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Partikel – nein danke

Montagesauberkeit: Strategien gegen schädliche Mini-Teilchen
Partikel – nein danke

Sie sind wie kleine Meteoriten, die verheerende Schäden in hochwertigen Systemen anrichten: Partikel, die 500, 200 oder auch nur 100 µm groß sind. Ihre Gefährlichkeit ist in der Automobilindustrie bekannt, anderswo kaum. Doch jetzt gibt es Wege, sie mit bezahlbarem Aufwand fern zu halten.

Eine Palette voll Normschrauben für Mexiko, made in Germany: das gab es schon lange nicht mehr. Derartige Standardprodukte werden heute in Niedriglohnländern gefertigt und von dort weltweit exportiert. In Forchtenberg-Ernsbach bei der Arnold Umformtechnik GmbH & Co. KG hingegen sind solche Paletten wieder häufiger anzutreffen. Mit ihnen hat es eine besondere Bewandnis: Arnold liefert die Schrauben mit einer garantiert niedrigen Zahl an Restschmutz-Partikeln, aufgeschlüsselt nach Größenklassen bis hinunter zu 100 µm. Und diese Fügeteile sind so raffiniert verpackt, dass auf dem weiten Weg bis ins Bauteil nur ein Minimum neuer Störpartikel entstehen oder von außen hinzu kommen können – vorausgesetzt, die Beutel werden richtig angefasst und geöffnet.

Dass solche Schraubenlieferungen nötig werden, ist letztlich ein Leistungserweis für die deutsche und europäische Industrie, insbesondere der Automobilindustrie. Ihr ist es gelungen, so viel Leistung und Funktionalität auf engstem Raum zusammen zu packen, dass schon 100 µm große Partikel zu Schäden oder Systemausfällen führen können, wenn sie an der falschen Stelle aufkreuzen. Noch vor 20 Jahren hätten die Staubkörnchen nichts anrichten können. Heute ist „technische Sauberkeit“ zum Qualitätskriterium geworden.
Warum, erklärt Björn von Willmann an Beispielen. Er ist Sauberkeitsexperte bei Continental, Division Powertrain, im Bereich der Common-Rail-Dieseleinspritzsysteme. „Unsere Injektoren und Hochdruckpumpen besitzen teilweise sehr geringe Spaltmaße, die stellenweise nur wenige Mikrometer betragen. Bei Einspritzdrücken von bis zu 2000 bar können Partikel mit kritischer Größe und Härte die Spaltmaße durch Reibung aufweiten.“ In der Folge leidet die Einspritz-Performance – was noch eine vergleichsweise harmlose Konsequenz ist. Dramatisch wirkt sich dagegen das Störungs-Beispiel aus, das Willmann als „schlimmsten anzunehmenden Ausfall“ bezeichnet: „Ein Partikel blockiert das System so, dass der Injektor nicht mehr schließt und eine Dauereinspritzung die Folge ist. Dies kann zu einem Motorschaden aufgrund Überhitzung führen.“ Ein Fall, der sich bei Continental jedoch noch nicht ereignet habe.
Was nicht heißt, dass vergleichbare Schäden im Fahrzeugbau nie vorkommen. Da solche Fälle primär in der Endabnahme auftreten, dringen sie nicht bis zum Kunden durch.
„Die Problematik bezieht sich nicht nur auf die Dieseleinspritzung“, betont denn auch Christian Ernst, Wissenschaftler am Fraunhofer IPA. „Mittlerweile ist sie bei allen medienführenden Systemen relevant – und zwar mit steigender Relevanz.“ Durch die fortschreitende Miniaturisierung sind inzwischen eine Vielzahl von Systemen von Sauberkeitsanforderungen betroffen: vom Ansaugtrakt über die Ölkreisläufe und das Kraftstoffsystem bis hin zum Bremssystem, den Kühl- und Klimakreisläufen, der Lenkung und dem Abgassystem.
Für die Montage von Elektroniken gilt ähnliches, weil die Pitchabstände zwischen den Leiterbahnen immer kleiner werden. Leicht vorzustellen: Legt sich ein 200 µm großes Metallpartikel auf zwei nur 50 µm voneinander entfernte Leiterbahnen, löst es einen Kurzschluss aus. Umgekehrt kann ein nichtmetallisches, isolierendes Partikel einen elektrischen Kontakt unterbinden. Denn nicht alle elektronischen Komponenten sind mit Schutzüberzügen gegen Restschmutz versiegelt.
Der Aufwand, den die Automobilhersteller und Zulieferer betreiben müssen, ist teilweise immens. Und das hat seinen Preis. So montiert Continental Automotive die Einspritzkomponenten im Reinraum. Aufwendige Klimatisierungs- und Filteranlagen kontrollieren die Luft und entziehen ihr alle Partikel, die größer als 5 µm sind. Die Werker müssen Reinraumkleidung tragen und sich regelmäßig schulen lassen. Die angelieferten Einzelteile werden gewaschen und zum Beispiel in so genannten „Pizzawägen“ mit gekapselten Schubfächern zur Montage im Reinraum gefahren.
Auch die Spezifikation der Sauberkeitsanforderungen wird bei dem Zulieferer von Einspritzsystemen immer präziser, nicht zuletzt aufgrund der sich ständig verbessernden Analysemöglichkeiten: Zurzeit legen die Conti-Ingenieure für jedes Bauteil eine Obergrenze der Anzahl an Partikeln einer bestimmten Größe (genauer: Länge) fest. Der Trend geht jedoch dahin, diese Anforderungen „intelligenter zu formulieren“, wie Björn von Willmann sagt. Denn auch die Partikelbreite und -fläche spielen eine Rolle. Werden sie einbezogen, lassen sich die Anforderungen besser an die jeweiligen Funktionalitäten anpassen. Doch dies macht umfangreiche Tests notwendig – die Zusammenhänge sind komplex.
Seit 2001 arbeiten die Automobilisten intensiv in Industrieverbünden an dem Thema. Unter der Federführung des Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA widmete sich zunächst „TecSa“ (Technische Sauberkeit) der Sauberkeits-Messung. Die Ergebnisse mündeten in die Richtlinie VDA 19. Seit 2007 untersucht „MontSa“ (Montagesauberkeit) die Anforderungen in der Produktion und will die Resultate bis Ende des Jahres in den neuen Leitfaden VDA 19.2 einfließen lassen. Bei dem offenen Industrieverbund handelt es sich um 25 Unternehmen aus dem Automobilbau, dem überwiegend große Zulieferer wie Continental angehören, außerdem die Automobilbauer BMW, Daimler, MAN Nutzfahrzeuge und VW. Über diesen Kreis hinaus ist Know-how zur technischen Sauberkeit nur spärlich verbreitet. „Unser größtes Thema ist, dass es noch kein Thema ist“, konstatiert Markus Rochowicz vom Fraunhofer IPA, Projektleiter von MontSa.
Dabei steigen die Sauberkeitsanforderungen. Dies gilt auch für nachgeschaltete Zulieferer, die bisher wenig mit dem Thema zu tun hatten. „Wir erwarten von unseren Lieferanten ein definiertes Sauberkeitsniveau“, betont Continental-Experte Björn von Willmann. Das kann für manches Unternehmen problematisch werden, weil es die Fertigung umstellen muss. Und bevor sich geeignete Maßnahmen ergreifen lassen, sind intensive Messungen nötig – und dazu muss das Know-how erworben werden.
Peter Hascher ist Vertriebsleiter bei der Gläser GmbH in Horb, einem der größten Dienstleister für Sauberkeits-Messungen und außerdem Mitgliedsunternehmen von MontSa. Er berichtet von einer stetig steigenden Nachfrage nach Analysen, auch aus der Elektronik und von außerhalb des Automobilbaus. Hascher rechnet damit, dass Sauberkeitsanforderungen auch im Maschinenbau an Bedeutung gewinnen, weil die Systeme hier ebenfalls immer sensibler werden. „Womöglich gibt es schon das eine oder andere Problem aufgrund von Partikelverunreinigungen, nur dass die eigentliche Ursache nicht erkannt wird.“
Immerhin eine gute Nachricht gibt es: Die MontSa-Untersuchungen haben gezeigt, dass teure Reinraumbedingungen in der Regel gar nicht nötig sind, um die gewünschte Partikelsauberkeit zu erreichen. Dies überraschte die Experten: Die Luft in den Sauberräumen muss nicht aufwendig gefiltert und klimatisiert werden. Wichtiger ist, die Sauberräume nach denselben peniblen Spielregeln zu begehen und zu beschicken wie Reinräume, außerdem das Einschleppen von Partikeln auf den Transportwegen zu vermeiden und – vor allem – die Fügeprozesse auf den Prüfstand zu stellen. IPA-Forscher Christian Ernst bringt es so auf den Punkt: „Eine Schraubenverbindung erzeugt viel mehr Partikel als ein Gabelstapler, der mit dreckigen Reifen vorbeifährt.“
Gegründet wurde MontSa, weil das Geschehen in der Montage eine Unbekannte war: Allen war klar, dass beim Montieren Partikel entstehen. Aber wieviele? Nach welchen Gesetzmäßigkeiten? Und mit welchen Einflussparametern? In dem Projekt analysierten die Partner systematisch die Störgröße „Partikelverunreinigung“ und untersuchten eine Vielzahl von Parametern.
Herausgekommen ist dabei eine Systematik, mit der sich solche kritischen Prozesse wie das Schrauben oder andere Fügeprozesse untersuchen lassen. Außerdem gibt es jetzt Hinweise und Regeln für das Handhaben von Teilen, damit sie auf dem Transportweg zur Montage nicht erneut kontaminieren. Die Ergebnisse sollen Eingang in den neuen Leitfaden zur Montagesauberkeit VDA 19.2 finden. „Das Herstellen, Aufrechterhalten und Erfassen der notwendigen Sauberkeit ist eine große Herausforderung“, zieht MontSa-Koordinator Markus Rochowicz als Fazit. „Es ist eine hohe Bereitschaft zum Dialog erforderlich, weil sich die erreichbare Produktsauberkeit aus dem Zusammenspiel von Konstruktion, Produktion, Logistik und Qualitätssicherung ergibt.“
Die Ergebnisse von MontSa entbinden die Unternehmen also nicht davon, ihre jeweils eigenen Montageprozesse genau zu untersuchen.
Auch an einer anderen großen Aufgabe kommen die Unternehmen ohnehin nicht vorbei: Sie müssen die Sauberkeitsanforderungen für ihre jeweiligen Produkte jeweils selbst spezifizieren – es sei denn, der Abnehmer schreibt die Werte vor. Am Anfang aller Bemühungen steht also immer intensives Messen.
Bewährt und etabliert haben sich dafür Extraktionsmethoden. Die zu analysierenden Teile oder Komponenten werden in einem mehrstufigen Verfahren gespült und die abgelösten Partikel auf einem Analysefilter festgehalten. Ein Mikroskop zählt automatisiert die Partikel aus. Unter polarisiertem Licht lassen sich metallische und nichtmetallische Partikel am unterschiedlichen Glanzgrad nach Größe und Anzahl unterscheiden.
Die Gläser GmbH ist nicht nur Dienstleister und Consulter im Bereich technische Sauberkeit, sondern liefert auch Gerätetechnik von der Mess- bis zur maßgeschneiderten Reinigungsanlage. Beim Reinigen und beim Messen werden im Prinzip dieselben Spülprozesse eingesetzt. „Häufig kommt es vor, dass ein Anwender seine Partikel mit herkömmlicher Reinigungstechnik nicht los bekommt – dann konzipieren wir Lösungen für ihn“, erklärt Vertriebsleiter Peter Hascher. Ein Beispiel: Für unterschiedliche Leitungen entwickelte Gläser eine modular aufgebaute Anlage, bei der eine Komponente gespült und gleichzeitig eine andere aufgespannt werden kann. Über die Steuerung lassen sich alle Parameter von Durchfluss, Druck, Zeit und Temperatur bis hin zur Rezeptur einstellen. Nach dem Trockenblasen ist die gespülte Leitung bereit für den Transport zur Montage – den der Anwender natürlich so auslegen muss, dass auf dem Wege keine Partikelkontaminationen mehr stattfinden.
Den anschaulichsten Einblick, wie eine gesamte Sauberkeits-Prozesskette funktionieren kann, bietet das anfangs erwähnte Produkt „Cleancon“ von Arnold Umformtechnik, ebenfalls einem Mitglied von MontSa. Es garantiert eine definierte technische Sauberkeit, die zusammen mit dem Anwender spezifiziert wird. Um welches Fügeelement es geht, ist dabei zweitrangig. „Vielleicht fünf Prozent unserer Neubemusterungen gehen inzwischen auf das Konto von Cleancon“, sagt Projektmanager Hans-Peter Zeile.
Die Cleancon-Produktion beginnt mit dem Öffnen der konventionell gefertigten Ware im Sauberraum – und zwar als Teil des dort installierten Feinstreinigungsprozesses. An ihn schließt sich das Gleitbeschichten der Fügelemente unter Sauberraumbedingungen an und zuletzt die lagefixierende „Sauberraumverpackung“, die Partikelabrieb verhindern soll. Die „Cleanpacks“ funktionieren nach dem Zwiebelschalenprinzip: Nach innen nimmt die Sauberkeit zu. Hat die Ware den Sauberraum verlassen, kann sie an ihren Bestimmungsort verschickt werden. Dort schleust sie der Anwender in seinen Sauberraum zur Montage ein, indem er Zone für Zone eine Zwiebelschale nach der anderen entfernt. Dieses Konzept lebt davon, dass jeder einzelne Schritt, auch das Auspacken, bis ins Kleinste durchdacht wird. Alle Beteiligten müssen an einem Strang ziehen. Und das war es, was MontSa-Projektleiter Rochowicz als Fazit zog: Ohne Dialog geht gar nichts.

Marktchancen
In hochsensiblen Systemen ist mit kleinen Staubpartikeln nicht zu spaßen: Die Schäden, die sie anrichten können, reichen vom Verbiegen der Kennlinie bis zum Totalausfall eines Systems. Etwa weil Partikel ein Ventil blockieren oder weil ein Mini-Teichen zwei benachbarte Leiterbahnen kurzschließt. Kein Wunder, schraubt der Automobilbau die Anforderungen an die technische Sauberkeit hoch. Wer sie erfüllt, hat Marktchancen, wer nicht, könnte künftig außen vor bleiben.
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