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Die Zukunft erneuerbarer Energien liegt im Meer

Seaflow-Rotor dreht sich unter der Wasseroberfläche
Die Zukunft erneuerbarer Energien liegt im Meer

Massive Stromausfälle in den USA und Europa schüren die Angst vor einem Energiekollaps. Um die Versorgung langfristig zu sichern, werden Energiequellen wie Wasserkraft, Wind oder Photovoltaik diskutiert.

Von unserem Redaktionsmitglied Werner Möller ia-redaktion@t-online.de

In den Branchen Sonne und Wind, Wasser und Biomasse sind nach Angaben des Berliner Bundes Erneuerbarer Energien e.V. (BEE) bereits 130 000 Menschen tätig. Bei Windenergieanlagen ist von einem Exportschlager made in Germany die Rede. Doch kaum eine Branche polarisiert so viele Befürworter wie Gegner. Von Natur- und Landschaftsvernichtung ist die Rede und dass „kein Mensch die Anlagen baut, weil er den Strom braucht, sondern weil er an der Förderung verdient“.
Zumindest im letzten Punkt haben sich Umweltminister Jürgen Trittin und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement jetzt auf eine gebremste Förderung geeinigt. Der Kern ist eine stärkere Differenzierung nach Standorten und das Einbeziehen großer Wasserkraftwerke in die Programme. Das Ziel müsse eine baldige Wettbewerbsfähigkeit des Ökostroms sein. Im Klartext: Die Zukunft der erneuerbaren Energien spielt sich vor allem im Wasser ab – wobei es dabei auch hier nicht ohne Gegenstimmen geht.
Fakt ist, dass „im Jahre 2020 regenerative Energien auf knapp ein Viertel des gesamten Energieaufkommens prognostiziert werden“, sagt Wolfgang Keppel. Allein der Wasserkraft schreibt der Energiexperte der Mannheimer Alstom Power Support GmbH ein Fünftel zu. Das hat Sinn, denn mehr als 70 % der Erdoberfläche sind von Meeren, Flüssen, Seen bedeckt. Diese Gewässer speichern große Mengen an Energie: Beispielsweise sorgen Winde und Stürme, die Anziehungskräfte von Sonne und Mond und die Erdrotation dafür, dass energiereiche Wellen, Strömungen und Gezeiten entstehen.
Neue vielversprechende Projekte zeugen vom Einfallsreichtum der Ingenieure. So wird an der Westküste der Insel Islay in Schottland jetzt das erste wirtschaftlich betriebene Wellenkraftwerk in Betrieb genommen, dessen Stromproduktion für 400 bis 600 Haushalte reicht. Seine Technik ist ebenso einfach wie ungewöhnlich, denn nicht das Wasser selbst erzeugt den Strom, sondern die Luft, die vom Wasser verdrängt wird. Wenn die Meereswelle die Klippen hochrollt, läuft sie auch durch ein Rohr des Wellenkraftwerks. Das einströmende Wasser verdrängt die Luft, die in der Röhre ist, und presst sie durch die Turbine. Geht die Welle zurück, dann treibt die zurückfließende Luft die Turbine erneut an. Und weil die Wellen nicht direkt die empfindlichen Rotoren antreiben, überstehen diese selbst Stürme. Das Kraftwerk bringt zwar weniger Strom als eine Anlage im offenen Meer, kann dafür aber einfacher gewartet werden und liefert direkt ins Stromnetz.
Wissenschaftler des Institutes für Solare Energieversorgungstechnik e.V. (ISET) aus Kassel nutzen die Meereskraft anders. Sie haben 2 km vor der britischen Küste in North-Devon unter Wasser einen etwa 11 m großen Rotor installiert, den die Strömung antreibt. „Das Wasser bewegt sich hier fast das ganze Jahr über in der gleichen Richtung, und wenn es doch mal anders strömen sollte, können wir den Rotor wenden oder das Blatt verstellen“, sagt Diplom-Physiker Jochen Bard, Leiter Energiewandlungsverfahren am ISET. Die Gezeitenströmung sei weltweit ein idealer Energielieferant. „In der Meerenge südlich von Wales und 100 Kilometer westlich von Bristol beispielsweise erreicht die Tidenströmung in etwa 20 bis 30 Meter Wassertiefe eine Geschwindigkeit von 2 bis 3 Meter pro Sekunde“, berichtet der Fachmann. Das ist beachtlich, denn die Geschwindigkeit geht mit der dritten Potenz in die Berechnung der Leistung ein. Während der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint, strömt das Meer kontinuierlich und berechenbar, getrieben von Sonne und Mond.
Das zu 50 % von der EU geförderte Forschungsprojekt Seaflow hat rund 6 Mio. Euro gekostet, die Anlage selbst etwa 1 Mio. Euro. Für den Prototyp mit einer Leistung von 300 kW haben die Prokjektteams auf den Netzanschluss verzichtet. Der Turm der Seaflow-Anlage ist knapp 50 m hoch und hat einen Durchmesser von 2,5 m. Das Rohr ist etwa 15 m tief im Meeresboden einbetoniert. Je nach Tidenhub und Seegang ragt die schwarz-rot lackierte Spitze der Anlage 5 bis 10 m aus der Wasseroberfläche hervor. Der zweiflüglige Rotor misst 11 m im Durchmesser und dreht sich 15 Mal in der Minute. Seine Blätter sind um 180° zu verstellen, um die Strömung sowohl bei Ebbe als auch bei Flut optimal ausnutzen zu können. Zu Reparatur- und Wartungsarbeiten kann der Rotor samt Generator am Turm hydraulisch über die Wasseroberfläche gefahren werden. Dabei ist die Idee, frei umströmte Rotoren in einen Fluss oder ins Meer zu stellen, relativ jung und hätte ohne die Fortschritte der Windenergie so nicht verwirklicht werden können. Das gesamte Potenzial der Meeresströmungen ist nach Bards Schilderung derzeit noch nicht sicher abzuschätzen, weil es noch an Daten fehlt, die ein zuverlässiges Bild der Strömungsverhältnisse ergeben. Aus der Seefahrt ist die Strömung an der Oberfläche, nicht aber die in 20 bis 30 m Tiefe bekannt. Allerdings lassen sich nach britischen Analysen allein aufgrund der wenigen gesicherten Daten bis zu 48 TWh Strom im Jahr aus der Meeresströmung gewinnen. „Auch ein Land wie Großbritannien“, schätzt Bard, „könnte seinen Strombedarf zu 20 Prozent aus dem Meer decken.“
Gleich mehrere Vorteile hat das Verfahren. Im Gegensatz zum Arbeitsmedium Luft ist das Medium Wasser dichter. Ein vergleichbarer Rotor erzeugt daher unter Wasser mehr Energie als über Wasser. Oder umgekehrt: Um 1 MW elektrische Leistung erzeugen zu können, muss der Rotor einer Windkraftanlage 55 m im Durchmesser groß sein, jener der Seaflow-Anlage aber nur 20 m. Gegenüber Gezeitenkraftwerken mit klassischen Wasserturbinen haben die Unterwasser-Rotoren den Vorteil, dass sie frei im Meer stehend funktionieren. Herkömmliche Turbinen arbeiten dagegen im geschlossenen Rohr. Sie erfordern den Bau einer teuren Staumauer.
Nach vier Jahren Vorbereitungszeit wird die Pilotanlage nach Bards Schätzung etwa ein Jahr erst im Handbetrieb und in diesen Tagen auch im Automatikmodus laufen. Die Wissenschaftler untersuchen, ob ihre Annahmen zutreffen, wie sich die Leistung der Anlage abhängig von der Meeresströmung verhält, welche Belastungen dabei auftreten und wie sich etwa Wind und Seegang auswirken. Wenn sich die Pilot-Anlage bewährt, könnten solche Unterwasser-Rotoren in größerer Zahl errichtet werden und Strom für etwa 5 bis 10 Cent je kWh liefern. Die Stromerzeugung in einem konventionellen Großkraftwerk wird mit mindestens 3 Cent je kWh kalkuliert, in der Photovoltaik betragen die Entstehungskosten etwa 50 Cent. Joachim Bard: „In dem Vergleich ist Seaflow zwar nicht unschlagbar günstig, aber auch nicht so teuer, dass die Weiterentwicklung der Technik aussichtslos wäre.“
Wasserkraft ist auch in Zukunft eine feste Größe
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