Startseite » Allgemein »

Geschmeidig wie Gummi, aber belastbar wie Kruppstahl

Titanbearbeitung: Wie man mit dem widerspenstigen Werkstoff fertig wird
Geschmeidig wie Gummi, aber belastbar wie Kruppstahl

Titan gilt in der Medizintechnik als Werkstoff der Wahl, ließ sich bislang aber nur aufwendig und wenig wirtschaftlich bearbeiten. Neue und verfeinerte Verfahren schaffen jetzt Abhilfe.

Titan verhalte sich fast so wie Gummi, stellt Anwendungsforscher Peter Uttenthaler von der Luxemburger Ceratizit S.A. mit einem Schulterzucken fest. „Beim Zerspanen gibt das Metall zunächst der Kraft der Schneide nach, drückt dann aber wieder gegen die Schnittrichtung zurück.“ Das Ergebnis bei der spanabhebenden Titanbearbeitung mit konventionellen Tools seien hohe Temperaturen und Diffusionsvorgänge zwischen Werkstück und Schneide. Oder anders ausgedrückt: Ein überaus rascher Werkzeugverschleiß. Hinzu kommen lange Späne, die das vollautomatische Fertigen ganzer Serien unmöglich machen.

Ceratizit – ein auf die Entwicklung und Produktion von Hartstofftools- und teilen spezialisierter Konzern – ist eines aus einer Reihe von Unternehmen, die am Metall der Götter die Zähne strapazieren: Bei 4,51 g/cm³ rund halb so schwer wie Eisen und damit ein Leichtmetall, aber legiert und mit Zugfestigkeiten bis 895 N/mm² ein Drittel zäher als Stahl, gilt Titan als Werkstoff der Zukunft. Mit herkömmlicher Zerspanungstechnik sind jedoch gerade die sprödharten Legierungen dieses Metalls kaum zu bearbeiten.
Vergleichbares gilt für das Umformen, denn mit 1660 °C liegt die Schmelztemperatur über der von Stahl. Für rissfreie Verformung steht nur ein enger elastischer Bereich zur Verfügung. Insoweit ist entweder eine aufwendige Warmbehandlung zwischen 500 und 800 °C erforderlich, oder die Titanlegierung muss nach dem Kaltverformen noch einmal warmgepresst werden. Beides ist teuer.
Fertigungstechnische Forschung, so wie sie unter anderem Peter Uttenthalers Ceratizit betreibt, lohnt daher durchaus: Weltweit werden pro Jahr über 75 000 t Titan produziert und bislang vor allem in Luft- und Raumfahrt sowie im Schiffs- und Automobilbau eingesetzt. Allerdings stagnieren die Stückzahlen jener Branchen. Für die seit Jahren gradlinig wachsende Medizintechnik werden aus Titan beispielsweise korrosionsbeständige, gut sterilisierbare und allergisch unbedenkliche Instrumente hergestellt. Hinzu kommt, dass Titan als Implantat verwendbar ist: Es verhält sich inert zum Körpergewebe. Und da es de facto keinen Magnetismus aufweist, empfiehlt es sich für den Einsatz in der Kernspintomographie. Allerdings ist die Fertigung geometrisch komplexer und kleiner Teile aus Titan teuer und aufwendig. Dies hat die Verwendung des Metalls auch in einer Wachstumsbranche wie der Medizintechnik bisher eingeschränkt.
Neuere Entwicklungen könnten helfen, etwas vom Kostenballast abzuwerfen. So hat das Institut für Werkstoffe der TU Braunschweig ein Verfahren entwickelt, das Legierungen wie das vor allem in der Chirurgie verwendete TiAl6V4 (6 % Aluminium-Anteil, 4% Vanadium, der Rest Rein-Titan) zunächst weicher und besser bearbeitbar macht, um es anschließend nahezu vollständig wieder in den Ursprungszustand zu überführen. Der Weg dahin: Prof. Joachim Rösler und sein Team bringen die Titanbauteile qua Wärmebehandlung dazu, Wasserstoff einzulagern. In dieser modifizierten Struktur gebohrt, gedreht, geschliffen, gewindet oder gefräst, fällt die mechanische und thermische Belastung von Werkzeug und Werkzeugmaschine bis zu 50 % geringer aus. Dies senkt die Fertigungskosten erheblich.
Die ursprünglichen Eigenschaften des Titans stellt Rösler wieder her, indem er dem Bauteil durch neuerliche Wärmebehandlung den Weichmacher Wasserstoff wieder entzieht. Dadurch kehren die im praktischen Einsatz gewünschten Merkmale – Sprödhärte, Elastizität und Zugfestigkeit – weitgehend wieder. Insoweit mehrere Teile parallel behandelt werden könnten, sei das Verfahren auch für die Großserienproduktion geeignet, stellt Prof. Rösler in Aussicht.
Für einen weiteren Kunstgriff haben die Braunschweiger Forscher den Stahlherstellern über die Schulter geschaut: Beim Spanen wird der Werkstoff nämlich einfach zerbröselt. Wenn dem Titan im Schmelzzustand Lanthan beigegeben wird – ein Element, das in Erzen versteckt ist – fallen beim Bearbeiten der Legierung nur noch sehr kurz brechende Späne an. Damit wird nicht nur der Wärmeeintrag ins Werkzeug verringert und steigt die Standzeit der Schneidplat- ten an. Vielmehr können die Titanbauteile jetzt auch im sicheren Prozess produziert werden, ohne dass meterlang Späne sich verheddern. In der Stahlbearbeitung seit langem bekannt, wird der Effekt dort bei einer speziellen Sorte, dem Automatenstahl genutzt. Durch den Legierungszusatz Lanthan entsteht also „Automaten-Titan“.
Das Bremer Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung wiederum hat ein Verfahren zur Serienreife gebracht, bei dem Titanpulver durch Zusatz thermoplastischer Kunststoffe und Wachse fließfähig gemacht und in einem ansonsten konventionellen Spritzguss urgeformt wird. Nach dem Gießen wird das Trägermaterial in einem gesonderten Prozess entfernt und das Werkstück auf Dichte behandelt. Das Besondere an dem MIM – metal injection moulding – genannten Verfahren ist, dass sich damit auch miniaturisierte Bauteile mit Hinterschneidungen, Rippen und dünnen Wänden in Serie herstellen lassen.
Arbeiten nun vor allem universitätsnahe Institute daran, die Titanwerkstoffe selbst auf Bearbeitbarkeit zu trimmen, forschen die Werkzeughersteller eher an des Messers Schneide. So hat Peter Uttenthaler’s Ceratizit-Gruppe Fräswerkzeuge mit extrem scharfen Schneidkanten entwickelt, die dem zäh-spröden Titan besser zu Leibe rücken. Beschichtungen, die die Prozesshitze weitgehend abweisen sowie eine ausgeklügelte Kühlschmierung senken den Verschleiß. Trotz Gummi-ähnlichen Schnittverhaltens bekommen die Werkstücke damit die gewünschte Silhouette und bleiben dennoch hart wie Kruppstahl.
Auch die Anbieter spanender Werkzeugmaschinen greifen den Trend zu Titan als Premium-Werkstoff auf und feilen an ihrem Programm. Die Mikron AG in Nidau etwa – ein zum Schweizer Georg-Fischer-Konzern gehörender Hersteller von Hochleistungs- und Highspeed-Bearbeitungszentren für Metallbauteile – hat sich mit den ProMed- und ProMed-Dental-Maschinen erstmals auf die Forderungen der Medizintechnik und die automatisierte Zerpanung von Titan konzentriert.
Das für solche Legierungen typische Problem von Aufbauschneiden und Adhäsion trete so gut wie ausschließlich beim groben Schruppen auf, so dass hier in der Regel mit geringer Spindeldrehzahl und entsprechend höherer axialer und lateraler Zustellung gearbeitet werden könne, erklärt Mikron-Markenmanager Jens Thing. In solchen Einsatzfällen könne die Leistungsbreite moderner Motorspindeln mit hohem Drehmoment und Drehzahlen bis zu 54000 min-1 optimal genutzt werden. Diese aus bearbeitungstechnischer Sicht hohe Flexibilität der ProMed-Fräszentren HSM 400U und UCP 600 Vario trage wesentlich dazu bei, die Stückzeiten und Fertigungskosten zu senken. Gleichzeitig würden der Detailierungsgrad und die Oberflächenqualität der medizintechnischen Teile verbessert. Laut Thing kommt auch der Entsorgung der Späne und der Aufbereitung der Kühlschmiermittel bei der Titanbearbeitung große Bedeutung zu. Daher seien die ProMed-Maschinen entsprechend dem voraussichtlichen Spänevolumen mit angepasster Bandfiltertechnologie ausgerüstet, die einen reibungslosen Produktionsbetrieb ermöglichte.
Werkzeugmaschinenbauer wie die gleichfalls zu Georg Fischer zählenden Schweizer Unternehmen Agie und Charmilles indes haben wenig Anlass, spezielle Baureihen auf dem Markt zu bringen: Wie prinzipiell jedes Funkenerosions-System, sind ihre Anlagen von Haus aus fit für die Titanbearbeitung. EDM-Maschinen – electric discharge machining – arbeiten im Lichtbogenverfahren. Getaucht in eine leitende Flüssigkeit, das Dielektrikum, wird das abzutragende Material in winzigen Partikeln aus dem Werkstück herausgerissen. Die Härte und Zähigkeit ist dabei nachrangig: Entscheidend ist, dass der Werkstoff elektrisch leitet. EDM-bearbeitete Werkstücke sind bis auf tausendstel Millimeter präzise dimensioniert und haben eine feine Oberfläche. Allerdings ist EDM kein Massen-Fertigungsverfahren.
Dies ist auch bei dem verwandten Verfahren ECM nicht der Fall (siehe Kasten). Der Unterschied ist, dass das Titan hier nicht im Lichtbogen abgetragen wird, sondern elektrochemisch. Unter dem Strich bleibt der Nutzen ähnlich: Den Maschinen ist völlig gleich, wie hart oder nachgiebig das Titan ist.
Wolfgang Filì Journalist in Köln
Lanthan macht die Späne kurz

Vielseitiges Titan
Titan und Titanlegierungen werden in der Medizintechnik eingesetzt als
  • Gelenkersatzteile für Hüfte, Knie, Schulter, Wirbelsäule, Ellbogen und Hand
  • Fixiermaterial für Knochen wie Nägel, Schrauben und Platten
  • Implantate und Teile zur kieferorthopädischen Chirurgie und zahnärztlichen Prothetik
  • Herzschrittmachergehäuse und Herzklappen
  • Instrumente für die Herz- und Augenchirurgie
  • Bauteile in schnell laufenden Blutzentrifugen
  • Gehhilfen und Rollstühle
Für Implantate und Teile, die im menschlichen Körper mechanisch wenig belastet sind, wird vorwiegend unlegiertes Titan verwendet. Bei Endoprothesen und Instrumenten kommen häufig Legierungen zum Einsatz. In der Dentaltechnik werden sowohl die Reintitanwerkstoffe wie auch Legierungen wie TiAl6V4 genutzt.

… wie in Butter

532631

Beim electrochemical machining (ECM) ist die Härte des Werkstoffs nachrangig. Entscheidend ist vielmehr, ob er elektrisch leitet. Bei ECM liegen Formwerkzeug und Werkstück mit 0,05 bis 2 mm Abstand am Plus- und Minuspol einer Gleichstromquelle von maximal 20 V Spannung an. Durch den Spalt strömt eine Elektrolytlösung. Wird das Werkzeug verfahren – in Titan sind Vorschübe bis 4 mm/min üblich – findet ein elektrochemischer Prozess statt, der den Werkstoff örtlich auflöst. Das Teil nimmt die Negativform des Tools an. Das Oberflächengefüge des Werkstücks bleibt dabei unbeeinflusst. Höchste Prozesstemperatur sind 80 °C.
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Tipps der Redaktion

Unsere Technik-Empfehlungen für Sie

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de