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Der Mensch im Zentrum, nicht die Maschine

DIN-Normen, Teil 3: Valides Messen von Ankopplungskräften
Der Mensch im Zentrum, nicht die Maschine

Zwei Ingenieurbüros haben gemeinsam mit Herstellern handgeführter Maschinen eine Norm zum Messen von Schwingungsbelastungen der Bediener entwickelt. Sie sind gerüstet für eine neue EU-Arbeitsschutzrichtlinie, die Höchstwerte verbindlich vorschreibt.

Sven Hardt ist freier Journalist in Neuenhagen bei Berlin

Die deutschen Berufsgenossenschaften registrieren jährlich rund 1000 Fälle von Hand-Arm-Schwingungserkrankungen. Davon werden 200 als Berufskrankheit (BK) anerkannt und entschädigt. Eine Reduktion der BK-Fälle um 10 % würde allein die Versicherer um rund 1 Mio. Euro entlasten. Die Kosten eines Rentenfalls betragen etwa 50 000 Euro – notwendige Weiterbildungen oder Umschulungen nicht berücksichtigt.
Die EU hat das Problem erkannt und im Juni dieses Jahres eine Richtlinie über „Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor Gefährdung durch physikalische Einwirkung (Vibrationen)“ erlassen.
Die Richtlinie 2002/44/EG schreibt Höchstbelastungen der Bediener verbindlich vor. Je nach Branche soll das Regelwerk in sechs bis neun Jahren umgesetzt werden. Dann werden die Gerätehersteller ihren Kunden genaue Angaben über die Belastung der Bediener machen müssen und dafür haften. Arbeitgeber sind im Rahmen der Aufsichtspflicht für die Einhaltung im Betrieb verantwortlich.
Doch schwingungsarme Maschinen zu entwickeln und durch sie eingetretene Schäden zu begutachten, ist alles andere als trivial. Bis vor kurzem gab es kein Messverfahren, das die Ankopplung der Hand zufriedenstellend berücksichtigte. So bewirkt etwa ein stärkeres Ankoppeln eine Abnahme der gemessenen Beschleunigungswerte am Griff, weil der Bediener selbst mehr Energie aufbringt und dadurch die Maschine entlastet. Auch thermische Einflüsse verzerren das Messergebnis. Die Beurteilung der Ergonomie stößt an messtechnische Grenzen. Damit sind auch die Möglichkeiten der ergonomischen Geräteentwicklung begrenzt.
Damit könnte jetzt Schluss sein. Die Ingenieurbüros Riedel in Feilbingert und Gillmeister in Dortmund haben im Normenausschuss Akustik, Lärmminderung und Schwingungstechnik (NALS) ein Verfahren entwickelt, mit dem sich Ankopplungskräfte unter Schwingungsbelastung messen und bewerten lassen. Alle Normen, die sich mit „der Messung und Bewertung von Greif- und Andruckkräften zur Beurteilung der Schwingungsbelastung des Hand-Arm-Systems“ beschäftigen (Vornorm: DIN V 45679), wurden entsprechend geändert. Die Beschleunigung muss nun in Abhängigkeit von der Ankopplungskraft gemessen und bewertet werden. Nur so gelingt es, ergonomisch optimale handgeführte Maschinen zu entwickeln.
Deutsche Industrie war von Anfang an mit im Boot
Auch Arbeitsplatzmessungen sind nun genauer möglich. Konnten die Prüfer bis vor kurzem nur messen, welche Schwingungen die Maschine abstrahlt, ist es heute möglich, das Eindringen der Schwingung in den Körper zu messen – und dies in Abhängigkeit von der individuellen Andrückkraft des Bedieners. Begutachtungen von Krankheitsfällen und die Einhaltung der neuen Arbeitsschutzbestimmungen werden so erleichtert.
Das zentrale Interesse der Gerätehersteller an der Norm liegt in der Vergleichsgerechtigkeit. Die meisten Marktteilnehmer arbeiten im Arbeitskreis mit. Denn künftig wird die tatsächliche Belastung des Bedieners bei Beurteilungen und Zulassungen von Maschinen ausschlaggebend sein, nicht mehr nur die Schwingungsemission. Der Arbeitskreis „Messen von Ankopplungskräften“ im Normenausschuss hat umsetzbare Anforderungen an die Messgeräte und die Durchführung der Messung erarbeitet. Wichtig für die ergonomische Entwicklung handgeführter Maschinen und die Auswahl der geeigneten Geräte: Die Ankopplungskräfte einer konkreten Arbeitsaufgabe müssen ermittelt werden. Auf der Basis der gemessenen Werte korrigieren die Techniker die freuqenzbewertete Beschleunigung.
Nach Ansicht von Gillmeister und Riedel hat Deutschland heute auf Grund dieser Normungsarbeit einen Wissensvorsprung im Bereich der Schwingungsergonomie bei handgeführten Maschinen. Ein ISO-Ausschuss hat begonnen, Teile der deutschen Norm in das internationale Normenwerk zu übernehmen. Die deutsche Industrie war von Anfang an mit im Boot. Hat sie nun mehr Wissen und Erfahrung als die ausländische Konkurrenz? Wird sie schneller mit ergonomisch vorbildlichen Maschinen auf den Markt kommen? Gillmeister ist überzeugt, dass die am Arbeitskreis beteiligten Gerätehersteller heute ein größeres Augenmerk auf die Reduktion der Ankopplungskräfte richteten als früher. Jedoch fließe die Messung der Ankopplungskräfte immer noch zu wenig in die Entwicklung ein.
Doch auf dem umkämpften deutschen Markt für handgeführte Werkzeuge kann es sich kein großer Hersteller erlauben, der Normungsarbeit fernzubleiben. Zu groß ist die Gefahr, dem technisch Machbaren hinterherzulaufen und Marktanteile zu verlieren. So sitzen die Elektrowerkzeugehersteller Bosch, Black & Decker, Metabo und Hilti im Arbeitskreis. „Die meisten Käufer schauen zu Recht auf die Leistungswerte“, meint Frank Gillmeister. „Die Kombination aus guter Leistung, Ergonomie und komfortabler Bedienung bringt jedoch weitere Vorteile beim Absatz.“
Auch Marktführer Andreas Stihl AG & Co. KG aus Waiblingen arbeitet im Arbeitskreis mit. Johannes Menzel, Gruppenleiter Schall- und Vibrationsabstimmung im Bereich Motorsägen, erklärt warum: „Wir sind zum einen natürlich daran interessiert, unsere Produkte normgerecht zu gestalten. Zum anderen geht es darum, dass die Normen die Realität widerspiegeln.“ Alle Hersteller wollen praxisgerechte Messtechniken, die den Messaufwand bei großem Nutzen in vernünftigen Grenzen halten.
Stihl arbeitet deshalb in Normungsarbeitskreisen in Deutschland und international mit. Neben der Schwingungsproblematik liegt den Schwaben auch die Schallbelastung am Herzen. „Die jetzt festgelegten Aufnehmerpositionen der Messsensoren bei der Schallermittlung sind aus Gründen der Reproduzierbarkeit nicht sinnvoll“, erklärt Menzel. „Hier wollen wir mehr Messsicherheit, und deshalb arbeiten wir aktiv an der Norm mit.“
Die Resultate der zulassenden Prüfer sollen mit den eigenen vorab ermittelten Ergebnissen überein stimmen. Indem Stihl die Messnorm selbst mitentwickelt, erhöht der Hersteller die gewünschte Messsicherheit bei der Produktentwicklung. Neue Normen legen neben Messverfahren auch Zielwerte fest. „Natürlich entwickeln wir mit Nachdruck auf diese Zielwerte hin, um unserer Marktführerschaft gerecht zu werden“, sagt Menzel. „Gegenüber den Unternehmen, die sich nicht für Normungsarbeit interessieren, haben wir einen Vorsprung beim Erreichen der Werte. Aber die technischen Lösungsansätze müssen wir selbst erarbeiten. Dabei hilft die Norm wenig.“
Die neue Norm hat auch die Entwicklung neuer Greifkraftmessgeräte beschleunigt. Deutschland verfügt auch in diesem Bereich über einen Wissensvorsprung. Doch ohne staatliche Förderung wäre die Entwicklung langsamer verlaufen. Messgerätehersteller sehen vor der Adaption der EU-Richtlinie noch keinen Massenmarkt. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat deshalb ein Forschungsprojekt ausgeschrieben. Zu den Ergebnissen zählt ein 2001 vorgestelltes Messgerät mit Handadapter, das die Messung der Ankopplungskraft bei Schwingungsexposition erstmalig zeitgleich zulässt. Interessenten können Einzelstücke schon heute bei Riedel oder Gillmeister ordern.
Messtechnik: Gesundheitsrisiken deutlich gemacht
Experten schätzen, dass rund 18 % der Arbeitnehmer in Deutschland Hand-Arm-Schwingungen ausgesetzt sind. Langjähriges Arbeiten mit handgeführten Maschinen kann zu chronischen Erkrankungen des Hand-Arm-Systems führen. Die Folgen:
– Die Arbeit mit tieffrequenten Arbeitsgeräten ( 50 Hz) führt zu Abnutzungen der Gelenkoberflächen sowie zu degenerativen Veränderungen des Hand- und Ellenbogengelenks.
– Hochfrequente Schwingungen verursachen Durchblutungs- und Nervenfunktionsstörungen der Hände, etwa die Weißfingerkrankheit.
Die Belastungshöhe hängt von der übertragenen Schwingungsleistung ab, die wiederum von Handgreifkraft, Armandruckkraft oder Übungsgrad bestimmt werden.
Genau diese Faktoren berücksichtigen die Messmethoden auf Basis der neuen DIN V 45679, neben den klassischen Parametern wie Schwingungscharakteristik (Amplituden, Frequenzen, Stoßhaltigkeit, Schwingungsrichtungen) und Expositionsdauer (etwa täglich oder jährlich).
Bei Schwingungsmessungen traten bisher Messunterschiede von 40 bis 50 % auf. Rund 20 % dieser Messunsicherheit gingen auf die Ankopplungskräfte zurück. Die Erfassung der Ankopplungskraft präzisiert folglich das Messergebnis, der Vergleich verschiedener Fabrikate wird erleichtert.
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