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Die Mitgestalter sitzen an den Hebeln der Macht

Serie Teil 1: Strategischer Umgang mit Normen bringt Wettbewerbsvorteile
Die Mitgestalter sitzen an den Hebeln der Macht

Das Thema Normen entlockt den meisten Firmenchefs nur ein müdes Gähnen. Ein Fehler, denn die aktive Mitarbeit an Normungsverfahren bringt handfeste Wettbewerbsvorteile, wie eine Studie des DIN belegt.

Sven Hardt ist freier Journalist in Neuenhagen bei Berlin

Das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN), Berlin, wollte es wissen. Welchen wirtschaftlichen Nutzen bringen Normen? Die deutschen Chef-Standardisierer beauftragten Forschungsinstitute, diese Frage zu beantworten.
Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI), Karlsruhe, und die Lehrstühle für Marktorientierte Unternehmensführung, Wirtschaftspolitik und Unternehmensführung der Technischen Universität Dresden (TU Dresden) befragten Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Das Ergebnis dürfte das altehrwürdige Institut an der Spree freuen: Normen erfüllen überragende strategische Funktionen. Werknormen verbessern innerbetriebliche Prozesse. In den Lieferketten senken überbetriebliche Normen die Transaktionskosten und stärken die Marktmacht eines Unternehmens gegenüber Zulieferern, indem sie die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten reduzieren. Wettbewerb und Qualität auf dem Zuliefermarkt werden gefördert.
Überleben in einer globalisierten Welt mit Hilfe der Norm
Auf dem Abnehmermarkt ermöglichen die technischen Standards ein breiteres Produktangebot. Dieser Vorteil wird von den Befragten letztlich höher eingeschätzt als der verschärfte Konkurrenzkampf um Kunden mit standardisierten Produkten.
Überleben können exportabhängige Produzenten in einer globalisierten Welt nur mit Hilfe technischer Normen. 84 % der befragten Unternehmen nutzen internationale Normen als ein wesentliches Instrument, um neue Märkte im Ausland zu erschließen. Ein weiteres Ergebnis der volkswirtschaftlichen Analyse: Normen tragen mehr zum Wirtschaftswachstum bei als Patente und Lizenzen.
Die Forscher schickten ihren Fragebogen an 4000 Unternehmen. 707 Firmen beantworteten die 49 Fragen mit über 340 Einzelpunkten. Das Forschungsinteresse galt den strategischen Wirkungen innerhalb des Unternehmens und der Interaktion mit dem Firmenumfeld. Kann man mit Hilfe von Normen Wettbewerbsvorteile erzielen? Wie wichtig sind Normen bei der Bildung strategischer Allianzen?
Ein Problem hat die Studie klar zu Tage gefördert: Insider wissen um die Rolle der Normen. Die Unternehmensführer hingegen erkennen in den wenigsten Fällen die strategische Bedeutung, entscheiden über die Teilnahme an Normungsvorhaben nur unter Anwendungsgesichtspunkten.
Immerhin gaben 75 % der Unternehmen an, dass sie mit den Normungsinstituten zusammenarbeiten, um die internationale Normung zu beeinflussen. 60 % der nationalen Engagements zielen auf die internationale Normungsarbeit. Eine kluge Strategie, denn häufig werden deutsche Normen auf internationaler Ebene übernommen. In diesem Fall haben beteiligte Unternehmen einen Entwicklungsvorsprung gegenüber der weniger engagierten Konkurrenz. Hierbei schätzen die Betriebe den Wissensvorteil etwas größer ein als den Zeitvorteil.
Nicht selten bilden Normen die Grundlage für neue Gesetze und Vorschriften. Derzeit verweist der Gesetzgeber auf rund 20 % des DIN-Normenbestands. Am Normprojekt beteiligte Unternehmen sparen dann die Umstellungskosten. 25 % der befragten Unternehmen haben aus diesem Grund mindestens ein Mal an einem Normungsvorhaben teilgenommen.
Allerdings halten die Befragten Werknormen für nützlicher als Industriestandardisierungen, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Das ist verwunderlich, denn Unternehmen, die Industrienormen mitgestalten, sitzen an den Hebeln der Macht. Über 50 % dieser Gruppe können einen großen bis sehr großen Einfluss auf Norminhalte ausüben. Sie verhindern nicht gewünschte Inhalte zu 46 % und setzen gewünschte Inhalte zu 48 % durch.
Im Export präferieren 84 % der Befragten internationale Normen, ein Drittel setzt sich dagegen mit nationalen Normen im Ausland durch. 27 % der Befragten passen ihre Produkte an nationale, ausländische Normen an. Noch ein Indiz für das mangelnde Interesse der Geschäftsführung: 80 % der Unternehmen konnten nicht angeben, welche Kosten durch die Anpassung an ausländische Normen entstehen. 10 % gaben Auskunft: im Schnitt 175.000 Euro pro Jahr, wobei Beträge zwischen 1250 und 3 Mio. Euro genannt wurden. Normen reduzieren auch Handelskosten. So kommen 62 % der Befragten dank internationaler Normung zu schnelleren Vertragsabschlüssen. 54 % sind der Meinung, dass Normen den Handel in ihrer Branche erleichtert haben. Umgekehrt sind unterschiedliche nationale Normen ein Handelshemmnis.
Teilnahme an Normungsarbeit senkt F+E-Risiko
Die meisten fordern deshalb die Anwendung weltweit einheitlicher Normen wie ISO/IEC, auch wenn das Anpassen an solche Normen bei 61 % der Unternehmen zu Kosten führt. 37 % sehen sich durch internationale Normen einem verstärkten Konkurrenzdruck ausgesetzt. Kosten senken konnten hingegen 46 %, weil sie Anpassungen bei Exporten einsparen. Auch die verbesserten Kooperationsmöglichkeiten (39 %) und das größere Angebot an Zulieferern (36 %) wirken sich bei den Kosten positiv aus. Die Einsparungen als Folge internationaler Normen beziffern die auskunftswilligen Firmen jährlich zwischen 2 und 6,5 Mio. Euro, vor allem im Bereich der Transaktionskosten.
Normen erleichtern strategische Allianzen, Fusionen und Unternehmensübernahmen, weil sie Synergien bei der Entwicklung gemeinsamer Produkte ermöglichen. Das senkt Kosten und vergrößert Erträge. Als Hemmschuh bei Innovationsprojekten werden Normen, die ja immer etwas reglementieren und insofern auch die Kreativität einschränken, nur am Rande gesehen. So sind lange Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren oder das wirtschaftliche Risiko des Entwicklungsprojekts ungleich größere Barrieren auf dem Weg zu neuen Technologien.
Im Gegenteil verringert die Teilnahme an der Normungsarbeit das Forschungs- und Entwicklungsrisiko, weil Unternehmen die Norm in ihrem Sinne beeinflussen und von den Forschungsergebnissen der anderen Teilnehmer profitieren. Im Schnitt dauert es fünf Jahre, bis eine überbetriebliche Norm erstellt ist.
Von einem Engagement in der Normungsarbeit profitieren also in erster Linie Unternehmen, deren Produktlebenszyklen fünf Jahre überschreiten. Nicht zuletzt haben Normen einen Beitrag zum Rückgang der Unfallzahlen in den Betrieben geleistet. Die Unfallversicherer bestehen auf Einhaltung sicherheitsrelevanter Standards, weil sie den aktuellen Stand der Technik definieren.
Industrienormen als strategisches Instrument
Die Volkswagen AG, Wolfsburg, konnte mit der eigenen Werknorm „Instandhaltungsgerechtes Konstruieren“ die Reparaturkosten nach Unfällen deutlich reduzieren. Die Versicherer dankten es mit den günstigsten Kasko-Tarifen der jeweiligen Fahrzeugklasse. Ein handfester Wettbewerbsvorteil. Ein Golf besteht in der Basisausführung aus 4786 Teilen. Das gesamte Lager für die Golfmodelle umfasst 16 897 Teile. Davon sind 4 219 Normteile, also fast ein Viertel. Sie sind 20 bis 60 % günstiger als eigene Konstruktionsteile. Nicht ohne Grund unterhält VW eine Normabteilung, die alle Teile erfasst und verwaltet.
Der Airbus-Partner Dasa AG (heute EADS), München, ermittelte ein Preisverhältnis von 15:1 zwischen Zeichnungsteilen und Normteilen. Die Hälfte der Zeichnungsteile war, wie sich herausstellte, normungswürdig. Die Dasa reduzierte ihr Beschaffungsvolumen um 10 %, indem sie Normteile anstelle von Zeichnungsteile verwendete.
Das Airbus-Konsortium konnte die Teilevielfalt im A330/A340 gegenüber dem A300/A310 mittels Harmonisierung und Typeneinschränkung deutlich reduzieren. Europäische Industrienormen (EN) ersetzten die Werknormen der Partnerfirmen. So sparte allein der Hersteller Airbus Industries, Toulouse, 9 Mio. Euro jährlich bei der Lagerhaltung ein.
Bei der Ford AG in Köln standen 1998 die Bänder für drei Tage still, weil der Zulieferer des nicht normierten Türschlosses wegen angeblicher technischer Probleme nicht mehr liefern konnte. 8000 Mitarbeiter mussten zu Hause bleiben. Ein Ford-Sprecher äußerte die Vermutung, der Zulieferer wolle lediglich bessere Konditionen für die Folgeverträge aushandeln. Die Zwangspause kostete den Autobauer rund 50 Mio. Euro. Eine Schnittstellennormung oder „öffentlich verfügbare Spezifikation“ hätte den mutmaßlichen Erpressungsversuch vereitelt, weil solche Standards einen Markt erzeugen und Abhängigkeiten auflösen. sh
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