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High-Tech-Werkstoffe werden programmiert wie Computerchips

Nanotechnologie initiiert Innovationen in allen Industriebereichen
High-Tech-Werkstoffe werden programmiert wie Computerchips

Die Herstellung von Materie im Nano-Maßstab bietet so viele Freiheitsgrade, dass sich Eigenschaften und Funktionen nahezu beliebig vorgeben lassen. Nach zehn Jahren Grundlagenforschung und Technologieentwicklung ist jetzt in Deutschland der Durchbruch zur breiten Industrieanwendung geschafft.

Franz Frisch ist Technologie-Publizist in München

Am Rand des Becherglases bewegt die Wissenschaftlerin einen kleinen Magneten nach oben. Sofort steigt die dunkle Flüssigkeit im Gefäß hoch. Wie in einem Weltraumlabor überwindet sie die Schwerkraft. Mit dieser Magnetflüssigkeit können vielleicht noch in diesem Jahrzehnt Menschen geheilt werden, die vom Schicksalsschlag einer Krebserkrankung getroffen werden. Die neue sanfte Tumortherapie erfordert keinen chirurgischen Eingriff und auch keine Chemo- und Strahlentherapie.
Was wie schwerelose Tusche anmutet, stellt eine besondere Zustandsform der Materie dar: Jeder Tropfen enthält Milliarden Nanopartikel, die so winzig sind, dass 10000 von ihnen auf den Durchmesser eines Menschenhaares passen würden. Bei der neuen Krebstherapie, die an der Berliner Charité-Klinik entwickelt wird, kommt es darauf an, dass die Nanopartikel reibungslos durch jedes Blutgefäß strömen können, um anschließend millionenfach von den Tumorzellen aufgenommen zu werden. Sie müssen daher 1000 Mal kleiner sein als rote Blutkörperchen.
„Wir besitzen mit der Nanotechnologie den Schlüssel für die sogenannte Hyperthermie-Therapie, die Dr. Andreas Jordan in Berlin entwickelt”, sagt Professor Dr. Helmut Schmidt, Geschäftsführer des Leibniz-Instituts für Neue Materialien (INM) in Saarbrücken. Schmidt und seine Mitarbeiter beherrschen nicht nur die Technologie, solche Nanopartikel in großem Maßstab für die materialverarbeitende Industrie herzustellen. Sie haben auch die Möglichkeit, ihre Oberfläche biochemisch so raffiniert zu tarnen, dass gefräßige Krebszellen sie als vermeintlichen Nährstoff in sich aufnehmen. Das Wirkprinzip dieser Therapie ist faszinierend: Durch Injektionen oder über die Blutbahn werden Nanopartikel aus Eisenoxid in den Tumor gebracht. Hat sich die gesamte Krebsgeschwulst mit Nanopartikeln „vollgefressen”, schalten die Mediziner einen neu entwickelten Magnetfeldgenerator ein. Das für den Menschen ungefährliche Magnetfeld erwärmt die Nanopartikel. Die Krebszellen bekommen gleichsam hohes Fieber und sterben ab. Für ihre Beseitigung sorgt der Körper selbst. Charité-Forscher Jordan: „Die Nanopartikel des INM sind in ihrer Funktion bereits so fortgeschritten, dass sie von Krebszellen in hoher Zahl aufgenommen werden. Das zeigen unsere letzten Ergebnisse.”
Die Therapie nutzt eine besondere Zustandsform der Materie, die neue Freiheitsgrade bei der Entwicklung von High-Tech-Werkstoffen eröffnet: Nano-Materie lässt sich in vielfältige technische, medizinische und andere Innovationen umsetzen. Es geht dabei um eine Welt neuer Werkstoffe, die alle auf dem gleichen Grundsystem beruhen: Nanopartikel werden aus den unterschiedlichsten Materialien hergestellt. „Wir pfropfen auf die Nanopartikel viele zusätzliche chemische und physikalische Funktionen auf”, erklärt Professor Schmidt. „Auf diese Weise können wir die Eigenschaften oder die Reaktivität dieser Nanopartikel so programmieren, dass sie entweder selbst oder eingebunden in Polymer-, Glas- oder Keramikstrukturen zu neuen Hochleistungswerkstoffen werden.” Dadurch entstünden weitere Freiheitsgrade. Schließlich ließen sich die Materialfunktionen auch noch durch den Verarbeitungsprozess steuern.
Die chemische Nanotechnologie eröffnet eine neue Dimension in der Nanowelt, die als wichtiges Zukunftsfeld betrachtet und traditionell von der Physik dominiert wird. „Als ich 1990 meine Absicht erklärte, aus den wissenschaftlichen Grundlagen der Sol-Gel-Technik heraus eine Technologie für Nanowerkstoffe nicht über physikalische Verfahren sondern über chemische Synthesen aufzubauen, stieß ich bei damals führenden Experten auf Skepsis und Kritik”, erinnert sich Helmut Schmidt. Inzwischen würden immer mehr auf diesen Zug aufspringen. „Nach zehn Jahren, in denen wir von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung vorgedrungen sind, steht die chemische Nanotechnologie jetzt zur breiten Umsetzung in der Industrie bereit – früher als in den USA und Japan.”
Sie beruht vor allem auf dem chemischen Sol-Gel-Prozess, einer in der Werkstoffentwicklung bisher wenig genutzten Variante der anorganischen Synthesechemie. Mit ihm lassen sich aus flüssigen Ausgangsprodukten bei niedrigen Temperaturen anorganische oder anorganisch-organische Werkstoffe herstellen und in Zusammensetzung und Struktur breit gestalten. Schmidt erkannte als Erster, dass der Sol-Gel-Prozess eine ideale Basis ist, um Nanopartikel – eine Zwischenstufe zwischen den atomaren Bausteinen der Materie und einem kompakten Körper – in vielfältiger Weise herzustellen und in der Werkstoffsynthese einzusetzen. In der Praxis läuft der Prozess heute für verschiedene Anwendungen in einem elektronisch gesteuerten Sol-Gel-Reaktor ab, in dem pro Durchgang bis zu 100 l eines neuen Materials produziert werden können. Ergebnis ist ein flüssiges Gel, das bereits das gesamte „Programm” des Werkstoffs enthält. Durch einfache Anwendungsverfahren – bei Beschichtungen zum Beispiel Sprühen, Tauchen oder Schleuderverfahren – bildet das Material dann selbsttätig die gewünschte Funktion aus.
Wie vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten sind, zeigt neben der Krebstherapie das ganz andere Beispiel des Joint Ventures Exatec, das von den Multikonzernen Bayer und General Electric Plastics (USA) gegründet wurde. Sein künftiges Big Business mit der Automobilindustrie gründet das mit deutschem Sitz in Bergisch-Gladbach niedergelassene Unternehmen auf eine unsichtbare Beschichtung: Polycarbonat (PC), der Werkstoff der CD, ist auch ein ideales Material für Autofenster und Karosserie-Komponenten. Es ist viel leichter als Glas und Stahl, außerdem bruch-, schlag- und schussfest. Designern eröffnet es ganz neue Möglichkeiten, weil es sich nahezu beliebig formen lässt. Die empfindliche Oberfläche muss jedoch so kratzfest werden wie Glas. Mit der Nanomer-Technologie des INM wird dieses Ziel greifbar. Die Exatec GmbH & Co. KG denkt sogar an die Herstellung ganzer Heckpartien aus PC, in denen die Scheibe von Anfang an integriert ist.
Gefördert wurde der Aufbau der Nanotechnologie zunächst vom Saarland, stieß aber rasch auf starkes internationales Interesse. So konnte Schmidt den Umsatz seiner Denkfabrik mit dem Bundesforschungsministerium, der EU-Kommission sowie in- und ausländischen Industrieunternehmen in den letzten fünf Jahren mehr als verfünffachen. Der Beitrag des Saarlandes zum 30-Millionen-Umsatz des INM betrug 1999 daher nur noch 15%. In den letzten Jahren haben mehrere hundert Industrieunternehmen Kooperationen mit dem INM begonnen. Allein 1999 war die Industrie mit 90 Entwicklungsprojekten beteiligt. Zu den Partnern zählen neben deutschen Firmen wie Bayer, Siemens, Infineon und Henkel auch europäische wie Thomson, Rhone Poulenc, Saint-Gobain und Pilkington. US-Multis wie 3M, Donelly, General Electric und Procter & Gamble sind ebenso vertreten wie Japans Asahi, Nippon Steel, Canon und Toto.
Zu den Großen gesellten sich aber auch viele kleine und mittelständische Firmen, beispielsweise die Nanosol GmbH im saarländischen St. Ingbert. Ohne Konkurrenz stellt das nur vier Mitarbeiter zählende Unternehmen feine Edelstahlröhrchen her, die innen mit einer hauchdünnen robusten Antihaft-Beschichtung veredelt sind. Die Firma beliefert damit alle bekannten Hersteller von medizinischen Analyse- und Testgeräten, in denen Blut und andere Flüssigkeiten zirkulieren. Durch die schmutzabweisende Beschichtung wird der Reinigungsaufwand zwischen einzelnen Tests drastisch reduziert.
So unterschiedlich wie die Branchen und die Firmengrößen sind auch die Innovationen selbst, die durch die chemische Nanotechnologie möglich werden. Die folgenden Beispiele illustrieren, dass die Anwendungen schon heute quer durch die Industrie reichen:
– Mit Nanotechnologie lassen sich hochfeste, elektrisch leitende Keramikbauteile herstellen. Die Mex + Wonisch GmbH & Co. KG stellt einen neuartigen Glühzünder für Gasheizanlagen her, der nur noch aus einem winzigen Keramikelement besteht und mit gewöhnlichem Netzstrom funktioniert.
– Nanopartikel aus Glas ermöglichen die Produktion von hochwirksamen, transparenten und brandsicheren anorganischen Klebstoffen für viele Anwendungen. Das Material eignet sich zum Beispiel ideal, um optoelektronische Bauelemente miteinander zu koppeln. Für den Leichtbau eröffnen sich neue Lösungen durch feste und brandsichere Baustoffe aus Naturfasern wie Stroh und Hanf.
– Zwischen zwei Glasscheiben eingebrachte Nanoschichten bieten erstmals kostengünstig herstellbare elektrochrome Bauteile: Die in der Architektur eingesetzten großflächigen Fensterscheiben dunkeln – elektrisch gesteuert – stufenlos ab. In großflächigen Displays können die Anzeigeelemente beliebig gestaltet werden.
– Breiten Raum nimmt die Oberflächenveredelung von Metallen ein: Die transparenten, mikrometerdünnen Nanoschichten ergeben einen wirksamen Korrosionsschutz etwa für Aluminium- und Magnesiumteile. Sie bilden eine dichte, kratzfeste Oberfläche, die sich chemisch fest mit dem Grundmaterial verbindet. Auch robuste mikrometerdünne Glasschichten auf Edelstahl sind anwendungsreif. Mehrfach bereits im Einsatz: Antihaftschichten im Maschinenbau, die sich auf beliebig große Flächen einfach durch Sprühen oder Tauchen aufbringen lassen. Überall dort, wo flüssige klebrige Massen verarbeitet und schließlich von Metallbauteilen getrennt werden müssen, bieten die dauerhaften Easy-to-clean-Oberflächen des INM eine wirksame Entformungshilfe. Erste Beispiele dafür sind riesige Walzen in Papiermaschinen oder die Metallnetze in der Teppichproduktion, auf denen die Schaumstoffrücken entstehen.
– Flächen mit Tausenden von Quadratmetern stehen Raffinessen im Mikromaßstab gegenüber. Schmidt und seine Mitarbeiter beherrschen die Technologie, transparente kratzfeste Beschichtungen auf Metall oder Kunststoff aufzubringen und in diese Schichten komplexe Mikrometer-Strukturen einzuprägen. So lassen sich unfälschbare Hologramme kostengünstig als Gütesiegel auf viele Bauteile aufbringen.
– Auch neue Rapid-Prototyping-Techniken sind verfügbar. Geplant ist zum Beispiel die rasche Herstellung hochwertiger Zahnkronen.
– Wie einfach die Lösung bisher unüberwindlicher technisch-ökonomischer Hürden mit chemischer Nanotechnologie werden kann, zeigt ein neues Verfahren zur Buchverfestigung: In Bibliotheken und Archiven verfallen Millionen wertvoller Bücher und Akten. Bei bisherigen Konservierungstechniken müssen die Seiten einzeln behandelt und getrocknet werden – viel zu aufwendig, um Dokumente in großer Zahl aufzubereiten. Das INM programmierte dagegen einen Nanowerkstoff, der nach innen festigend wirkt und alte Tinten nicht zerfließen lässt. Nach außen, an der Papieroberfläche, wirkt er aber antihaftend. So können nun alte Bücher auf Paletten gestapelt in den flüssigen Werkstoff getaucht und anschließend durch einen Trocknungsofen geschickt werden. Danach lassen sich die verfestigten Seiten aufgrund der Antihaftfunktion genauso aufblättern wie zuvor.
„70% der technischen Industrieprodukte werden von der Raffinesse der Werkstoffe geprägt”, sagt INM-Direktor Schmidt. Deshalb komme der chemischen Nanotechnologie gravierendes wirtschaftliches Gewicht zu. Für Anwender, die einsteigen wollen, steht bereits eine umfassende Infrastruktur zur Verfügung, die die Bedürfnisse mittelständischer Unternehmen bei Nano-Innovationen abdeckt. Das Risiko ist minimiert: Die Nanotechnologien stehen bereits im industriellen Maßstab zur Verfügung und müssen nur für die Anwendung adaptiert werden. Das INM-Know-how ist durch über 60 Basispatentanmeldungen weltweit geschützt. Firmen können ihre Anwendungen zusätzlich durch eigene Patente absichern.
Chemische Nanotechnologie: Basis für breite industrielle Anwendung
Über 60 Patentanmeldungen des Instituts für Neue Materialien (INM) in Saarbrücken bilden die Basis, auf der jetzt viele Firmen in die chemische Nanotechnolgie einsteigen können:
– Kratzfest- und Hartbeschichtungen für Kunststoffe und Metalle von der Verpackung bis zur Weltraumtechnik
– Korrosionsschutzbeschichtungen mit sehr guten optischen Eigenschaften, hoher Abriebfestigkeit oder Easy-to-clean-Funktion, die sich für Leichtmetalle ebenso eignen wie für den Stahlbau
– Neue katalytisch wirkende Komponenten, die organische Gerüche aller Art unterdrücken, vom Haushalt bis zur Abwassertechnik
– Easy-to-clean-Technologien für Oberflächen in Architektur, Glas, Sanitär, Chemie, Produktionstechnik, Lebensmitteltechnologie, Fahrzeugbau, Papier- und Druckindustrie
– Optische Oberflächen: Holographie für Displays, Datenspeicherung oder Produktkennzeichnung. Dekoranwendungen, reflexionsarme optische Teile, Bausteine für die optische Nachrichtentechnik wie Wellenleiter und „Laser on Board a Chip“. Elektrochrome und photochrome Systeme
– Separationsverfahren, mit denen es gelingt, toxische Komponenten aus den Abwässern schnell zu entfernen. Auch eine Separation von Nukleinsäuren für neue medizinische Analysemethoden
– Nanopartikel, deren Oberfläche so präpariert ist, dass sie im mensch-lichen Körper Transportdienste leisten
– Nanopartikelbasierte Bindemittel für Bauteile, die sich für Naturfasern im Hausbau von Entwicklungsländern ebenso verwenden lassen wie für neue Gießereitechniken ohne Geruchsbelästigung
Chance für Mittelstand: So steigen Sie in die Nanotechnologie ein
Für interessierte Firmen steht in Saarbrücken bereits eine umfassende Infrastruktur zur Verfügung:
– Um Innovationsmöglichkeiten auszuloten, empfiehlt sich die direkte Kontaktaufnahme mit dem INM.
– Für die Oberflächentechnik steht das Anwendungszentrum NMO zur Verfügung.
– Um an neuesten öffentlich geförderten Entwicklungen teilzunehmen, können Unternehmen dem Kompetenzzentrum Nanotechnologie des BMBF beitreten, das vom INM und der Uni Tübingen koordiniert wird. Inzwischen gehören 72 Firmen und 42 Forschungsinstitute zu den Mitgliedern.
– Wer Nanowerkstoffe oder -komponenten nicht selbst produzieren will, findet einen Partner in der Nanogate GmbH, Saarbrücken, die eng mit dem INM kooperiert.
– Komplette Nanoprodukte entwickelt im Auftrag das European Centre for Product Innovation and Coatings (EPC), ein Joint Venture des INM und der niederländischen F&E-Gesellschaft TNO.
Nähere Informationen: www.inm-gmbh.de/start.htm
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