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Industriefahrzeug mit Komfort wie im Luxusauto

Vision von Antriebstechnikern: Stapler ganz ohne Hydraulik
Industriefahrzeug mit Komfort wie im Luxusauto

Hydraulik raus, Mechatronik rein: SKF präsentiert sich als Entwicklungspartner für Gabelstapler-Hersteller. Der Antriebstechnik-Spezialist hat ein Konzeptfahrzeug entwickelt, das die Stapler-Branche für Spielerei hält. Doch an Teilkomponenten ist man interessiert.

Von unseren Redaktionsmitglieder Dr. Birgit Oppermann und Thomas Preuß – birgit.oppermann@konradin.dethomas.preuss@konradin.de

Es kann eine Menge passieren in neun Monaten. Länger brauchte eine Entwicklungsgruppe der SKF AB aus dem schwedischen Göteborg nicht, um einen konventionellen Gabelstapler in seine Einzelteile zu zerlegen, herauszunehmen, was mit Hydraulik zu tun hatte, und statt dessen mechatronische Einheiten für alle Funktionen einzubauen. Heraus kam der Concept-Truck – als Beweis dafür, dass ein alteingesessener Lagerhersteller eine Menge Know-how hat und ein kompetenter Entwicklungspartner sein kann.
„Wir wollen natürlich keine Gabelstapler bauen“, sagt Susan Langer, die als Produktverantwortliche für Industriefahrzeug-Systeme das SKF-Projekt geleitet hat. Dennoch war das Interesse der großen Stapler-Hersteller willkommen: Deren Vertreter haben auf der Hannover Messe im April den neuen Truck begutachtet. Und Fragen zu den mechatronischen Komponenten, die im Konzeptfahrzeug die Hydraulik ersetzen, konnten die SKF-Experten leicht beantworten: Die Bauteile wurden im Konzern selbst entwickelt. SKF startete mit der Konzeption von Lenksystemen. Eines Tages sollen Drive-by-Wire-Systeme Aktuatoren über elektrische Signale direkt ansprechen, statt Bewegungen über Gelenkwellen oder Bremshydraulik zu übertragen. Wie das bei Pkw aussehen und funktionieren könnte, wurde den Besuchern des Genfer Autosalons 2001 am Beispiel des Konzeptfahrzeugs Filo von Bertone und SKF vorgestellt.
Genauigkeit beim Lenken, Zuverlässigkeit des Systems und einfache Installation sind Eigenschaften, die auch die Anwender von Staplern fordern. Hier vollzieht SKF den Schritt zum Lieferanten kompletter Einheiten: Eine elektrische Lenkgebereinheit beispielsweise produziert das Unternehmen seit November 2001 in Serie. Erste Bestellungen eines Industriefahrzeugherstellers sind inzwischen eingegangen.
Komplexer ist der Prototyp des Lenksystems, das für den Concept-Truck weiterentwickelt wird. Der Fahrer kann die Lenkung nach seinen Bedürfnissen programmieren. „Das System lässt sich so einstellen, dass es zwei bis sechs Lenkradumdrehungen zwischen den Anschlägen erlaubt“, berichtet SKF-Beratungsingenieur Klemens Schmidt. Und die Empfindlichkeit des Lenksystems lasse sich an die Fahrgeschwindigkeit anpassen.
Bei Lagertechnik-Geräten, zum Beispiel Schubmaststaplern, ist elektrisches Lenken schon seit Jahren Serie. Doch auch bei Gegengewichtsstaplern, und auf diesen Markt zielt die Entwicklung, „hätte eine Kabine ohne Hydraulikleitungen Vorteile“, sagt Dr. Ferdi Megerlin, Sprecher der Geschäftsleitung der Aschaffenburger Linde AG, Geschäftsbereich Linde Material Handling. Die leisere Umgebung etwa. „Das scheitert bislang aber an der Wirtschaftlichkeit, der Zuverlässigkeit und den Vorschriften bei der Straßenzulassung.“ Eine individuelle Einstellbarkeit der Lenkung lehnt Megerlin wegen der Sicherheitsrelevanz ab.
Das System besteht lediglich aus vier Komponenten:
– einer mechatronischen Lenk- einheit, deren Empfindlichkeit der Bediener individuell einstellen kann,
– einem Controller, der die Richtungswechsel auslöst und mit anderen Komponenten des Fahrzeugs, wie den Aktuatoren, über Can-Open kommuniziert,
– dem Aktuator an den Rädern, der sowohl hydraulisch als auch elektrisch ausgeführt werden kann, sowie
– einer Sensorik in den Achsschenkeln, um einen Ist-Wert für die Räder abfragen zu können.
Die Baueinheit ersetzt alle hydraulischen und mechanischen Komponenten, mit denen bisher die Lenkbewegungen auf die Achse übertragen wurden – inklusive der Lenksäule. Die kompakte Bauweise soll den Designern mehr Freiheiten lassen, die Kabine ergonomisch zu gestalten, und die Herstellung der Fahrzeuge vereinfachen.
Für den Concept-Truck ersetzten die Entwickler auch den Hydraulikzylinder der Hubeinheit durch einen elektrischen Antrieb. Nun übertragen Kugel- oder Rollengewindetriebe die Bewegung zweier Elektromotoren in die Vertikale. Sie sind an jedem Mast angebracht. Beide Antriebe laufen synchron. Auch ein elektrischer Seitenschieber ist in Arbeit, mit dem der Fahrer die Gabel vor der Palette positioniert, statt mit dem ganzen Stapler zu rangieren.
Wie die Schweden betonen, ist ihre Konstruktion wartungsfrei, sehr präzise, zuverlässig und spart Energie: Beim Herunterfahren der Gabel wird Energie in die Batterie eingespeist, die im Concept-Truck den gesamten Raum unter der Kabine ausfüllt. Sie liefert auch die Spannung für die Radnabenmotoren in den Rädern, die ganz ohne Getriebe auskommen und auf die Anweisungen reagieren, die der Anwender in der Kabine gibt.
Wartungsfrei, präzise und zuverlässig – aber unbezahlbar
Was so ein Stapler kosten würde, haben die Entwickler allerdings noch nicht ausgerechnet. Linde-Geschäftsführer Ferdi Megerlin nennt es „eine zum Teil richtungweisende Studie ohne Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit“ und den „unerfüllbaren Wunschtraum mancher Ingenieure“. Dem Gesamtfahrzeug räumen die Aschaffenburger in den nächsten zehn Jahren so gut wie keine Marktchancen ein.
Aber vielleicht muss es ja nicht das ganze Paket sein. Einzelfunktionen hält Megerlin für durchaus realisierbar. „Sie müssen aber wirtschaftlich sein.“ Viele Funktionen würden im Concept Truck übererfüllt. Die seitliche Gabelverstellung beispielsweise hätte Vorteile, scheitere aber an den Kosten. Und das elektrische Fahren, bei Elektrostaplern ohnehin Stand der Technik, ordnet Megerlin bei verbrennungsmotorischen Staplern als unwirtschaftlich ein. „Speziell gegenüber den hydrostatischen, aber auch gegenüber hydrodynamischen Getrieben ist die Leistungsdichte zu gering“, lautet seine Einschätzung.
Neu ist für einen Elektrostapler, dass SKF einen getriebelosen Direktantrieb verwendet. Dieser basiert auf der Drehstromtechnik, die sich bei den meisten Herstellern langsam durchsetzt. Die Hamburger Jungheinrich AG beispielsweise startete im April bereits die zweite Generation dieser Antriebstechnik, bislang mit Getriebe. Ralf Baginski, Leiter der Grundlagenentwicklung, streicht heraus, dass die Direktantriebe aus der SKF-Studie Vorteile bei Geräuschentwicklung und Wartung hätten. Er bedauert aber, die Antriebe seien „noch zu groß“, weil sie sehr hohe Drehmomente erzeugen müssten.
Laut SKF-Projektleiterin Susan Langer haben die Stapler-Hersteller großes Interesse an der Einheit des Concept-Trucks gezeigt, die beim Verfahren der Last die Masthöhe kontrolliert. Die Schweden sind überzeugt, dass sie „schon bald zur Standardausrüstung moderner Stapler gehören wird“.
Welche Strecke die Gabel verfährt, erfasst die Einheit über ein Sensor-Lager. Wie bei den Landvermessern, die mit einer Rolle die fragliche Strecke abfahren, rollt der Außenring eines kleinen Rillenkugellagers in Kontakt zum Mast. Die Zahl seiner Umdrehungen misst ein Inkrementalgeber und meldet sie als Maß für die Höhe, die Verfahrgeschwindigkeit und die Beschleunigung der Gabel an die zentrale Steuereinheit in der Kabine. Damit kann der Fahrer Regalhöhen programmieren und auf Knopfdruck abrufen und braucht sich nicht auf sein Augenmaß zu verlassen. Die Messwerte wären auch für automatische Sicherheitssysteme nutzbar, um Fahrgeschwindigkeit oder Lenkeinschlag zu begrenzen.
Elektrische Lenkungen nutzt Jungheinrich seit einigen Jahren für das „steer-by-wire“, teilweise mit Sensoren, die bereits 1995 in Zusammenarbeit mit und von SKF entwickelt wurden. Ergonomisch optimiert wurde sie im Lenksystem Jet-Pilot des neuen Horizontalkommisionierers ECE, in das die Bedienelemente integriert sind.
Von der Still GmbH ist Ähnliches zu berichten. Auf der Cemat hat das Unternehmen einen neuen Schubmaststapler vorgestellt, ebenfalls mit elektrischer Lenkung. Die Hamburger gehen bereits seit 1980 den Weg, Leistungen nicht mehr durch Öldruck zu übertragen. So ist etwa der verbrennungsmotorisch-elektrische Antrieb „viele tausend Male in Betrieb gegangen“, wie Reinhard Heilemann sagt, Leiter der Hauptabteilung Produktmarketing. Weitere Komponenten sollen folgen. „Dazu müssen wir aber Wirtschaftlichkeit, Marktverfügbarkeit, Zuverlässigkeit und Energiebilanz abwägen.“
Dass der Einzug der Mikroelektronik in die Gabelstaplertechnik nicht zu stoppen ist, davon ist Jungheinrich-Experte Ralf Baginski überzeugt. Die durchgängige Eliminierung der Hubhydraulik in Gabelstaplern sei zwar Zukunftsvision, aber bei Linearantrieben kleinerer Leistung könne der von SKF gezeigte Spindelantrieb mit Asynchronmotor durchaus vorteilhaft sein. „Wir schätzen, dass die Anzahl der Elektromotoren im Stapler weiter stetig steigen wird.“
Die heutige Mehrheit der Einsatzfälle spricht gleichwohl gegen gesamt-elektrische Lösungen, warnt Ferdi Megerlin von Linde vor Euphorie, zumal sich auch die Energierückgewinn-Möglichkeiten in engen Grenzen hielten. Kombinationsoptimierungen dagegen würden zunehmend interessanter. Und elektronische Steuerungen und Regelungen seien von hydraulisch-mechanischen Getrieben bei modernen Geräten ohnehin nicht wegzudenken. „Aber bei denen“, betont Megerlin, „spielt auch nicht mehr die Wirtschaftlichkeit, sondern die Betriebssicherheit die entscheidende Rolle.“
Industrieanzeiger
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