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„In Deutschland verliert die Produktion lawinenartig an Boden”

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„In Deutschland verliert die Produktion lawinenartig an Boden”

„In Deutschland verliert die  Produktion lawinenartig an Boden”
Prof. Dr. Günther Schuh ist Direktor des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen und des Fraunhofer Institut für Produktionstechnologie:
Eine aktuelle Produktionsstudie belegt: Die Metallbearbeitung in Deutschland ist nur noch mit rigoroser Sanierung zu retten, meint Prof. Günther Schuh. Sein Zehn-Jahres-Programm sieht die Korrektur des Arbeitsmarktes vor, eine Innovationsoffensive und Ressourcen-Sharing in großem Stil.

Das Gespräch führten Chefredakteur Dr. Rolf Langbein und Dietmar Kieser, Mitglied der Chefredaktion dietmar.kieser@konradin.de

Immer mehr deutsche Unternehmen verlagern ihre Produktion in Billiglohnländer. Hat der Standort überhaupt noch Perspektiven?
Die Dramatik wird noch zunehmen. Bereits jetzt gibt es einen faktischen Investitionsstopp, das heißt, die Unternehmen investieren praktisch nicht mehr in deutsche Produktionsstätten. Von vielen Aufsichtsratssitzungen weiß ich, dass mangels Perspektiven gegen den hiesigen Standort gestimmt wird. Wenn sich eine Firma heute für Produktionsstandorte entscheidet, hat Deutschland fast keine Bedeutung mehr. Der Weg führt ins billigere China und in die Staaten Osteuropas.
Rechnet sich jede Verlagerung – gleich, ob die Produktion komplett ausgelagert wird oder nur in Teilbereichen?
Das Thema hat sich in der jüngeren Vergangenheit drastisch verändert und eine neue Qualität erlangt. Laut DIHT-Studie 2003 erfolgen 42 Prozent der Standortverlagerungen aus Kostengründen. Das deckt sich mit unserer aktuellen Studie, nur dass auch noch andere Motive, etwa die Marktnähe, verstärkt hinzu kommen. Die Verlagerungspraxis ändert sich drastisch: Früher wurde die komplette Produktion eines etablierten Produktes an einen günstigeren Standort wie Tschechien transferiert. Das sind heute nur noch vorübergehende Mitnahmeeffekte. Jetzt geht es um das innovative Nachfolgeprodukt. Dieses wird zwar noch in Deutschland entwickelt, produziert wird die nächste Produktgeneration aber an einem Niedriglohnstandort, der mit Blick auf die Kosten auch mittelfristig noch wettbewerbsfähig und marktnäher ist.
Sichert dies nicht auch die Existenz der Unternehmen?
Gewiss werden unsere produzierenden Unternehmen mehrheitlich dieses Manöver überleben. Das gilt für die Führungskräfte, die Ingenieure und Entwickler, die allerdings flexibler werden müssen. Massiv auf der Strecke bleiben aber unsere Facharbeiter, weil die Produktion lawinenartig an Boden verliert. Diese Einschätzung können wir mit Schwellwerten untermauern. Herstellkostenbedingt wird etwa nach Tschechien verlagert, wenn der Gesamtkostenvorteil 20 Prozent übersteigt. Für einen typischen Zulieferer aus Nordrhein-Westfalen liegt der Wert durch die Tariferhöhung bei 23 Prozent. Für ihn ist es wirtschaftlich unsinnig, hier zu investieren. Er muss seine Existenz sichern! Das Verlagern nach China beginnt bei einem Kostenvorteil von 30 Prozent. Und Entscheidungen in diese Richtung werden derzeit massenhaft getroffen.
Wie viele deutsche Produktionsarbeitsplätze sind gefährdet?
Nach unserer Modellrechnung müssten in den nächsten vier Jahren die Entscheidungen für den Abbau von rund 1,2 der 8,1 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion in Deutschland getroffen werden. Ich hoffe aber inständig, dass dies Theorie bleibt. Verschärft wird das Problem durch die Arbeitsplätze, die indirekt an der Produktion, also im Dienstleistungsgewerbe angesiedelt sind. Damit stehen insgesamt circa 2,2 Millionen zusätzliche Stellen auf der Kippe. Indem wir dem Facharbeiter den Garaus machen, entziehen wir unserer produktions- und exportlastigen Gesellschaft den Boden.
Lässt sich diese Entwicklung überhaupt umkehren, etwa indem Modernisierungspotenziale im Inland erschlossen werden?
Beim Innovieren können wir noch erheblich zulegen. Dies ist der entscheidende mittel- und langfristige Lösungsbeitrag, er heilt aber das kurzfristige Problem nicht. Wir müssen den deutschen Produktionsstandorten eine Atempause verschaffen. Zumindest so lange, bis sich der Arbeitsmarkt in China und in den osteuropäischen EU-Beitrittsländern durch Lohnsteigerungen verteuert hat und so unseren Kostennachteil im Inland kompensiert. Mit dem Arbeitsmarkt dieser Standorte entwickelt sich auch deren Kaufkraft im Galopp. Lohnkostensteigerungen von jährlich 10 bis 20 Prozent sind bei Autozulieferern in Tschechien an stark wachsenden Standorten bereits üblich. Lassen Sie die das zehn Jahre lang machen.
Kann unser Standort dem so lange standhalten?
Zehn Jahre dürften reichen. Zudem ist diese Dekade für jetzt zu treffende investive Entscheidungen wichtig. Unternehmen müssen über diesen Zeitraum planen können. Vorausgesetzt, wir sanieren den Produktionsstandort rigoros. Dazu braucht es verschiedene, gleichwohl gravierende Maßnahmen. Ich plädiere für ein Zehn-Jahres-Programm, das die Komponenten Arbeitsmarkt, Innovationsoffensive und Ressourcen-Sharing beinhaltet.
Welche Maßnahme könnte dem Land am schnellsten helfen?
Vorneweg ein Lohn- und Gehaltsmoratorium nach dem Vorbild Singapurs. Das Hochlohnland hat die Gehälter für fünf Jahre eingefroren, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das, und noch viel mehr, muss auch bei uns erfolgen. In Deutschland verdienen die Mitarbeiter im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität um 10 bis 17 Prozent zu viel. Der jüngste Tarifvertrag in der Metallindustrie mit seiner Lohnsteigerung um insgesamt 4,9 Prozent trifft uns in einer Phase, in der eigentlich ein Minus von 20 Prozent erforderlich ist. Wären Löhne und Gehälter auf dem vorigen Niveau eingefroren und die Wochenarbeitszeit auf mindestens 40 Stunden erhöht worden, hätte das zwangsläufige Verlagern auf einen Schlag gestoppt werden können. Und wenn in den Betrieben die unteren Tarifgruppen wieder reaktiviert würden, könnte auch dies dazu beitragen, die Kosten des gesamten Wertschöpfungsprozesses in den deutschen Betrieben zu senken. Der Staat sollte durch massive Entlastung der unteren Lohngruppen und übergangsweise eine negative Steuer für die Niedriglöhne helfen.
Ist es nicht illusorisch zu glauben, dass der Flächentarif befristet außer Kraft gesetzt werden könnte?
Die Tarifautonomie muss nicht außer Kraft gesetzt werden, wenn die Tarifpartner ihren Auftrag erfüllen, also die Tarife der Arbeitsproduktivität oder der Arbeitswirtschaftlichkeit folgen zu lassen. Das ist seit 1990, als sich die durchschnittlichen Arbeitskosten in Europa quasi schlagartig reduziert haben, nicht mehr geschehen. Das Ungleichgewicht verstärkt sich nun durch die EU-Osterweiterung, und die Gefahr besteht, dass die Tarifparteien erneut versagen. Man sollte mal wieder mit den Facharbeitern reden, denen auf dem Shopfloor und den arbeitslosen. Die schätzen die Situation richtig ein, wie auch viele Betriebsräte, die wissen, dass ihre Leute für solche Maßnahmen bereit sind.
Ihr Sanierungsvorschlag bezieht auch die Innovationsseite ein. Wie kann sie zur Überlebensfrage des Standorts beitragen?
Wir benötigen eine anders geartete Innovationsoffensive als die bislang diskutierte. Unsere Stärke sind unter anderem Forschungsinstitute wie die an der RWTH Aachen, die zusammen mit der Industrie an deren drängendsten Entwicklungen arbeiten. Das Potenzial vieler anderer Institute und Transfereinrichtungen wird aber dazu bei weitem nicht hinreichend genutzt. In einer neuen Form des ‚Private Public Partnership‘ müssten diese Institutionen bundesweit dazu motiviert werden, als ausgelagerte Entwicklungsressorts mittelständischer Unternehmen zu arbeiten. 25 Prozent der Entwicklungskosten könnte der Auftraggeber aus Fördermitteln erhalten. Konzentriert auf besonders zukunftsträchtige Bereiche, könnte selbst ein kleineres Unternehmen so schneller, kostengünstiger und mit geringerem Risiko innovative Produkte fertigen und sie zu konkurrenzfähigen Preisen anbieten. Konzepte dazu liegen vor. Fraunhofer-Institute arbeiten bereits so.
Branchen wie die Automobilindustrie ächzen unter Überkapazitäten…
… die inzwischen auch den Maschinenbau massiv betreffen und einher gehen mit Kapazitätsengpässen bei Entwicklung und Engineering. Um so wichtiger ist es, Mittelstandsnetzwerke zu gründen, die im großen Stil Ressourcen-Sharing betreiben. So könnten ungenutzte Ressourcen gebündelt werden – bis hin zum Austausch von Arbeitnehmern. Alles Maßnahmen, um kurzfristig Effekte zu erzielen.
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