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Führungskräfte werden fit für den Wandel

Abteilungschefs beim Mittelständler Harting auf dem Prüfstand
Führungskräfte werden fit für den Wandel

Ein Bewertungsverfahren für Führungskräfte kann verkrustete Strukturen im mittelständischen Betrieb aufbrechen, wie ein Beispiel bei Harting Electronics zeigt. Für den Wandel ist ein langer Atem gefragt.

Michael Gestmann ist Fachjournalist in Bonn

Die Entscheidung zum Wechsel fiel ihm leicht. Als Markus Paschmann seinen Managerposten bei Siemens gegen die Funktion des Divisionsleiters Elektroniksteckverbinder bei der Harting Electronics GmbH tauschte, fand er alles vor, was einen erfolgreichen Mittelständler auszeichnet: exzellente Produkte und qualifizierte Mitarbeiter. Allerdings sah der Wirtschaftsingenieur die Herausforderungen, vor denen die Unternehmensgruppe aus Espelkamp bei Bielefeld stand. Das Tempo der Märkte erforderte schnellere Entscheidungswege. Vor allem in der Sparte für Elektroniksteckverbinder mussten Impulse her, um sich von der Abhängigkeit der Telekommunikationsbranche (60 % Umsatzanteil) zu lösen.
„Wir brauchten eine Firmenkultur, in der Offenheit, Transparenz und Eigeninitiative selbstverständlich sind“, blickt Paschmann zurück. Für seine Mannschaft bedeutete das einen Kultur- und Strukturwandel. Über Jahrzehnte hatten sich trotz aller Erfolge einige unliebsame Gewohnheiten eingeschlichen. Es herrschte stark funktionales Abteilungsdenken, Führungspositionen wurden teilweise nicht nur nach Leistungsfähigkeit, sondern eher nach Dauer der Firmenzugehörigkeit vergeben.
Um für die notwendigen Veränderungen zu sorgen, wollte Paschmann Einblick in das Führungsverhalten seiner Mitarbeiter gewinnen. Eine Neustrukturierung der Technologiegruppe kam dem 37-Jährigen zur Hilfe: Sie bot Paschmann die Möglichkeit, die Unternehmenskultur von zentraler Stelle aus zu verbessern.
Dazu holte er sich eine Münchner Beratungsgesellschaft ins Haus. Die Spezialisten der Compass Team Consulting sollten ursprünglich in Workshops den zwölf Abteilungsleitern unternehmerisches Führungsverhalten vermitteln. Doch schnell zeigte sich, dass dieser Ansatz zu kurz griff. „Um unsere Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können, brauchten wir keine Verhaltenstrainings, sondern eine Dialogkultur“, wurde Paschmann und Klaus Medicus, dem Compass-Chef, klar.
Paschmann führte gemeinsam mit Medicus ein so genanntes Multirater-Verfahren ein, den Leadership-Circle. Dieses Verfahren ermöglicht eine Rundum-Beurteilung von Führungskräften und Mitarbeitern. In den Feedback-Prozess werden alle Personen und Hierarchieebenen eingebunden, die mit den Betroffenen unmittelbar zusammenarbeiten: Vorgesetzte und Kollegen geben ihre Einschätzung über das Arbeitsverhalten und die Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters ab. So lassen sich die Selbst- und Fremdbilder abgleichen, aber auch die Effektivität des Führungs- und Arbeitsverhaltens anhand von Referenzdaten messen. Diese Daten beziehen sich
  • auf Grundhaltungen
  • auf Persönlichkeitsdimensionen wie Einfühlungsvermögen
  • auf Kompetenzen wie effektive Kommunikation
  • auf so genannte abgeleitete Spin-out-Faktoren, wenn einer beispielsweise nur Hindernisse statt Möglichkeiten sieht.
Um dem Willen zu Transparenz Nachdruck zu verleihen, ließ sich Paschmann selbst als erster beurteilen. „Wenn ich das Instrument nicht ernst nehme, werden es auch meine Leute nicht tun“, beschreibt der Wirtschaftsingenieur die Vorbildfunktion. Daher stellte er sich den kritischen Urteilen seines Leitungskreises.
  • Was läuft ihrer Ansicht nach gut?
  • Was sind die Defizite in seinem Führungsstil?
  • Und was muss sich ändern, um eine besser Leistungsfähigkeit zu erzielen und schneller am Markt agieren zu können?
Gleichzeitig machte Paschmann deutlich, was er sich an Änderungen von seinen Führungskräften wünschte. „Obwohl sich die meisten erst an diese Offenheit gewöhnen mussten, war es ein sehr intensiver Austausch“, sagt Berater Medicus, der den Workshop leitete. Und Paschmann fügt hinzu: „Zum ersten Mal hatten alle das Gefühl, dass alle wichtigen Themen auf den Tisch kamen.“
Die Ergebnisse ermunterten ihn, den Prozess im Unternehmen zu verbreiten. So forderte er seine Führungskräfte auf, sich ihrerseits einem Feedback mit ihren Mitarbeitern zu stellen. Im ersten Schritt erfolgte für jede Führungskraft eine Fremdeinschätzung. Dazu beurteilten Paschmann, vier Kollegen und jeweils vier bis 15 Mitarbeiter anonym die Arbeitsweisen der einzelnen Abteilungsleiter anhand der Fragebögen. Berater Medicus wertete im zweiten Schritt die Bögen aus und verglich in einem Gespräch mit jeder Führungskraft Selbst- und Fremdbilder. Im dritten Schritt erarbeitete jeder Abteilungsleiter mit seinen Mitarbeitern in einem halbtägigen Workshop Verbesserungsvorschläge für die Zusammenarbeit.
Abgeschlossen wurde der Feedback-Prozess schließlich durch ein so genanntes Transfergespräch zwischen Abteilungsleiter, Geschäftsführer und Coach. „Hier wurden noch einmal die grundsätzlichen Führungsprobleme besprochen, etwa zu viele ergebnislosen Meetings, und Veränderungsmaßnahmen vereinbart“, erläutert Medicus.
Der Prozess dauerte rund fünf bis sechs Wochen. Paschmann führte weitere Verbesserungen ein: So werden regelmäßig schriftlich Zielvereinbarungen getroffen. Am Ende des Jahres findet ein Orientierungsgespräch statt. Und talentierte Nachwuchskräfte werden nun in einem zweijährigen Programm gefördert. „Erst zusammen mit diesen Maßnahmen verspricht das 360-Grad-Feedback Erfolg“, sagt Klaus Medicus. Nur so könne die Gesamtsituation in einer Firma betrachtet werden. Denn immer wieder erlebt der Coach, dass Firmenchefs sich nur auf das Feedback verlassen und falsche Schlüsse ziehen. Ein Problem dabei ist: Nicht selten erhalten Chefs, die Leistung fordern, von ihren Mitarbeitern schlechte Noten. Und Führungskräfte, die am Status quo nicht viel ändern wollen, stehen bei ihren Leuten in der Beliebtheitsskala ganz oben. Deshalb muss ein Chef die Einschätzungen der Mitarbeiter sorgfältig überprüfen. Medicus setzt dort auf Teamtrainings-Instrumente.
Aus Paschmanns Sicht ist die Kommunikation im Unternehmen inzwischen viel effektiver. Viele Positionen konnten durch eine klarere Aufgabenbeschreibung besser besetzt werden.
Nachdem das Feedback den Prozess der Balanced-Scorecard-Einführung begleitet und ein zweiter Geschäftsführer die Leitung komplettiert hatte, war die Führungsmannschaft bereit für eine zweite Runde. Berater Medicus lud die beiden Geschäftsführer zu Selbstreflexions-Workshops und einer eintägigen Veranstaltung mit dem gesamten Leitungskreis ein. Dabei standen die Einschätzung der Führungskultur und die Frage nach dem gemeinsamen Ziel im Vordergrund. Später startete ein weiterer Feedback-Prozess mit den Geschäftsführern, die sich von ihren Abteilungsleitern und Geschäftsführern anderer Harting-Gesellschaften sowie dem Holding-Vorstand beurteilen ließen. Dann folgte der Check für die Abteilungsleiter.
Dank der Wiederholungen schlägt die neue Kultur im Unternehmen immer tiefer Wurzeln. „Die Qualität des zweiten Feedbacks war deutlich höher“, zieht Geschäftsführer Paschmann Bilanz.
Wurden Führungskräfte noch vor drei Jahren selten kritisiert, gehöre das jetzt zum Alltag. So halten die Mitarbeiter mit ihren Anliegen nicht mehr hinter dem Berg. Konflikte werden direkt angesprochen. Und hierarchische Allüren offen zum Thema gemacht. Doch bis die neue Führungskultur als selbstverständlich gilt, soll das 360-Grad-Feedback alle zwei Jahre durchgeführt und der Kreis der direkt beteiligten Mitarbeiter ausgeweitet werden. Ein langer Weg, der viel Geduld erfordert. Doch das war Paschmann von vornherein klar: „Um eine Kultur nachhaltig zu verändern, dauert es mindestens sieben Jahre.“
Problem: Wer wenig Leistung fordert, hat häufig viele Fans

Das 360-Grad-Feedback
Berater Klaus Medicus, Chef der Team Compass Consulting aus München, nennt die Grundsätze des 360-Grad-Feedback-Verfahrens:
  • Ergebnisse sollten nicht als Geheimsache behandelt werden.
  • Das Feedback darf nicht zur Abrechnung mit dem Eingeschätzten genutzt werden.
  • Das Verfahren sollte nicht eingesetzt werden, wenn im Arbeitsfeld tiefgreifende Konflikte vorhanden sind.
  • Die abgeleiteten Maßnahmen sollen einem Controlling unterworfen werden.
  • Es darf nicht Sanktionen legitimieren, sondern Entwicklungsfelder aufzeigen.
  • Die Anonymität der Einschätzer muss gewährleistet werden.
  • Die Ergebnisse sind immer gefärbt und überlagert durch aktuelle Ereignisse.
  • Das Feedback stellt keine Wertung der Führungswirkung dar, wenn in autoritären Systemen die Angst so groß ist, dass nur positive Rückmeldungen gegeben werden.
  • Der wahre Wert des Feedbacks liegt in der Auswertung.
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
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