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Drang zum Kabel

By-Wire: Mechanische Komponenten mit elektronik vernetzt
Drang zum Kabel

Immer häufiger ersetzt X-by-Wire-Technik die mechanische Verbindung zwischen Fahrer und Fahrzeug. Das herkömmliche Auto wandelt sich in eine elektronisch gesteuerte Hightech-Karosse. Die Notbremse aber schafft niemand so schnell ab.

Wer in das Cockpit des Sportwagens von DaimlerChrysler steigt, sucht vergeblich nach Pedalen oder einem Lenkkrad – das flotte SL-Cabrio ist ein fahrendes Forschungslabor und erhält seine Fahrbefehle über zwei Joysticks. Drückt der Fahrer den Hebel nach vorne, gibt der Motor Gas. Soll es nach links oder rechts gehen, wird einer der Sticks entsprechend bewegt. Ein leichter Druck nach hinten bringt den Flitzer zum Stehen.

Das ist keine Hollywood-Animation, sondern Ergebnis langjähriger Forschungsaktivitäten des schwäbischen Automobilbauers. Drive-by-Wire beruht auf einem computergesteuerten Fahrdynamiksystem, das binnen Sekundenbruchteilen aus aktuellen Daten über den jeweiligen Fahrzustand Sollwerte für eine sichere Fahrweise berechnet. Eine mechanische Verbindung zwischen den Bedienungshebeln und dem Fahrzeug gibt es nicht mehr. Alles läuft elektronisch via Datenleitung ab. Mehrere Hochleistungscomputer übermitteln mechatronischen Aktoren die gewünschten Aktionen des Automobilisten.
Neben den heute schon in Serie eingesetzten Assistenzsystemen wie dynamische Stabilitätskontrolle, aktive Geschwindigkeitsregelung, automatische Abstandsregelung (Active Cruise Control) und Navigationssystemen geht es bei X-by-Wire-Systemen um das elektronische Schalten, Lenken und Bremsen. Für die drei Aufgaben hat die Automobil- und Zulieferindustrie bereits einiges in der Entwicklerpipeline – das meiste befindet sich allerdings im Versuchsstadium.
Bei Volkswagen in Wolfsburg dreht auf einem Testgelände ein umgebauter Golf GTI mittels elektronischer Assistenzsysteme seine Runden. Im Wagen ist kein Fahrer zu sehen. Die elektromechanische Servolenkung, das elektronische Gaspedal und den Bremsbooster betätigt eine Microautobox, die auch Navigationsdaten via DGPS-Plattform (Differential Global Positioning System) verarbeitet. Der Mikrocomputer stammt von der Paderborner dSpace GmbH.
Jenseits des Atlantiks verfolgt General Motors ähnliche Pläne. Das Brennstoffzellenfahrzeug Sequel enthält viele Regel- und Steuerungskomponenten auf Basis von Wire-Technik. So übermittelt das Lenkrad seine Drehbewegungen über eine Datenleitung an die Vorderachse. Bei einem Systemausfall allerdings kann der Fahrer die Räder wieder mechanisch steuern.
Ebenso verfügt die elektronische Bremse des Sequel über eine mechanische Rückfallebene, die im Ernstfall das Abbremsen des Fahrzeugs mit hydraulischem Druck zulässt. Im Fußraum des Van gibt es deshalb nach wie vor die gewohnten Gas- und Bremspedale. Federung und Fahrverhalten jedoch sind vollständig auf Wire-Technik abgestimmt. Mit einem Knopfdruck verändert der Sequel seinen Fahrcharakter, mal spurtet er wie ein Sportwagen, mal gleitet das allradgetriebene Crosscover-Modell wie ein Cadillac.
Als Bussystem für den Datenaustausch im Auto setzen viele Autohersteller auf Flex Ray. Dieser von der Automobil- und Computerindustrie getragene Standard definiert plan- und zeitgesteuerte Kommunikationssysteme für sicherheitskritische Applikationen wie Fail-Safe-Modi, die den Fahrer auch dann nach Hause bringen, wenn die Elektronik versagt. Bei der sicherheitskritischen Chip-Implementierung spielt der offene Standard TTA (Time-Triggered Architecture) die dominierende Rolle, während bei der Anwendungsentwicklung das Industriekonsortium Autosar die wesentlichen Werkzeuge liefert.
Der Knackpunkt der Wire-Technik im Auto ist die Sicherheit der Systeme. Nur fehlertolerante Echtzeitsysteme und einwandfrei programmierte Software kommen für die Serienfertigung in Frage. „Da gibt es noch einigen Forschungsbedarf“, sagt Tilo Koch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fahrzeugtechnik der TU München. Heute sind es meist Zwischenlösungen wie elektrohydraulische Bremsen oder aktive Lenksysteme, die ein konventionelles Lenken und Bremsen des Autos nicht ausschließen. „Die Wirtschaftlichkeit ist ein entscheidender Faktor bei der Frage, welche elektronischen Systeme eingesetzt werden“, resümiert Koch.
Siemens VDO in Regensburg konzentriert sich bei By-Wire-Techniken auf die elektronische Keilbremse, die erste Praxistests erfolgreich hinter sich hat. Nicht nur im Bremsenprüfstand, sondern mittlerweile auch im Fahrzeug regelt das elektronische Bremssystem sehr feinfühlig und präzise die Bremskräfte am Rad. Die zukünftige Entwicklung von Siemens VDO sieht vor, die elektronische Keilbremse gemeinsam mit elektromechanischen Dämpfungs- und Lenksystemen in elektrische Radnabenmotoren zu integrieren. „Wir sind dabei, die Keilbremse zu einem Kernbestandteil eines umfassenden Regelsystems zu machen, das wir eChassis nennen“, sagt Bernd Gombert, zuständig für Chassis und Sicherheit bei Siemens VDO.
Der Vormarsch von Wire-Technik und elektronischen Assistenzsystemen hat auch Schattenseiten. Je intelligenter die Systeme werden, desto mehr kommt es auf eine situativ und zeitlich angepasste Informationsdarbietung sowie sichere und transparente Bedienkonzepte an. Eine geänderte Mensch-Maschine-Interaktion kann beim Fahrer die Risikoeinschätzung und das Fahrverhalten verändern. Der Münchener Psychologe Wolfgang Fastenmeier sieht im Verlust der Kontrollfähigkeit elektronisch gesteuerter Fahrvorgänge auch eine Gefahr: „Bei Systemausfall muss der Fahrer sehr schnell elektronisch automatisierte Funktionen manuell übernehmen, die er schon länger nicht mehr bedient hat“, warnt Fastenmeier.
Der Gesetzgeber zollt diesem Umstand Rechnung, in dem er die Hürden für eine Zulassung von Wire-Technik sehr hoch legt: Mehrfach redundant ausgelegte Systeme sind vorgeschrieben und die Bedienhoheit muss nach wie vor beim Fahrer bleiben.
Andreas Beuthner Fachjournalist in Buchendorf
Sicherheit der Systeme ist Knackpunkt der Wire-Technik

Revolution unter der Motorhaube
Eine Anwendung für Drive-by-Wire ist das E-Gaspedal, bei dem die Stellung des Gaspedals als elektrisches Signal an die Motorsteuerung weitergeleitet wird. Einer der Vorteile: Ein kalter Motor bleibt auch bei Vollgas im niederen Drehzahlbereich. Ziel der Drive-by-Wire-Technik ist es, sämtliche mechanischen Verbindungen wie Lenkung, Gaspedal, Bremsen, Schaltknüppel und Kupplung durch Sensoren und elektromechanische Regler zu ersetzen.
Brake-by-Wire ersetzt das mechanische Bremssystem. Hochleistungs-Elektromotoren erzeugen die Bremskräfte direkt an den Rädern, gesteuert von einer elektronischen Regeleinheit und betätigt über ein elektronisches Bremspedal mit Pedalgefühlsimulator und Sensoren zur Fahrerwunscherkennung. Techniken wie die mechatronische Keilbremse verzichten auf Mechanik und Hydraulik, da keine Bremsflüssigkeit notwendig ist.
Das Lenkrad hat bei Steer-by-Wire keine mechanische Verbindung zur Spurstange. Die Lenksäule wird durch eine Kommunikationsleitung ersetzt. Vorbild sind die Steuerungssysteme in Flugzeugen. Lenkbewegungen wandern über die Datenleitung zu den Aktoren, die die Räder in die gewünschte Position bringen. Die gewohnten Rückstellkräfte bei herkömmlichen Lenkrädern liefern Handkraftaktoren, die dem Fahrer ein Gefühl für den Fahrzustand seines Autos vermitteln.
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