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„Eine Instrumententafel fertigen wir bald mit nur noch einem Werkzeug“

Professor Peter Eyerer und sein Team entwickeln Produktionsverfahren für komplexe Kunststoffteile
„Eine Instrumententafel fertigen wir bald mit nur noch einem Werkzeug“

An mittelständische Kunststoffverarbeiter will die Mannschaft um Professor Peter Eyerer Know-how für modernes Produkt-Engineering weitergeben. Komplexe Teile in einem Schritt mit nur eineinhalb Werkzeugen herzustellen, ist für den Leiter des Pfinztaler Fraunhofer ICT und des IKP der Universität Stuttgart eine Herausforderung, die mittelfristig lösbar ist. Leichtbau-Träger lassen sich schon heute kostengünstig fertigen.

Das Gespräch führte unser Redaktionsmitglied Dr. Bettina Keck – bettina.keck@konradin.de

Professor Eyerer, Mitarbeitern des ICT wurde 2001 und 2002 der Preis der Internationalen Faserverbund-Vereinigung verliehen. Sind Ihre Verfahren, mit denen Sie Kunststoffe verarbeiten, so revolutionär?
Das denke ich schon. Den ersten Preis erhielt die Gruppe um Dr. Frank Henning für das Direktverfahren. Mit dieser Techonologie haben wir eine Fußstütze im Smart aus Faserverbund-Werkstoffen geformt. Darauf folgte der Träger für eine Instrumententafel. Statt aus teuren glasmattenverstärkten Thermoplasten fertigen wir diese Leichtbau-Träger jetzt kostengünstig und großserienfähig aus Langfaser-Thermoplasten auf Basis von Polypropylen.
Was ist der Clou Ihres Direktverfahrens?
Nur die äußeren Schichten oder örtlich zu versteifende Stellen enthalten je eine Lage glasfaserverstärktes Polypropylen, nicht wie bisher üblich das ganze Trägermaterial. Die Mittelschicht füllen wir hingegen kostengünstig mit Recycling-Material des gleichen Kunststoffs aus dem Produktionsabfall. Zukünftig lassen sich außerdem kleingemahlene, zurückgenommene technische Bauteile wiederverwerten. Das gleiche Prinzip können wir beispielsweise für Frontend, Unterboden und Dachelemente anwenden.
Welches ist Ihr nächstes Ziel?
Seit fünf Jahren arbeiten Mitarbeiter unseres Instituts daran, eine komplexe Pkw-Instrumententafel aus nur einem Kunststoff werkzeugfallend herzustellen.
Können Sie den Begriff werkzeugfallend kurz erklären?
Darunter verstehe ich, dass nach dem Urformprozess Folgeschritte in das Werkzeug integriert werden. Ein einfaches Beispiel: Wir können Schraubvorgänge in das Werkzeug verlagern und damit lösbare Verbindungen spritzgießen. Zuerst wird eine Kunststoffplatte mit integriertem Muttergewinde produziert; dann spritzen wir aus einem zweiten Kunststoff die Schraube ein. Aus dem Werkzeug fällt ein Teil, das sich später aufschrauben lässt, beispielsweise zu Reparaturzwecken.
Wie wollen Sie eine komplexe Instrumententafel werkzeugfallend herstellen?
Die Instrumententafel der Zukunft ist ein Einstoff-System und besteht beispielsweise ausschließlich aus Polypropylen: Zuerst stellen wir den Leichtbau-Träger langfaserverstärkt her. Danach verändern wir das Oberteil des Werkzeugs und legen Elektronik, Anzeigeinstrumente, Befestigungselemente und weitere Bestandteile ein. In das geöffnete Werkzeug bringt ein Extruder Treibmittel enthaltendes Kunststoffgranulat oder Masterbatch ein. Dann schließen wir die Form und schäumen das Treibmittel mit Mikrowellen auf. Gleichzeitig soll sich an der kalten Oberseite eine Integralhaut bilden.
Mit Mikrowellen lassen sich also Kunststoffe aufschäumen?
Mikrowellen mit einer Frequenz von 2,45 Gigahertz aktivieren das Treibmittel in den Kunststoffpartikeln. Üblicherweise wird durch externes Heizen, also mittels Wärmeleitung, geschäumt. Die Dicke von technischen Schäumen aus Polypropylen ist dabei jedoch auf maximal fünf Zentimeter limitiert. Wir hingegen führen die Energie mit Mikrowellen zu, wie sie auch in jeder Küche eingesetzt werden.
Bietet das Schäumen mit Mikrowellentechnik Vorteile?
Die Vorteile sind riesig! Erstens kann das Bauteil um ein Vielfaches dicker gestaltet werden. Zweitens ist die Energie spottbillig im Vergleich zu anderen MW-Frequenzen und Energiequellen – ein Kilowatt kostet nur rund zehn Euro. Und drittens bringen wir die Mikrowelle als so genannte intrinsische Energie quasi verlustfreigenau an den Ort des Geschehens, nämlich an das Treibmittel.
Ist diese Methode schon anwendungsreif?
Heute sind wir so weit, dass wir erste Musterteile anfassen können. Bei der Instrumententafel macht diese Anwendung noch einige Schwierigkeiten. Es ist uns aber bereits gelungen, die Mikrowellenstrahlung in das Stahlwerkzeug einzukoppeln. Polypropylen selbst ist zwar unpolar und inaktiv, es wird deshalb auch als Mikrowellengeschirr eingesetzt, beispielsweise um eine Suppe zu erwärmen. Die Teilchen können aber mit polarem Ruß oder farblosem Wasserfrostschutz überzogen und dadurch aktiviert werden. Die Mikrowellen erwärmen dann die Partikel, das Polypropylen schäumt auf und füllt das Werkzeug aus. Diese von uns patentierte Technik wird bereits von Unternehmen angewandt.
Was bleibt bei der Instrumententafel vorerst Vision?
Die Integralhaut, die sich auf der Werkzeug-Oberseite bilden soll, ist leider noch Zukunftsmusik. Auf den Träger mit mikrowellengetriebener Schaumschicht schweißen wir deshalb heute, ebenfalls per Mikrowellentechnik, eine Polypropylen-Folie an. Mein Leitspruch lautet: Wünsche werden selbst erfüllt! Deshalb glaube ich daran, dass auch die Integralhaut realisierbar ist – vielleicht nicht für die Ansprüche eines Unternehmens wie Daimler-Chrysler, aber sicher für viele Wettbewerber.
Sie verstehen sich als Drehscheibe zwischen Forschung und Industrie. Mit wem realisieren Sie Ihre Projekte?
Unser Ziel ist es, Mittelständlern Know-how zu vermitteln. Das Fraunhofer ICT und das IKP der Universität Stuttgart arbeiten mit mehr als 300 Mittelständlern zusammen – vom Werkzeugmacher bis zum Zulieferer. Dazu kommen schätzungsweise rund 50 große Firmen. Am Projekt Werkzeugfallende Instrumententafel sind das ICT und Unternehmen wie Daimler-Chrysler, BMW, Dieffenbacher, Dow Automotive, Vetrotex sowie Werkzeugmacher beteiligt. Am IKP wird die Instrumententafel ganzheitlich bilanziert.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Ganzheitliche Bilanzierung“?
Mit Hilfe einer eigens entwickelten Software untersuchen wir, wie sich Produkte, Systeme und Dienstleistungen über ihren gesamten Lebensweg auf die Umwelt auswirken. Die Basis der ganzheitlichen Bilanzierung bilden technische und wirtschaftliche Pflichtenhefte. Indem wir Energie- und Stoff-Fluss für Prozessketten auf den Grund gehen, enthüllen wir komplexe Zusammenhänge und erleichtern so Entscheidungen.
Welchen Stellenwert hat die vom IKP entwickelte ganzheitliche Bilanzierung?
Ich sage, unsere Methodik ist weltweit Nummer eins in Sachen ganzheitliche Bilanzierung. Beweis dafür: Außer Volvo arbeitet mittlerweile jeder Automobilhersteller in Europa und in den USA mit der Software Gabi 3.2, die meine Mitarbeiter am IKP in Zusammenarbeit mit der PE Europe GmbH, Dettingen, entwickelt haben. 1993 waren wir die ersten, die mit VW das Auto vollständig bilanzierten. Es folgten Daimler-Chrysler mit der A- und S-Klasse, Porsche und andere. Mittlerweile haben wir Zweigstellen in Japan und USA und außerdem 15 Mitarbeiter in der von uns gegründeten Firma PE Europe in Leinfelden-Echterdingen.
Zur Person
Seit 1979 ist Professor Peter Eyerer Direktor am Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde (IKP) der Universität Stuttgart. Die Methode der ganzheitlichen Bilanzierung wurde hier entwickelt. Seit 1994 leitet der 61-jährige gelernte Maschinenbau-Ingenieur außerdem das Fraunhofer Institut für Chemische Technologie (ICT) in Pfinztal. Einige der 345 Mitarbeiter sind an der Mikrowellentechnik sowie an Projekten beteiligt, komplexe Kunststoffteile werkzeugfallend herzustellen. Der Inhaber des Stuttgarter Lehrstuhls für Werkstoffkunde der Metalle und Kunststoffe ist nicht nur in der Forschung aktiv, sondern war auch elf Jahre in der Industrie tätig. Außerdem darf sich Eyerer seit 1999 Ehrenprofessor der Technischen Universität von Melbourne, Australien, nennen. Dort beschäftigt sich das Institut Iris unter Leitung von Professor Elias Siores ebenfalls mit der Mikrowellentechnik.
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