg. „Luftfracht ist ein unvorstellbarer Luxus“, betont Thomas Erb. „Aber noch unvorstellbarer ist die Situation, dass wir nicht rechtzeitig liefern können.“
Eine gescheiterte Lieferung ist für Thomas Erb in der Tat der größte anzunehmende Unfall. Um den zu vermeiden, ziehen die Schwaben regelmäßig alle Register. In diesem Fall haben sie rechtzeitig ein Unternehmen in China gefunden, das bereit war, sich der Sache anzunehmen. Danach wurden viele Werkzeuge gebaut und noch mehr Versuche gefahren, bis das Teil endlich wie gewünscht gefertigt werden konnte. Das alles geschah unter Zeitdruck. „Und am Ende haben wir es auch noch geschafft, den Kunden fristgerecht zu beliefern, der dadurch Porsche rechtzeitig bedienen konnte.“
In der Zwischenzeit haben die Schwaben die ominöse Porsche-Schraube auf Lager und alles geht wieder seinen gewohnten Gang. Das winzige Teil wird in Zukunft kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen, weil es im Antriebsknopf von BOS steckt. Aber jetzt funktioniert endlich die Hutablage beim neuen Cayman, der Fahrer kriegt keinen Hals und alle sind glücklich.
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