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Auf der Suche nach dem digitalen Gral

Industrie 4.0 eröffnet die Chance auf neue Produkte und Services
Auf der Suche nach dem digitalen Gral

Geschäftsmodelle | Durch die zunehmende Digitalisierung von physischen Produkten und Prozessen eröffnen sich für die Industrie neue Geschäftsmodelle. Diese können weit mehr als eine Veredelung der Produkte, wie Trumpf und der Landmaschinenbauer Claas zeigen. ❧ Sabine Koll

In der jüngeren Vergangenheit waren Geschäftsmodell-Innovationen des Maschinen- und Anlagenbaus häufig vom Kunden getrieben: „Aufgabenbereiche, die der Kunde nicht mehr selbst übernehmen wollte oder aufgrund der gestiegenen Komplexität auch nicht mehr konnte, wurden auf den Maschinenlieferanten übertragen“, erklärt Dr. Volkhard Emmrich, Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Wieselhuber & Partner GmbH. Aus klassischen Komponentenanbietern wurden dadurch Systemanbieter, aus dem klassischen Kundendienst wurden Servicegesellschaften, die auch neue Aufgaben wie etwa die Logistik oder die Wartung von Fremdprodukten anbieten. „Zukünftige Differenzierungsmöglichkeiten werden jedoch stark im Bereich der Software und/oder den Dienstleistungen gesehen. Der Grund hierfür liegt in der zunehmenden Bedeutung des Lösungsgeschäfts und der Einschätzung, dass die eigentliche Maschine immer weniger zur Generierung dieser Lösung beitragen wird.“

Emmrich gründet seine Aussagen auf der Studie „Geschäftsmodell-Innovation durch Industrie 4.0“, die sein Unternehmen gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA im Frühjahr vergangenen Jahres vorgelegt hat. Hierzu wurden sowohl Experten aus dem Maschinen- und Anlagenbau als auch aus IT-Unternehmen befragt.
Für Emmrich ist dabei klar: „Durch Industrie 4.0 werden die klassischen Branchengrenzen zwischen Maschinenbau und IT verschoben. Die beiden Welten wachsen spürbar zusammen. Sozusagen ‚von oben’ durchdringt die IT immer stärker die Prozesslandschaft der Unternehmen.“ Für den Maschinen- und Anlagenbauer stelle sich daher die Frage, welche Rolle er künftig in diesem Szenario einnehmen will. „Grundsätzlich ist denkbar, dass im Zuge der Umsetzung von Industrie 4.0 die IT weiter in den traditionellen Tätigkeitsbereich des Maschinenbaus eindringt. Ebenso können aber auch Maschinenbauer durch gezielten Kompetenzaufbau die Branchengrenze in Richtung IT verschieben. Weiterhin können durch Kooperation und die Intensivierung von Partnerschaften Industrie-4.0-Kompetenzen aufgebaut und Lösungen umgesetzt werden“, so Emmrich.
Die erste Variante – gewissermaßen eine schrittweise Weiterentwicklung des bestehenden Geschäftsmodelle hin zu Industrie 4.0 – bezeichnen die Experten als digitale Veredelung. Dabei wird die Erweiterung bestehender Hard- und Software-Angebote um weitere Funktionen im Vordergrund stehen.
Hersteller favorisieren Mehrwertdienste
Die Art und Weise des Leistungsangebots selbst wird jedoch nicht grundsätzlich infrage gestellt, sondern insbesondere durch digitale Mehrwertdienste erweitert. Datenanalysen, die Nutzung von Big Data sowie prozessbegleitende echtzeitnahe Simulationen schaffen dabei einen Mehrwert für den Kunden durch eine breitere Wissensbasis oder unterstützen bei der Absicherung von Entscheidungen. Digitale Qualifizierungsangebote in Form von E-Learning und Blended Learning beispielsweise ergänzen die Produkte der Maschinen- und Anlagenbauer und unterstützen einen effizienten Anlagenbetrieb. Der Nutzen für den Kunden liegt in der höheren Effizienz von Maschinen und Anlagen. Dazu gehören die Fernwartung von Maschinen und Anlagen. Das Fraunhofer IPA und Wieselhuber & Partner gehen davon aus, dass die Mehrzahl der Unternehmen diesen Weg gehen wird.
Ein Beispiel dafür liefert die Würth-Gruppe, die mit Befestigungs- und Montagetechnik handelt: Seit 2013 bietet sie mit Ibin ein vollautomatisches System an, bei dem der Füllstand von Behältern mit volumenstarken Kleinteilen beim Kunden automatisch mit einer Kamera ermittelt wird – und gegebenenfalls automatisch eine Bestellung ausgelöst wird. Für den Kunden bietet dieses System vor allem den Nutzen der verbrauchsspezifischen Nachlieferung von regelmäßig benötigten Kleinteilen. Auch liefert Ibin eine hohe Transparenz und Services zur Analyse des tatsächlichen Verbrauchsverhaltens. Durch die punktgenaue Nachlieferung wird zudem ein deutlich geringerer Flächenbedarf am Montageort benötigt.
Für Würth bietet das System vor allem Kosten- und Informationsvorteile. So erfolgt der Nachorderprozess im Kleinteilesegment auf diese Weise hochgradig autonom und standardisiert. Ferner erhält das Unternehmen ständig aktuelle Informationen über die Verbrauchsverläufe bei seinen Kunden und kann entsprechende Leistungspakete anbieten.
„Das disruptive Potenzial neuer Geschäftsmodelle wird von der Maschinenbaubranche noch nicht flächendeckend erkannt oder genutzt“, kritisiert Emmrich. „Zum einen drehen sich die Überlegungen zu neuen Servicemodellen immer noch sehr stark um die Maschine beziehungsweise Anlage. Dabei kommen Anbieter, die auf strategischer Ebene über alternative Produkt- und Service-Konzepte sowie disruptive Geschäftsmodelle nachdenken, bereits den langfristigen und nicht nur kosten- und effizienzgetriebenen Potenzialen von Industrie 4.0 einen wesentlichen Schritt näher. Denn diese Unternehmen haben verstanden, dass zukünftig nicht mehr nur die beste Technik und auch nicht die am besten auf das individuelle Kundenbedürfnis zugeschnittene Funktionalität entscheidend ist, sondern das attraktivste Geschäftsmodell insgesamt. Hierzu zählen die Aspekte Flexibilitäts- und Produktivitätsbeitrag, Wertbeitrag und möglichst umfassende Lebenszyklusorientierung.“
Nur drei der 20 von Wieselhuber & Partner befragten Maschinen- und Anlagenbauer beschäftigen sich im Rahmen ihrer Innovationsstrategie mit der systematischen Weiterentwicklung ihres Geschäftsmodells. Wertorientierung – der Kunde bezahlt für eine gewisse Produktivität oder Verfügbarkeit – beziehungsweise Diversifikation durch softwarebasierte Mehrwertdienste und Produkte stehen dabei im Vordergrund. Einige sehen sich in Zukunft durchaus auch als Softwarehaus, bei welchem auch die Geschäftsprozesse des Kunden einschließlich der dort entstehenden Daten adressiert und unterstützt werden.
Ein Beispiel dafür ist der Werkzeugmaschinenhersteller Trumpf: Er hat mit Axoom eine Software-Plattform geschaffen, mit der Fertigungsbetriebe alle Schritte von der Auftragsannahme über die Fertigungssteuerung bis hin zu Materialeinkauf- und Versandprozessen in der Fertigung steuern und abwickeln können. Ein App-Store für Fertigungsbetriebe sozusagen.
„Mit Axoom schauen wir über den eigenen Tellerrand hinaus und machen uns für eine neue, digitale, offene Geschäftsplattform stark, die die gesamte Wertschöpfungskette umfasst, und zwar herstellerunabhängig. Maschinen und Systeme unterschiedlicher Produzenten arbeiten intelligent zusammen – das ist die Zukunft“, erklärt Dr. Mathias Kammüller, Geschäftsführer von Trumpf.
Eigenständiges Trumpf-Unternehmen
soll unkonventionelle Wege gehen
Dabei schickt Trumpf die Plattform bewusst als eigenständiges Unternehmen auf den Weg. „Axoom soll jenseits aller Konventionen Neues schaffen. Wir steuern unser großes Know-how als Werkzeugmaschinenhersteller bei. Unser gemeinsames Ziel ist es, Nutzwert für höchste Produktivität und Wirtschaftlichkeit für unsere unmittelbaren Kunden, aber auch ganz andere Produktionsunternehmen zu schaffen“, so Kammüller. Zu den Partnern der Plattform, die im November 2015 gestartet ist, zählen unter anderem Kloeckner, Linde, J. Schmalz, Sick und Carl Zeiss Industrielle Messtechnik.
Den Weg einer offenen Software-Plattform mit Anwendungen rund um die Geschäftsprozesse der Kunden hat auch der Landmaschinenhersteller Claas eingeschlagen. Allerdings erst, nachdem der Aufbau einer unternehmenseigenen, geschlossenen Plattform, mit der relevante Informationen zum Maschinennutzungsverhalten der Kunden gesammelt werden sollten, sie für Entwicklung und Vertrieb spezifischer Produkte zu verwenden, gefloppt war.
Seit Sommer 2014 gibt es nun die Plattform 365Farmnet, auf der neben Claas inzwischen 14 weitere Unternehmen aus diversen Industriefeldern kundenrelevante Dienstleistungen anbieten. So stellt beispielsweise der Chemiekonzern Bayer das Agrarwetter zur Verfügung und empfiehlt direkt, wann welches Pflanzenschutzmittel zum Einsatz kommen soll. Der Saatguthersteller KWS gibt Informationen dazu, welche Sorte auf dem relevanten Boden die höchsten Erträge liefert. Bislang nutzen mehr als 2.000 Landwirte die kostenpflichtigen Dienste. Sie selbst stellen ihre Erfahrungen, unter anderem zu Ackerflächen, Ernteertrag und Schädlingsbefall zur Verfügung. Gesammelt werden sämtliche Informationen in einer Cloud. Durch die Sammlung und Bereitstellung relevanter Daten erhoffen sich sowohl Industrie als auch Landwirte eine höhere Effektivität und Effizienz in der landwirtschaftlichen Bearbeitung.
Inwieweit sich die beiden Plattformen von Claas und Trumpf auf Seiten der Landwirte beziehungsweise Fertigungsbetriebe durchsetzen werden, ist offen. Doch nach Einschätzung von Wieselhuber & Partner ist dies der richtige Weg, um im Industrie-4.0-Zeitalter neue Geschäftsmodelle auszuloten – nicht zuletzt auch deswegen, um selbst diese Märkte für sich zu besetzen.
„Diese kombinierten Angebote aus physischen und digitalisierten Produktmodulen werden maßgeblich sein für die Verschiebung von Branchengrenzen zwischen IT und Maschinenbau. Dabei werden Regelbrüche und Markteintritte durch Dritte wahrscheinlicher“, stellt Emmrich klar. Neue Wettbewerber müssen dabei nicht zwingend aus der Branche kommen. Das Beispiel Google zeige schließlich sehr gut, dass ein Internet-Konzern auch Roboterherstellern und Autobauern das Fürchten lehren kann.
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