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Je kleiner das Korn, desto härter im Nehmen

Hartmetalle: Feines Korn steigert die Werkzeug-Standzeiten
Je kleiner das Korn, desto härter im Nehmen

Je kleiner das Korn, desto härter im Nehmen
Nicht nur in der Zerspanung sondern auch im Verschleißschutz und für Schneidmesser werden Hartmetalle eingesetzt (Bild: Widia)
Maßgeschneiderte Hartmetalle sorgen derzeit für stetige Produktivitätssteigerungen in der Fertigung. Die Chef-Werkstoffentwickler der Widia GmbH, Dr. Dreyer und Dr. Westphal, bieten Einblick in die werkstofflichen Zusammenhänge und nennen Einsatzbeispiele.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß

Zu „regelrechten Leistungsexplosionen“ ist es bei den Hartmetallen gekommen. Dr. Klaus Dreyer, der dieses Statement abgibt, muss es wissen: Der promovierte Physiker und Metallkundler leitet die Hartmetall-Entwicklung der Widia GmbH in Essen und kennt den Entwicklungsprozess aus nächster Nähe, seit er 1973 in das Forschungszentrum der damaligen Firma Krupp eingetreten ist. „In den letzten fünf Jahren hat sich die Standzeit von rotierenden Vollhartmetall-Werkzeugen im Schnitt verdoppelt. Mit beschichteten Feinstkorn-Hartmetallen haben wir hier enorme Leistungssprünge erzielt.“
Erhöhen sich die Standzeiten, werden natürlich nicht etwa mehr Werkzeuge verkauft als zuvor. Die Entwicklung spiegelt sich daher auch nicht in Wachstumszahlen wider. Dreyer sieht die Hartmetalle eher als „Schrittmacher“, die seit ihrer Einführung im Jahr 1926 durch Widia (damals ein Unternehmen des Krupp-Konzerns und seit 1995 Tochter des Milacron-Konzerns) die Fertigungstechnik und vor allem die Zerspanung stetig voran bringen. Welche Bedeutung das Material mittlerweile erlangt hat, zeigen die absoluten Marktzahlen, die Dreyer nennt: 1999 betrug der Jahresbedarf an Hartmetall-Werkzeugen für die Bereiche Zerspanung, spanlose Formgebung und Verschleißschutz weltweit rund 8 Mrd. US-$. Davon wurden 2,5 Mrd. US-$ in Europa umgesetzt. 68 % des Gesamtumsatzes entfielen auf Wendeschneidplatten und Werkzeughalter, 19 % auf rotierende Vollhartmetall-Werkzeuge und 13 % auf spanlose Formgebung und Verschleißschutz. Das größte Wachstum erwartet Dreyer mit jährlich 12 % bei rotierenden Vollhartmetall-Werkzeugen. Sie ersetzen zunehmend Werkzeuge aus Schnellarbeitsstählen.
Die Stärke des Materials liegt in seiner hohen Verschleißbeständigkeit. Sie rührt von den extrem harten Carbiden her, die im Verbundwerkstoff enthalten sind. Der wichtigste Vertreter ist Wolframcarbid (WC) – die klassische Hartstoffphase im Hartmetall. Schmelzmetallurgisch lässt sich WC mit seinem Schmelzpunkt bei 3200 °C kaum verarbeiten. Den Durchbruch erzielten die Hartmetalle daher erst, als Widia vor 75 Jahren die pulvermetallurgische Herstellung im industriellen Maßstab gelang: Dabei wird Wolframcarbid-Pulver über die Zwischenstation des metallischen Wolframs aus Wolframoxid hergestellt, mit Cobalt-Pulver vermischt und in diesem Zustand bei nur 1400 °C gesintert.
Cobalt fungiert mit einem Massenanteil von 2 bis 25 % als Bindemetall, in das die WC-Körner eingebettet sind. Es übernimmt den „weiblichen“ Part im Verbund: Das zur Eisengruppe gehörende Element bringt Eigenschaften wie Zähigkeit und Duktilität ein und mildert so die Sprödigkeit der Carbide ab. Im Wesentlichen hängen die Eigenschaften des Hartmetalls von zwei Einflussgrößen ab, wie Dr. Dreyer erklärt: vom Cobalt-Gehalt und von der mittleren WC-Korngröße. „Entweder gehe ich vom Cobalt-Gehalt aus und steuere Härte, Biegefestigkeit und Bruchzähigkeit über die Korngröße. Oder ich halte die Korngröße fest und steuere die Eigenschaften über den Cobalt-Gehalt.“
Dass die Härte bei sinkendem Cobalt-Gehalt zunimmt, leuchtet schnell ein: Ist das zähe Bindemetall zwischen den WC-Körnern nur in geringer Menge vorhanden, steigt die Härte automatisch an. Dass die Härte mit feiner werdendem WC-Korn zunimmt, erschließt sich erst bei näherem Hinsehen. Dr. Hartmut Westphal, Abteilungsleiter für Beschichtungsverfahren und -systeme bei Widia und wie Dreyer schon über 25 Jahre in der Werkstoffforschung aktiv, hält dafür ein anschauliches Erklärungsmodell parat: „Denken Sie an ein klassisches Hartmetall mit einer Korngröße von 1 µm. Stellen Sie sich jetzt die Hartstoff-Teilchen als Würfel mit einem Volumen von 1 µm³ vor. Sie erhalten dann eine Oberfläche von 6 µm² rundherum, auf der sich das duktile Cobalt verteilen kann. Wird die Korngröße halbiert, erhalten Sie acht Würfel mit demselben Volumen von zusammen 1 µm³, aber eine vierfach so große Oberfläche, auf der sich das Cobalt verteilt. Die duktilen Cobalt-Filme werden also immer feiner. Das Material lässt sich daher weniger verformen und wird härter.“
Seit jeher bemühen sich die Materialentwickler, die Korngröße zu verringern, um auf diese subtile Weise die Härte zu erhöhen. Für Klaus Dreyer ist es ein Meilenstein und Highlight seiner beruflichen Karriere zugleich, dass er und seine Kollegen in den letzten fünf Jahren bis in den Bereich „ultrafein“ vorstoßen konnten. Dahinter verbergen sich Korngrößen zwischen 0,2 und 0,5 µm. „Vor 15 Jahren glaubte man, die Grenze der Leistungsfähigkeit sei erreicht. Aber seit wir Ultrafeinkorn-Hartmetalle in Kombination mit moderner Beschichtungstechnologie nutzen können, erzielen wir ungeahnte Leistungssprünge.“ Neue Anwendungsgebiete tun sich auf. Rotierende Vollhartmetall-Werkzeuge lassen sich nun auch in Bereichen einsetzen, die überwiegend Schnellarbeitsstählen vorbehalten waren.
Zu Hilfe kam den Hartmetall-Spezialisten Dreyer, Westphal und Co dabei ein Effekt, mit dem sie nicht gerechnet hatten und für den es noch keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Sie waren da-ran gewöhnt, dass die Biegefestigkeit mit verringerter Korngröße abnimmt, weil die zähen Cobalt-Schichten dünner werden. Beim Sprung von 1 µm („fein“) auf „feinst“ und „ultrafein“ nimmt sie aber kräftig zu! Für den Einsatz solcher hochwertiger Hartmetall-Legierungen in Fräswerkzeugen ist das eine ideale Eigenschaft. Denn die unterbrochene Schnittfolge beim Fräsen setzt das Werkzeug ständigen Schlägen aus und erfordert eine hohe Biegefestigkeit.
Kurioserweise kam der Anstoß für die Entwicklung zu höherer Kornfeinheit aus der Elektronik. Bedruckte Leiterplatten müssen heute mit Durchmessern zwischen 0,3 und 0,2 mm gebohrt werden, um sie verlöten zu können. „Die Elektroniker brauchten dafür Hartmetall-Bohrer und haben hohe Anforderungen an uns gestellt“, erklärt Dr. Dreyer. „Die Wendel dieser Mikrobohrer ist so klein, dass man die Zahl der Körner in der Bohrspitze an zwei Händen abzählen könnte, wenn die Korngröße bei einem Mikrometer bliebe. Wir brauchten also größere Feinheiten.“ Die dafür entwickelten Materialien und gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen es den Entwicklern heute, Hartmetalle für unterschiedlichste Anforderungen maßzuschneidern.
Freilich müssen sie dazu alle Register ziehen, die weit über die genannten Grund-Zusammenhänge hinaus gehen. Allein schon bei der Zusammensetzung bedient sich der Werkstoffwissenschaftler eines breit gefächerten und fein abzustimmenden Instrumentariums. Einige Beispiele: In der Zerspanung werden wegen der hohen Temperaturen und Temperaturwechsel an der Schneide neben WC auch Titancarbid TiC, Tantal-Niob-Carbid (TaNb)C und andere Hartstoffphasen verwendet. Im Vergleich zum Bindemetall Cobalt können Nickel und Chrom die Korrosionsfestigkeit erhöhen. Und Kornwachstumshemmer ermöglichen erst das Herstellen von Feinstkorn-Hartmetallen.
Die Einsatzgebiete für Hartmetall-Werkzeuge sind weit gestreut. Sie reichen von Umformwerkzeugen mit „extra grobem“ Korn über Bergbau-Werkzeuge bis hin zu präzisen Papierschneidmessern. Holzbearbeitungs-Werkzeuge lassen sich beispielsweise nur mit ultrafeinem Korn realisieren. Dr. Westphal: „In Stahl bricht das Material schon vor der Schneide, die wie ein Keil wirkt. Aber in Holz muss das Werkzeug die Fasern wirklich durchschneiden.“
In der Hartmetalltechnologie werden große Anstrengungen unternommen, um die Werkstoff-Eigenschaften für den jeweiligen Anwendungszweck zu optimieren. Verschleißfeste Hartstoff-Beschichtungen spielen dafür in der Regel eine maßgebliche Rolle. In der Zerspanung beträgt der Anteil beschichteter Hartmetall-Werkzeuge schon heute rund 80 %. Klaus Dreyer ist sich sicher: Dieser Anteil wird weiter wachsen.
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