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Am Plastik-Schädel darf alles schiefgehen

Medizintechnik: Maschinenbauern tut sich ein Markt mit Exportchancen auf
Am Plastik-Schädel darf alles schiefgehen

Wissen aus dem Maschinenbau schafft Mikrometer-Präzision nicht nur in der Werkzeugmaschine, sondern auch am menschlichen Kiefer. Das ist gut für den Patienten und lohnt sich für den Hersteller, denn ein für die Medizintechnik zugelassenes Produkt bringt ihm mehr ein.

Von unserem Redaktionsmitglied Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de

Fräsen, bohren, positionieren. Typisch Maschinenbau? Typisch Medizintechnik! Nur dass es rund um die Bearbeitungsstelle feucht und rot glänzt, wenn der Chirurg einen Kanal von 2 cm Durchmesser im Schädelknochen schafft, damit er winzige Ersatz-Gehörknöchelchen aus Kunststoff auf ein paar Mikrometer genau im Ohr seines Patienten einsetzen kann – das alles mit geübter und hoffentlich ruhiger Hand.
Technik und das Wissen von Maschinenbauern könnten den Mediziner in so einem Fall durchaus behilflich sein. „Fotos von Operationen erspare ich Ihnen aber jetzt“, sagte Marc Kneissler vom Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK). Beim 11. Internationalen Produktionstechnischen Kolloquium zeigte er nicht nur Mitgefühl mit seinen Zuhörern, sondern vor allem technische Ansätze, um Chirurgen zu unterstützen. Ein Vorschlag der Berliner ist die Navigated Control: Eine intelligente Steuerung, die mit Patientendaten gefüttert wird und eingreift, bevor der Arzt mit seinem Fräser eine brenzlige Stelle erreicht, durch zu langes Verweilen am Knochen thermische Schäden hervorruft oder durch zu schnellen Vorschub das Knochenmaterial zum Reißen bringt.
Navigated Control verlässt sich aber nicht auf die Technik allein. Der Mediziner gibt nicht für eine Sekunde die Verantwortung für die Operation aus der Hand. Vor dem Eingriff aufgenommene 3D-CAD-Daten des Patienten sorgen lediglich dafür, dass beispielsweise das Werkzeug allmählich langsamer dreht, wenn sich der Operateur einer Nervenbahn nähert. Die sinkende Drehzahl ist für ihn zum einen ein akustisches Warnsignal, zum anderen verhindert sie, dass er versehentlich zu viel Material entfernt. Noch ist das System in der Entwicklung. „Im Umkehrschluss ließe sich die Navigated Control später natürlich auch im Werkzeug- und Formenbau einsetzen, um dort beispielsweise einen Werker zu unterstützen“, sagt Kneissler.
Zurzeit fließt das Wissen aber noch vorwiegend von den Technikern in Richtung Medizin. Um diesen Transfer zu intensivieren, wurde im Jahr 2000 das Berliner Zentrum für Mechatronische Medizintechnik (BZMM) gegründet: Hierfür haben die Fraunhofer-Gesellschaft und die Berliner Charité, das Universitätsklinikum und die Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität einen Kooperationsvertrag geschlossen. Am Fraunhofer IPK leitet Prof. Tim Lüth die Arbeiten und betont: „Aus industriellen Anwendungen wissen wir schon viel über Navigation, Robotik und höchst präzise Handhabung. Damit könnten Chirurgen ihre Patienten besser versorgen – nur findet noch viel zu wenig Austausch zwischen Ärzten und Ingenieuren statt.“
Schade eigentlich, denn diese Kontaktaufnahme wäre für die Hersteller von Maschinen auch finanziell interessant. Allein die Charité sei ein Unternehmen mit rund 1 Mrd. Euro Umsatz im Jahr. Und Lüth verweist auf einen Roboter in seinem Labor, der Ärzten im Operationssaal assistiert, ein Instrument reicht oder ein Transplantat in der vorgegebenen Position hält. „So ein Gerät verkaufen Sie der Industrie für rund 28 000 Euro“, rechnet Lüth vor, lächelt, legt eine Hand auf den Schaltschrank und lässt die andere lässig in der Hosentasche verschwinden. „Wenn Sie den mit ein bisschen Software füttern, so dass er in den OP darf, ist er 700 000 Euro wert.“
Dass das „bisschen Software“ natürlich Arbeit macht und eine Menge Know-how und Sicherheitstechnik enthält, räumt Lüth gerne ein. Schließlich brachten Fehler bei Hüft- und Schädeloperationen die Roboter in Verruf, die in anfänglicher Euphorie den Chirurgen ersetzen sollten. Heute kommt der Technik die Rolle des Helfers im OP zu. In dieser Form sind Maschinen durchaus erwünscht, wenn sie die Vorgaben erfüllt. „Die Hürden für technische Produkte in der Medizin sind hoch, aber nicht unüberwindlich“, sagt Lüth. Die Mitarbeiter des BZMM wissen das aus eigener Erfahrung und beraten Medizintechnikhersteller bei der Zulassung ihrer Produkte (siehe Kasten).
In den Himmel wachsen die Bäume allerdings auch in dieser Branche nicht. Gerade in Deutschland bremst die Diskussion um steigende Kosten im Gesundheitswesen die Konjunktur in diesem Sektor. Dennoch sehen Experten die Medizintechnik als Leittechnologie und rechnen sich für den Export auch langfristig Chancen aus.
Aber selbst wenn die Technik stimmt und das Geld im Krankenhaus vorhanden ist, steht vor dem Einsatz eines neuen Gerätes meist noch Überzeugungsarbeit auf menschlicher Ebene an. Lüth erläutert das am Beispiel von Anlagen für das Rapid Prototyping (RP). Auf der Basis von Röntgenscans liefern sie die exakte Kopie eines Patientenschädels und erleichtern so die Vorbereitung auf eine Operation, weil das Modell aus Kunststoff mögliche Fehler vor dem Eingriff erkennen lässt. „Was so eine RP-Anlage leistet, können Sie einem Mediziner aber nicht theoretisch erklären. Man muss sich schon die Mühe machen und den Beweis praktisch antreten – von da an wird das Gespräch mit dem Anwender im Krankenhaus viel leichter.“
Wie die RP-Anlagen fallen unter den Begriff Medizintechnik auch andere Geräte, die mit dem Patienten nicht direkt in Kontakt kommen. Wenn der Zahnarzt zum Beispiel das Gebiss mit einem neuen Implantat vervollständigen will, hat der Dentaltechniker die Kaufläche des künstlichen Zahns vielleicht mit einer Fünf-Achsen-Mini-Fräsmaschine so gestaltet, dass sie haargenau zu ihrem natürlichen Gegenstück im Kiefer passt. Die Kavo Dental GmbH in Biberach baut solche Komplettbearbeitungslösungen, die CAD-CAM-Daten von Zähnen und Kiefer nutzen. Für solche Mini-Maschinen liefert die Bosch Rexroth AG, Lohr am Main, miniaturisierte einbaufertige Linearsysteme, die eine Wiederholgenauigkeit von bis zu 5 µm erreichen. Zwar leistet sich der Konzern für solche Anwendungen keine eigene Abteilung, bewertet den Medizintechnik-Markt aber als „interessant“.
Die Kavo Dental GmbH wiederum gehört seit 2004 zur US-amerikanischen Danaher-Gruppe und ist damit Bestandteil eines Maschinenbauunternehmens, das bisher vorwiegend Antriebs- und Automatisierungskomponenten herstellt. „Vom Minimotörchen bis zum dynamischen Gewindetrieb für den Zahnarztstuhl“ will der Konzern die Branche bedienen. Manche Produktlinien sollen speziell auf diesen Zielmarkt hin weiterentwickelt werden. Die Fachmesse Compamed, die im Rahmen der Düsseldorfer Messe Medica stattfindet, nutzen Anbieter wie Danaher als Forum, um sich mit ihren Komponenten im Markt zu präsentieren.
Doch ist die Medizintechnik laut Lüth keine Domäne für Großunternehmen, sondern stark von Mittelständlern dominiert. Auch diese arbeiten mit dem IPK zusammen und erzielen, wie die Ziehm Imaging GmbH, internationale Marktvorteile. Die Nürnberger haben zusammen mit den Wissenschaftlern einen Standard-C-Bogen verbessert – ein Röntgengerät, das während der Operation eingesetzt wird, auf einer halbreisförmigen Bahn um den Patienten geschwenkt werden muss und den Ärzten trotzdem so wenig Platz wie möglich wegnehmen darf. Ein Motor, drei zusätzliche Encoder und die passende Steuerungstechnik ermöglichen es nun, die Strahlenquelle manuell zu bewegen und dennoch Aufnahmen von der gleichen Stelle aus verschiedenen Winkeln zu bekommen. Motor und Steuerung sorgen dafür, dass immer der gleiche Punkt abgebildet wird. Bisher war das nur mit sehr großen und kostspieligen Geräten zu erreichen.
Das Know-how der Techniker bleibt also gefragt. Und der Ingenieur bleibt Ingenieur, selbst angesichts aufgefräster Kniescheiben. Denn beim Produktionstechnischen Kolloquium sprach IPK-Forscher Kneissler nicht nur von Innovationen und Perspektiven, sondern lieferte gleich die Antwort auf eine „typische Frage“, die ihm Maschinenbauer mit Praxisbezug zum Fräsen immer wieder stellen: „Die Späne werden abgesaugt, und wir benutzen eine Spritze mit Kühlflüssigkeit.“
Industrieanzeiger
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