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„Den Blick weiten, um Fehler zu vermeiden“

WGP-Präsident Prof. Eberhard Abele über den Stand der Einführung von Industrie 4.0
„Den Blick weiten, um Fehler zu vermeiden“

Als das Revolutionäre an Industrie 4.0 sieht Prof. Eberhard Abele nicht die Digitalisierung, sondern die Möglichkeiten, die sich durch das Vernetzen technischer Systeme in Echtzeit ergeben sowie die damit verbundenen Fortschritte für Produktivität und Transparenz. Abele ist Präsident der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP). ❧ Mona Willrett

Herr Prof. Abele, wo steht die produzierende Industrie Deutschlands heute in Sachen Industrie 4.0 und vernetzte Fertigung?

Angesichts der Breite und Vielfalt der fertigenden Industrie lässt sich das nicht generell beantworten. Je nach Branche und Art des Unternehmens kann die Antwort ganz unterschiedlich ausfallen. Die Hersteller von Aktoren, Sensoren und Automatisierungssystemen beispielsweise haben eine wichtige Vorarbeit geleistet und eine gute Basis geschaffen. Bis sich deren Angebote aber auch in der Breite bei den Anwendern etabliert haben, gibt es noch einiges zu tun.
Im Juni hat die WGP ihr Standpunktpapier Industrie 4.0 veröffentlicht. Welche Ziele verfolgt die Gesellschaft damit?
Wir als WGP haben die Sorge, dass sich die in Deutschland traditionell sehr starke Produktionstechnik – eine Grundlage für Beschäftigung und Wohlstand – nicht mehr ausreichend im Blickfeld von Politik und Öffentlichkeit befindet. Dieser Entwicklung wollen wir entgegenwirken. Unser Standpunktpapier soll aus neutraler Sicht sowohl den Handlungsbedarf als auch die enormen Potenziale aufzeigen, die mit Industrie 4.0 verbunden sind. Die bisherigen Stellungnahmen zeigen vor allem die Sichtweise von Informatikern und Unternehmensberatern. Um Fehlsteuerungen zu vermeiden, müssen wir die Diskussion unbedingt um den Blickwinkel der Fertigungstechnik erweitern. Außerdem sehe ich gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen oft noch eine große Zurückhaltung bei diesem Thema. Ihnen wollen wir die Potenziale aufzeigen und einen Leitfaden an die Hand geben, mit dessen Hilfe sie Schritt für Schritt zum ‚Nordstern Industrie 4.0‘ kommen können. Diese Reise ist für kleine Unternehmen genauso zu schaffen wie für Großkonzerne.
Seit Jahren ist Industrie 4.0 Hype-Thema. Trotzdem beschäftigt sich laut dem Standpunktpapier nur ein Zehntel der deutschen Betriebe ernsthaft damit. Woran liegt das?
Wesentliche Gründe dafür liegen wahrscheinlich in den Erfahrungen mit der CIM-Kampagne und reichen damit bis in die 1980er-Jahre zurück. Mittlerweile ist die Leistungsfähigkeit der Datenverarbeitungssysteme und die Vernetzung über das Internet jedoch enorm gestiegen. Außerdem haben die Beteiligten aus den damaligen Fehlern gelernt. Im Zentrum steht heute nicht mehr das technisch Machbare, sondern der ganz reale Nutzen fürs jeweilige Unternehmen – etwa hinsichtlich Kosten, Qualität, Prozesseffizienz oder Produktivität. Wir müssen die Potenziale dieser Technologie aufzeigen, beispielsweise in konkreten Musterfertigungen. Erst dann werden viele Unternehmen bereit sein, eine individuell für sie passende Lösung zu erarbeiten. Und das ist nötig, weil jeder Betrieb seine eigenen Strukturen und Prozesse hat und sich auch die Mitarbeiter-Qualifikation unterscheidet.
Welche Unternehmen können besonders von digitalisierten Prozessen profitieren?
Profitieren kann jeder – vom Einzelhersteller bis zum Großserienfertiger, vom Kleinstbetrieb bis zum Großkonzern.
Welche Chancen bietet Industrie 4.0 gerade kleinen und mittleren Betrieben?
Die sind vielfältig. Das fängt bei der vorausschauenden Wartung an, die es ermöglicht, kritische Anlagenzustände frühzeitig zu erkennen und Instandhaltungsarbeiten so zu organisieren, dass sie den Betrieb möglichst wenig stören. Weitere Themen sind die effiziente Produktions- und Personalsteuerung, transparente Prozesse oder die Möglichkeit, Produktionszustände einfach und von überall aus zu überwachen und zu steuern. Materialströme oder Betriebskosten lassen sich unkompliziert und schnell analysieren und optimieren. Jedem Mitarbeiter stehen genau die Daten zur Verfügung, die er gerade braucht. Dabei ist gesichert, dass sich die Informationen stets auf dem aktuellen Stand befinden. Und wenn wir an Unternehmensnetzwerke denken – verdoppelt sich die Teilnehmerzahl, so vervierfachen sich die möglichen Verknüpfungen und damit der Nutzen.
Laut WGP-Standpunkt stimmt es nicht, dass die nötige Technik bereits vorhanden ist und nur noch entsprechend vernetzt werden muss. Was fehlt noch?
Wir brauchen vor allem Schnittstellenstandards, mit deren Hilfe sich die einzelnen Systeme und Komponenten ohne großen Aufwand vernetzen lassen. Das muss auch ohne tiefgreifende Informatikkenntnisse möglich sein. Ein weiteres zentrales Thema ist die Datensicherheit. Hier ist technisch schon eine Menge passiert, aber vielen Mitarbeitern in den Unternehmen fehlt das nötige Wissen, wie man mit diesen Systemen umgeht. Deshalb brauchen wir unbedingt neue Qualifizierungsstandards. Wenn wir Industrie-4.0-Vorzeigenation werden wollen, gibt´s noch einiges zu tun. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die großen Internet-Unternehmen vorwiegend in den USA sitzen. Eine Frage wird sein: Welcher Teil der Vernetzung bietet künftig den größeren Hebel – die Internetbasis oder unser Produktions-Know-how?
Wo liegen die Herausforderungen und Risiken bei der Umsetzung?
Jedes Unternehmen hat heute digitale Systeme im Einsatz, die jedoch vielfach nicht kompatibel sind. Diese Welten zu verknüpfen, geht nicht auf Knopfdruck. Man muss sehr genau überlegen, wie sich das sinnvoll und mit überschaubarem Aufwand umsetzen lässt. Aber inzwischen gibt es technische Lösungen und Software, die dabei helfen.
Welche Konsequenzen sehen Sie, wenn das Thema nicht vorangetrieben wird?
Der größte Fehler wäre, diesen Weg nicht mitzugehen. Wir befinden uns im globalen Wettbewerb. Um hier auch künftig bestehen zu können, müssen wir unsere Leistungsfähigkeit und unsere Kostenstrukturen weiter optimieren. Digitale, vernetzte Prozesse helfen dabei, nötige Änderungen schnell zu erkennen und effizient umzusetzen. Andererseits wäre es töricht zu glauben, allein Industrie 4.0 erhalte unsere Wettbewerbsfähigkeit. Tolle Produkte, ein guter Vertrieb und perfekter Service sind weiter zentral.
Wo kann und wo muss die Politik helfen?
Wir brauchen einen umfassenden, schnellen Ausbau der Infrastruktur – sowohl für die Datenverarbeitung als auch für die Energieversorgung und das Transportwesen. Es gilt, die Spitzenforschung auszubauen, die Aus- und Weiterbildung zu fördern und an den neuen Bedarf anzupassen sowie die Gesellschaft allgemein für die digitale Transformation zu sensibilisieren. Außerdem müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen – auch international – geschaffen werden.
Wo sehen Sie die Forschung gefordert?
Das Thema Sicherheit wird uns noch eine ganze Weile begleiten. Wir müssen neue Geschäftsmodelle entwickeln und aufzeigen, wie sich diese in die Praxis umsetzen lassen. Und wir müssen Musterlösungen etablieren, die den Nutzen transparent machen und Unternehmen motivieren, selbst aktiv zu werden. Dazu brauchen wir Lernfabriken für unterschiedliche Branchen.
Wie ändern sich die Anforderungen an die Entscheider und Mitarbeiter im Betrieb?
In Führungspositionen werden zunehmend Generalisten mit einem breiten Blick über die gesamte Prozesskette gefragt sein. Visionäre, die neue Möglichkeiten und Wege erkennen, werden bei strategischen Entscheidungen die Nase vorn haben. Aber das geht nicht nebenbei. Diese Leute brauchen auch den nötigen Freiraum. Bei den Mitarbeitern wird keine Berufsgruppe an IT-Themen vorbeikommen. Wir brauchen Berufsbilder, die sowohl die klassischen Disziplinen berücksichtigen als auch die neuen. Mechatroniker sind ein gutes Beispiel dafür.
Wie können interessierte Unternehmen schnell relevante Informationen finden?
Hier gibt es keinen Königsweg. Neben guten Seminaren bieten Fachkongresse oder der Besuch von Lernfabriken viele Einblicke. Auch Gespräche mit Komponentenherstellern oder Kollegen können helfen. Auf alle Fälle sollte man sich aber darüber im Klaren sein: Das ist kein Kurzzeitprojekt! Man sollte durchaus eine Strategie für einen Zehnjahres-Zeitraum entwickeln und diese dann konsequent verfolgen.

WGP in Kürze
Die Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP) ist ein Zusammenschluss führender deutscher Professoren von 40 Forschungsinstituten. Sie vertreten rund 2000 Wissenschaftler und sind weltweit vernetzt. Die WGP vertritt die Belange von Forschung und Lehre gegenüber der Politik, der Wirtschaft und der Öffentlichkeit.
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