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Junge Industrie-Dienstleister bringen Schwung ins alte Revier

High-Tech-Service ist an Rhein und Ruhr der Wachstumsmotor
Junge Industrie-Dienstleister bringen Schwung ins alte Revier

Der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft bedeutet mehr als einen gern gesehenen Kofferträger am Bahnhof. High-Tech-Service für die Industrie, Medien und Messen sind die Wachstumsmotoren im Bundesland NRW. Neue Technologien verbinden sich dabei mit der Industrie-Tradition.

Von unserem Redaktionsmitglied Tilman Vögele-Ebering

Der Taxifahrer hat einen ungläubigen Gesichtsausdruck. Konrad-Zuse-Straße? Kennt er nicht. Lise-Meitner-Straße? Ebensowenig. Als er hört, dass die Gegend früher „Auf dem Kalwes“ hieß, hellt sich sein Gesicht auf. „Alles klar“, meint er und nickt. Wen der Fahrgast denn dort genau besuchen wolle, fragt er noch und wagt einen Tipp: „Wollen Sie auf den Bauernhof?“
Falsch geraten, auf dem Kalwes gibt es jetzt mehr als nur einen Bauernhof. Auf der Baustelle geht es laut und geschäftig zu. Ein halbes Dutzend mehrgeschossiger Gebäude steht dort, maximal drei Stockwerke hoch. Die Hälfte davon ist noch im Rohbau: Bagger brummen, Pressluftbohrer hämmern, und ab und zu dringt der Ruf eines Arbeiters durch den Maschinenlärm.
In der Konrad-Zuse-Straße 12 residiert die Bochumer Niederlassung des Rapid-Prototyping-Dienstleisters Alphaform AG. Sie ist eine der ersten Firmen in dem brandneuen Bochumer Gewerbegebiet, das die offizielle Bezeichnung Technologie-Quartier trägt. Knapp 6 ha groß soll es nach Angaben des Amtes für Wirtschaftsförderung werden. Die volkstümliche Flurbezeichnung Kalwes musste dafür den beiden berühmten Namen weichen, die Programm sind: dem des Computer-Pioniers Zuse und der Kernphysikerin Meitner. Zukunftstechnologien will die Stadt dort ansiedeln. Zwischen der Ruhr-Universität und dem Naherholungsgebiet Heveney, nördlich des Kemnader Sees, soll der neue Park nach dem Willen der Stadtväter das Technologiezentrum für High-Tech-Gründungen an der Ruhr-Universität ergänzen. Das Hochschulgelände liegt nur 15 Minuten Fußmarsch entfernt.
Ein Großteil der Arbeitsplätze im neuen Technologie-Quartier werden Dienstleistungsjobs sein. Im sogenannten tertiären Sektor sehen Bund und Landesregierung den Beschäftigungsmotor für Nordrhein-Westfalen. Das bevölkerungsreichste Land der Republik hat den Strukturwandel keinesfalls abgeschlossen.
Strukturwandel wiegt schwerer als im Rest der Republik
„Noch nicht am Ziel“, sei NRW, urteilte im Fühsommer das renommierte und im Land beheimatete Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Die Region an Rhein und Ruhr hinke in der Statistik bei der Beschäftigung immer noch hinterher, wie die Wirtschaftsforscher ermittelt haben. Der Anteil der Erwerbstätigkeit, sprich Erwerbstätige plus Arbeitslose, liege mit 46 % noch gut 2,5 % unter dem Bundesdurchschnitt. Zu schwer wiege die Last des Wandels weg von der Montan- und Schwerindustrie.
Die Alphaform AG hat ihren eigentlichen Hauptsitz in Feldkirchen bei München. In Bochum ist das Kompetenzzentrum für den Metallguss angesiedelt, außerdem ist in dem Gebäude eine Niederlassung für das Projektmanagement beheimatet. Bernd Heinrich, Leiter des Produktmanagements Metallprototypen, ist sichtlich stolz auf den schmucken Neubau. „Genau auf unsere Bedürfnisse abgestimmt ist das alles“, erklärt er und schreitet durch den Bürotrakt im ersten Obergeschoss. Eine Wendeltreppe führt ins Erdgeschoss. Dort steht der Maschinenpark, „so nah‘ dran an der Verwaltung wie es nur geht“.
Die Spezialisten fertigen die Prototypen nach dem neuesten Stand der Technik: Stereolithograph und Lasersinter-Anlage stehen in den Hallen sowie alles für die Metallbearbeitung. Formen- und Modellbauer geben den Prototypen den letzten Schliff. Für das Kompetenz-Zentrum arbeiten in Bochum 15 Beschäftigte; drei weitere arbeiten für das Projekt-Management der Niederlassung. Maximal kann der Alphaform-Standort auf 50 Angestellte ausgebaut werden.
Arbeitsplätze wie diese sollen den Beschäftigungsabbau in der Industrie, der an Rhein und Ruhr stattgefunden hat, wieder auffangen. Zwischen 1980 und 1998 fielen 27 % der Jobs im produzierenden Gewerbe weg, im Vergleich zu knapp 20 % im Rest der alten Republik. Über eine dreiviertel Million Stellen, die es in Industrie und im Bergbau gab, sind in diesem Zeitraum dem Wandel zum Opfer gefallen.
Der Dienstleistungsbereich beschäftigt in NRW die Mehrzahl der Menschen. Mitte der 80er Jahre überschritt der Anteil der Service-Jobs zwischen Aachen und Bielefeld erstmals die 50%-Grenze. Wer bei Service nur an den gern gesehenen Kofferträger auf dem Bahnhof denkt, liegt jedoch falsch; der Dienstleistungssektor hat seine größten Zuwächse nicht bei Döner und Doppel-Burger. Der sogenannte unternehmensnahe Bereich schafft die neuen Arbeitsplätze, seit 1980 hat sich gerade dieser Sektor mehr als verdoppelt, während die Service-Jobs für Konsumenten nur langsam zunahmen.
Eindeutiger Gewinner des Strukturwandels sei dieser Sektor, hat das Institut für Arbeit und Technik (IAT) am Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen in Gelsenkirchen in einer Studie festgestellt. Mode, Messen und Ausstellungen in Düsseldorf, Funk und Fernsehen in Köln, Call Center an der Emscher, High-Tech an der Ruhr, neue Medien und ausgefeilter Industrie-Service: Davon lebt die Region. Die Strukturpolitik spielt eine wesentliche Rolle. So wie ein Medienstandort Köln von Gemeinde und Land gefördert oder die bundesweit erste Call-Center-Akademie ins Leben gerufen wurden, haben die Wirtschaftsförderer jetzt neue Branchen im Blick. Mit öffentlichen Geldern werden beispielsweise die regionalen Kompetenzzentren für den elektronischen Geschäftsverkehr gepusht, damit Rheinländer und Westfalen den Anschluss an die New Economy nicht verpassen.
Arbeitskräfte sind an Rhein und Ruhr nicht Mangelware
Abseits aller Fördermaßnahmen hat der Dienstleistungs-Standort nach Meinung von Praktikern einen weiteren unschätzbaren Vorteil. „Hier finden wir die qualifizierten Arbeitskräfte, die wir benötigen“, sagt Alphaform-Fachmann Bernd Heinrich und verweist auf den Fachkräftemangel in den Boom-Regionen wie in Süddeutschland. Modell- und Formenbauer aus dem Sauerland und Bergischen Land, die vor wenigen Jahren auf Grund der neuen Technologien in den klassischen Industriebetrieben nicht mehr beschäftigt werden konnten, sind plötzlich wieder gefragt. „Die Mitarbeiter müssen sich nur an die neuen Werkstoffe gewöhnen“, so Heinrich.
Alphaform benötigt für den schnellen Prototypenbau zum einen enorme Rechnerleistungen, Werkstoff-Know-how und High-Tech-Anlagen. Andererseits sei nach wie vor die Expertise von Facharbeitern gefragt, bevor ein Prototyp den strengen Blicken eines Konzernchefs ausgesetzt wird. Der RP-Dienstleister ist seit diesem Sommer am neuen Markt in Frankfurt/M. notiert und will in diesem Geschäftsjahr mit 160 Mitarbeitern 13 Mio. Euro umsetzen.
„Bis vor fünf Jahren wäre das, was wir heute machen, technisch gar nicht möglich gewesen“, erklärt Alphaform-Mann Bernd Heinrich die Herausforderung. Auf neuem Terrain befindet sich der RP-Dienstleister zudem mit dem Werkstoff Metall im Prototypen-Bau. Die Spezialisten greifen dabei auf die traditionelle Feinguss-Technik der Schmuckherstellung aus der Region zurück: den Kompaktformguss. Guss-Know-how bezieht Alphaform auch von den Fachleuten der Tochtergesellschaft Spacecast Präzisionsguss GmbH in Aachen, die 15 weitere Mitarbeiter beschäftigt und ebenfalls zum Kompetenzzentrum gehört.
Es sind aber nicht nur börsennotierte, schnell wachsende Unternehmen, die im Bochumer Technologie-Quartier eine neue Heimat suchen. Auch kleinere Dienstleistungsbetriebe zieht es in das Gewerbegebiet. Im Technologiezentrum der Ruhr-Uni residiert beispielsweise die Visaplan GmbH, die demnächst ebenfalls an den neuen Standort auf dem Kalwes umziehen wird.
Die Experten für technische Visualisierung und Anlagensimulation lassen auf dem Bildschirm computeranimierte Maschinen einen Tunnel bohren und virtuelle Anlagen Teile produzieren. „Wir zeigen den Abnehmern unserer Kunden, was unsere Kunden können“, erklärt Thomas Bade, einer von zwei Geschäftsführenden Gesellschaftern, die Aufgabe von Visaplan. Mit zwei festen Angestellten und einer Hand voll freier Mitarbeiter existiert das Unternehmen insgesamt seit sieben Jahren, seit zweieinhalb Jahren in der Rechtsform einer GmbH. Sie seien damals „als klassische Existenzgründer ohne alles“ in das Technologiezentrum an der Ruhr-Uni gezogen, berichtet Bade. Grund sei die Nähe zu Schicksalsgenossen aus verwandten Branchen gewesen: „Es ging uns um die Kontakte, ohne die geht es nicht.“
Dass Initiativen für Existenzgründer Ergebnisse bringen, belegen die jüngsten Zahlen: Insgesamt wurden im ersten Halbjahr dieses Jahres im Bundesland NRW 11 650 neue Unternehmen ins Handelsregister eingetragen, was mehr als einem Viertel aller Neueintragungen bundesweit entspricht. Die Zahl der Gewerbeanmeldungen ist zu Beginn des Jahres um knapp 5 % gestiegen, nachdem sie vergangenes Jahr noch zurückgegangen war. An der Spitze liegt die Branche Datenverarbeitung mit einem zweistelligen Plus, gefolgt von Handel und Dienstleistungen für Unternehmen.
In welche Richtung sich der Service-Sektor derzeit entwickelt, ermitteln gerade die Arbeitsmarktforscher vom Institut für Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen. Sie haben einen internationalen Vergleich gezogen und eine These aufgestellt: Deutschland sei auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft schon viel weiter fortgeschritten, als es die offiziellen Zahlenwerke zeigen. Die Bundesrepublik beschäftigt statistisch weniger Dienstleister als der EU-Durchschnitt oder die USA. Was dabei nicht berücksichtigt ist: Gut die Hälfte aller Leistungen im verarbeitenden Gewerbe entfallen bereits auf Service wie beispielsweise Kundendienst. Dieser Anteil liegt allerdings in der US-Industrie unter 40 %. Das IAT nennt für diesen Gegensatz zwei mögliche Gründe. Erstens: Der Prozess des Outsourcing ist hier zu Lande noch nicht so weit fortgeschritten. Oder: In der deutschen Industrie, die sich auf Qualitätsprodukte spezialisiert hat, ist der Service so wichtig, dass er zum Kerngeschäft gehört.
Forschungsprojekt Dienstleistungs-Benchmarking: Service-Qualität mit Brief und Siegel
Ein neues Forschungsprojekt soll die Grundlagen dafür schaffen, dass Dienstleistungen innovativer und besser werden. Gemeinsam mit anderen Unternehmen hat die in Köln ansässige WIG Industrieinstandhaltung GmbH, eine Tochter von Thyssen-Krupp Industrieservice, ein bundesweites Verbundforschungsprojekt ins Leben gerufen.
Was im Fertigungsbetrieb schon längst gang und gäbe ist, steckt in der Dienstleistungsbranche noch in den Kinderschuhen, wie der Leiter des Projektes von der WIG, Dr. Peter Hermes, berichtet: das Benchmarking. Durch den Vergleich mit ähnlichen Unternhemen sollen Standards abgeleitet werden können. Wichtigstes Ziel laut Dr. Hermes: „Wir wollen die Qualität aller Schritte in der Dienstleistungs-Erstellung verbessern.“ Vor gut einem Jahr ist die Initiative am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen gestartet und das Zentrum für integriertes Dienstleistungs-Benchmarking eingerichtet. Die Ergebnisse des vom Bundesforschungsministerium geförderten Projektes sollen auf kleinere und mittlere Dienstleister übertragbar sein. Eine weitere Idee ist ein Service-Gütesiegel, das die Qualität des Service sicherstellen soll.
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