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Die kreativen Zeiten fangen jetzt erst an

Potenzial von Hartmetallwerkzeugen ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft
Die kreativen Zeiten fangen jetzt erst an

Am Anfang standen ein Diamantensucher, zwei Firmen mit einem Patent- und zwei Herren mit einem Gestaltungsproblem. Der Rest ergab sich von selbst: 1925 eingeführt und in der Folge weltweit vertrieben unter dem Markennamen Widia, hat das gesinterte Designer-Metall durch seine Härte, Zähigkeit und Verschleißresistenz die Werkzeugtechnik entscheidend voran getrieben. Wir stellen Ihnen die wichtigsten Entwicklungssprünge vor.

Von Chefreporter Wolfgang Filì chefreporter@fili.net

Als sie die schweren Hörer wieder aufgelegt hatten, waren beide Herren gehobener Stimmung. Es war der 15. Dezember 1925. Der Ingenieur Josef Drotz – bei der Fried. Krupp AG in Essen für den Produktbereich Hartmetall verantwortlich – hatte mit Dr. Preußing, dem Justiziar des Unternehmens, über ein frisch von der Berliner Osram-Studiengesellschaft erworbenes Patent telefoniert. Man hatte einen knackigen Markennamen für das neue, mit Hilfe von Kobalt zu einem bisher ungekannt hart gesinterten Material aus Wolframcarbid gesucht.
Drotz hatte sich dabei in feinem Sütterlin die Worte „Widia“, „Bicar“, „Cardia“ und „Worcar“ notiert, am Ende „Cardia“ doppelt unterstrichen und zur Sicherheit noch einmal ein Kreuzchen daneben gemacht. „Cardia“, das konnte man sich merken. Das historische Schriftstück – die Rückseite eines gebrauchten Briefumschlags Format DIN A5 – ist bis heute erhalten.
Der sich aufs Patentrecht verstehende Jurist Preußing dürfte auch aus anderem Grund erfreut gewesen sein. Hatten die Essener ihre Schutzschrift doch mit wenigen Wochen Vorsprung vor dem Tübinger Unternehmer Richard Walter zugesprochen bekommen und außerdem mit Erfolg geltend gemacht, dass dessen Hartmetall „Dynit“ in Konflikt mit dem Patent der Fried. Krupp AG stand – und jetzt also der mit Drotz ausgeheckte Produktname „Cardia“, der in der Tat unverwechselbar anders klang, als das von den Montanwerken Walter vermarktete „Dynit“.
Wie lange die Tübinger ihr Hartmetall damals hergestellt hatten, lässt sich kaum mehr rekonstruieren. Am Ende jedenfalls gab es ein Abkommen mit Krupp, nach dem Walter die Fertigung von „Dynit“ einstellte. Außerdem wurden weitere, auf diesem Gebiet ebenfalls bedeutende Patente auf den Essener Konkurrenten übertragen. Die Süddeutschen konzentrierten sich fortan auf die Entwicklung ihrer Fräser. Krupp unterschrieb im Gegenzug, keine rund laufenden Präzisionswerkzeuge mehr zu produzieren. Die Vereinbarung galt bis 1966.
Dass das Krupp’sche Metall letztlich doch noch unter seinem bekannten Namen vertrieben und einer der erfolgreichsten Hartstoffe überhaupt geworden ist, hat mit dem Pragmatismus der Menschen im Ruhrgebiet zu tun: „Widia“ verweist – zumindest im Deutschen verständlich – auf „(hart) wie Diamant“, klingt in fast allen Sprachen gleich und bezieht sich auf Eigenschaften statt auf den chemischen Hauptbestandteil.
Letzteren – das Wolframcarbid – hatte der französische Wissenschaftler Henri Moisson 1894 durch Zufall bei der Suche nach synthetischen Diamanten entdeckt. 20 Jahre später hatten die Deutschen Lohmann und Voigländer ein Verfahren zum Sintern von Formkörpern aus reinem, allerdings sprödem Wolframcarbid entwickelt. Aber erst Karl Schröter und Heinrich Baumhauer fanden Anfang der 20er Jahre in den Osram-Laboratorien heraus, dass Carbide, wenn man sie über Bindematerial wie Kobalt zusammen sinterte, nicht nur ungeahnt hart waren, sondern für den industriellen Einsatz als Werkzeug oder Verschleißteil auch hinreichend zäh. Das grundlegende Verfahren wurde am 30. März 1923 zum Patent angemeldet. Zwei Jahre später übernahm der Brötchengeber der Herren Preußing und Drotz die Rechte daran.
Zum wirtschaftlichen Durchbruch kam es erst zehn Jahre später. Den Anstoß dazu gab eine Entwicklung aus den Staaten. Krupp hatte dem US-Unternehmen General Electric Inc. die Rechte für die Produktion und Vermarktung von Widia-Stahl in Nordamerika verkauft. Die eigens zu diesem Zweck gegründete GE-Tochter Carboloy verbesserte die Sintertechnik in der Folge so weit, dass sich Mischkarbide mit größerer Zähigkeit erstmals auch im großen Stil wirtschaftlich herstellen ließen: Kostete 1 kg Hartmetall 1929 bis zu 4000 Reichsmark, sackte der Preis durch das Carbaloy-Verfahren 1935 auf rund ein Zehntel ab. Das Edelmetall-Image war damit passé und Anwendung wie Weiterentwicklung der gesinterten Hartstoffe kamen nach und nach in Fahrt.
Das Ergebnis ist bekannt: Gleich ob Stahl, Guss, rostfreies, schwer zerspanbares oder Nichteisen-Metall – mit den standfesten, damals noch aufgelöteten Hartstoffschneiden ließen respektive lassen sich heute nahezu alle metallischen Materialien ökonomisch interessant bearbeiten. Und lag die Gestaltung der verschiedenen Hartmetallsorten anfangs allein bei Krupp nebst lizenzierten Unternehmen, bringen heute allein die Großen der Präzisionswerkzeugbranche mehrere Dutzend neue Sorten pro Jahr heraus. Entsprechend steigt die Leistungsfähigkeit.
Nachgerade explodiert ist die Performance Hartmetall-bestückter Werkzeuge jedoch in jüngster Vergangenheit: Die Korngrößen wurden in den Nano-Bereich wie auch in größere Dimensionen ausgeweitet, neue Produkte wie die Sorte „P“ mit Titan- und Tantalcarbid haben die Stahlbearbeitung erleichtert, Cermets sowie Wendeplatten aufgelötete Schneiden nahezu verdrängt. CVD-Beschichtungen mit Titancarbid, -nitrid und Aluminiumoxid wiederum machten die P-Sorten überflüssig und „Design-Material“, wie die in Art und Dicke variablen Gradienten-Hartmetalle, erlaubt maßgeschneiderte Verschleißwerte, ohne dass sie ihrerseits zwingend beschichtet sein müssen. Diamant-Coatings und die im PVD-Verfahren aufgebrachten Nano-Schichten treiben die Entwicklung weiter voran. So hat sich die Standzeit rotierender Vollhartmetall-Tools zwischen Mitte der 90er-Jahre und der Jahrtausendwende im Schnitt verdoppelt. Legt man 1995 als Startpunkt zu Grunde, verschiebt sich der Steigerungsfaktor bis heute weiter in Richtung „3“. Seine beste Zeit hat der frühere „Widia“-Stahl also noch vor sich.
Wenn die Standzeit steigt, verkaufen sich deshalb nicht zwingend mehr Werkzeuge. Insoweit lässt sich die Entwicklung auch kaum von Wachstumskurven ablesen. Vielmehr findet der Stellenwert der Carbide sich eher in absoluten Zahlen. So lag 1999 der weltweite Jahresbedarf an Hartmetall-Tools für Zerspanung, spanlose Formgebung und Verschleißschutz weltweit bei 8 Mrd. US-$. 2,5 Mrd. US-$ davon wurden in Europa umgesetzt. Jeweils 68 % entfielen auf Wendeschneidplatten und Werkzeughalter, 19 % auf rotierende Tools und 13 % auf spanlose Formgebung und Verschleißschutz. Mit 12 % Zuwachs legen rotierende Vollhartmetall-Werkzeuge am stärksten zu. Sie ersetzen vor allem die Tools aus Schnellarbeitsstahl – für die Herren Drotz und Dr. Preußing wäre selbstverständlich, dass dies allein der Anfang ist.
Gradienten-Hartmetall treibt die Standzeiten weiter hoch
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