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Alte Hasen zeigen’s den jungen Hüpfern

Ältere Arbeitnehmer in mittelständische Firmen integrieren
Alte Hasen zeigen’s den jungen Hüpfern

Trotz demografischer Schieflage schicken immer noch viele Unternehmen erfahrene Mitarbeiter in den Vorruhestand, Arbeitssuchende über 45 sind fast chancenlos. Eine hessische, mittelständische Unternehmensgruppe schwimmt gegen den Strom – aus Überzeugung.

Brigitte Thurn ist Journalistin in Köln

Als Josef Ohms Anstellungsvertrag Anfang des Jahres auslief, fand der Produkt- und Schweißfachingenieur überraschend zügig einen neuen Job. „Es war ein eher zufälliges Gespräch“, erinnert sich Ohm, „und dann war alles schnell klar.“ Seither pendelt er täglich von Wiesbaden ins 60 km entfernte Rödermark. Das Besondere: Der Neue ist 57 Jahre alt – in einem Alter also, bei dem Arbeitsvermittler in der Regel nur bedauernd den Kopf schütteln.
Wenn überhaupt, dann stellen Unternehmen Jüngere ein. Trotz absehbarem Fachkräftemangel sind die Anreize hierzulande immer noch stark, Mitarbeiter vorzeitig in Rente zu schicken. Über Neueinstellungen jenseits der Fünfzig gibt es keine genauen Daten. Die jährlichen Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit schlüsseln nicht auf, ob Entlassene wieder einen Job gefunden haben.
Viele Ältere sind es nicht, die noch einmal durchstarten können. Denn eine soeben erschienene Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft e.V. (IW) in Köln untermauert den Eindruck, dass die Belegschaft in deutschen Unternehmen immer jünger wird. Lothar Funk, Autor der Studie, hebt hervor: „In der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen waren im Jahr 2002 nur 38,4 Prozent noch beschäftigt; 1970 waren es noch knapp 50 Prozent.“ Im Vergleich zu anderen Industrieländern geht Deutschland auffallend verschwenderisch um mit dem Erfahrungsschatz der Älteren: In der Schweiz waren im gleichen Zeitraum fast 65 Prozent, in Schweden sogar 68 Prozent der Jung-Senioren erwerbstätig, wie Funk betont. Der OECD-Durchschnitt für diese Gruppe liegt bei knapp der Hälfte.
Dass Josef Ohm weiter arbeiten kann, verdankt er der Firmenphilosophie der Herdt-Gruppe, einem Familienunternehmen in der Stahlbau-Branche. Von den 70 Mitarbeitern in Rödermark sind 14 über 50. Außerdem beschäftigt Herdt sieben Auszubildende mit Lernschwächen.
Geschäftsführer Peter H. Herdt, selbst 49, hält es für „menschenverachtend“, Arbeitssuchende allein wegen ihres Alters von vornherein durchs Raster fallen zu lassen. „Wir stellen ganz bewusst auch Ältere ein“, erklärt er. Zudem rechnet sich die Einstellung auch betriebswirtschaftlich. Seine Begründung: „Die älteren Mitarbeiter sind hoch motiviert und sofort voll einsatzfähig, während ein Hochschulabsolvent rein rechnerisch zwar weniger kostet, in der Praxis aber fünf Jahre braucht, bevor er vollständig eingearbeitet ist.“
Im Umgang mit Kunden sei die hohe Sachkompetenz der alten Schule ein nicht zu unterschätzender Vorteil: „Wenn es um Machbarkeitsstudien geht, kommt gerade von jungen Architekten oder Ingenieuren ein besonders positives Feedback, wenn wir ihnen einen alten Hasen schicken“, sagt Herdt. Er setzt auf einen Mix der Generationen. Denn man benötige beides – die Erfahrungen der Älteren und die neuen Ideen der Jüngeren.
So ist es für die Herdt-Gruppe selbstverständlich, ältere Mitarbeiter weiter zu qualifizieren. „Aufgrund unserer ISO-Zertifizierung müssen sich alle ständig über neue Gesetze und Vorgaben informieren. Sie werden entsprechend geschult“, erläutert Herdt. Doch als er neulich einen 63-Jährigen zum Erste-Hilfe-Kurs schickte, da hätten die anderen Teilnehmer schon etwas erstaunt geschaut. „Dass wir mit unserer Einstellung gegen den Strom schwimmen, ist mir schon bewusst, aber ich bin sicher, dass unser Weg der richtige ist.“
Der Trend in Deutschland ist ein anderer: pensionieren statt qualifizieren. „Es ist ein Teufelskreis“, beschreibt Lothar Funk vom IW. Aus Unternehmenssicht scheint sich die Weiterbildung von älteren Arbeitnehmern oft nicht mehr zu lohnen. Und andererseits glauben viele ältere Mitarbeiter, dass es sich für sie nicht mehr lohnt, noch up to date zu sein, beschreibt Funk das Problem. Diesen Kreis durchbrechen können nur die Unternehmen, die ihren Mitarbeitern bis zur Pensionierung Entwicklungsperspektiven eröffnen.
Dass Weiterbildung für Ältere unrentabel sei, hält Michael Deimel vom Zentralverband Elektrotechnik und Elektroindustrie (ZVEI) für zu kurz gedacht: „Die Young Professionals, in die so viel investiert wird, die gehen nach drei, vier Jahren, aber der 50-Jährige, der kann den gelernten Stoff noch nutzen.“ Und zwar im Unternehmen – und nicht bei der Konkurrenz.
„Alter sollte kein Ausschlusskriterium sein“, sagt auch Stefan G. Graser von der Lorch Schweißtechnik in Auenwald. Allerdings muss der für Personal und Rechnungswesen Verantwortliche einräumen, „dass der Kündigungsschutz schon grundsätzlich ein Hemmschuh ist, der die Vergabe von Arbeitsplätzen an Ältere erschwert.“ In einem Unternehmen dürfe es aber keinesfalls soweit kommen, dass Mitarbeiter, die noch einige Jahre Berufsleben vor sich haben, nur noch als Kostenfaktor betrachtet werden. „Uns ist bewusst, dass wir die älter werdende Belegschaft motiviert halten müssen“, versichert Graser. Allerdings könne man in den Unternehmen Personalentwicklung heute leider nur noch „nach Kassenlage“ betreiben.
Die Lorch Schweißtechnik hat sich engagiert bei einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Vorhaben: der Demografie-Initiative des ZVEI und der Gesellschaft für Arbeitsschutz- und Humanisierungsforschung (GfAH) aus Dortmund. Bei diesem Projekt gingen Personalverantwortliche aus 30 Unternehmen der Frage nach, wie Unternehmen es schaffen können, Konzepte zur Bewältigung des demografischen Wandels zu erstellen. „Es gibt schon ein Problembewusstsein, volkswirtschaftlich gesehen“, erklärt Michel Deimel vom ZVEI, „aber in den Unternehmen ist man sich nicht immer klar, wie brandaktuell das Problem ist.“ Es sei ein schleichender Prozess, den man vor sich herschiebt und der später nur noch schwer zu korrigieren sein wird. Notwendig sei eine systematische Analyse aller Alters- und Qualifikationsgruppen im Unternehmen.
„Für eine altersgemischte Struktur gibt es keine Patentrezepte“, sagt Deimel, „aber dass wir ein demografisches Problem haben und es uns gar nicht mehr leisten können, auf das Erfahrungswissen der Älteren zu verzichten, das dämmert inzwischen vielen Unternehmern.“ Dennoch seien die meisten mit dem Alltagsgeschäft zu sehr belastet, um eine Analyse der Personalstruktur zu erstellen.
Die Herdt-Gruppe brauchte den Anstoß vom BMBF nicht. Wertschätzung älterer Mitarbeiter gehört seit drei Generationen zur Firmenphilosophie. Josef Ohm will in Rödermark arbeiten, bis er 65 ist. Dass er nicht aufs Abstellgleis geschoben wurde, hat das Selbstbewusstsein des Fachingenieurs gestärkt: „Ich fühle mich nicht alt, meine Kinder sind erst 17 und 22. Und Peter H. Herdt erklärt: „Es macht Spaß, mit souveränen Mitarbeitern Geschäfte zu machen.“
Sollte das Beispiel seines Unternehmens irgendwann Schule machen, dann schwimmen die hessischen Stahlbauer nicht mehr gegen den Strom – dann reiten sie auf der vordersten Welle.
Ältere Mitarbeiter mit einer Perspektive bleiben motiviert
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