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Königin der Instrumente ohne Atemprobleme betreiben

Orgelbau: SPS lenkt 1400 Liter Luft pro Sekunde an die richtigen Pfeifen
Königin der Instrumente ohne Atemprobleme betreiben

Wenn in der Ettlinger Herz-Jesu-Kirche Sonntags die 3000-Pfeifen-Orgel ertönt, dann ahnen die Kirchgänger nichts von der unkonventionellen Symbiose zwischen traditioneller Orgelbaukunst und modernster Steuerungstechnik. Leichte Spielbarkeit, hohe Flexibilität und Wartungsfreiheit stehen auf der Habenseite.

Dipl.-Ing. (FH) Stefan Dausend ist Mitarbeiter der Siemens AG, Nürnberg, Bereich: Automation & Drives

Das dicke Ende des Schlusslieds trägt jeder Kirchgänger allein mit sich nach Hause. Wieso war das Singen wieder so schräg? Zweifel an seiner Sangeskunst quälen ihn: Doch oft ist es nur die Königin der Instrumente, die mit ihren Dissonanzen für Missklänge sorgt. Nicht so in der Ettlinger Herz-Jesu-Kirche. Ausgeklügelte Mechatronik der Orgelbauer Matz & Luge aus Rheinmünster sorgt hier für klare Klänge. Mit einer unkonventionellen Symbiose von Tradition und Fortschritt entstand weltweit die erste Kirchenorgel, in der Mechanik und Elektrik einzigartig kombiniert sind.
Mit der gefühlvollen Integration einer Simatic S7-Industriesteuerung stellt das Instrument in seiner Gesamtheit eine Novität in Konstruktion, Technik und Klangfülle dar. 3000 Pfeifen, 53 klingende Register und eine benötigte Luftmenge von 1400 l/s zeugen von einer beachtlichenn Dimensionen. Ein Instrument dieser Größenordnung stellt aber auch höchste Anforderungen an den Orgelbauer bezüglich Klang, Spieltechnik und einfacher Handhabung.
Umfangreiche Berechnungen machten den Erbauern schnell deutlich, dass eine traditionell mechanische Ausführung der Orgel zu Nachteilen beim Spielen führt, da die geforderten hohen Winddrücke von über 100 mmWs zu extrem hohen Fingerkräften führen würden. Diese lassen sich zwar durch Einsatz weiterer Hilfsmittel verringern, führen aber im Gegenzug zu einer sehr aufwendigen und teuren Technik. Diese führt wegen der eingesetzten organischen Materialien Holz und Leder häufig zu Nachjustagen und demzufolge zu hohen Wartungs- und Instandhaltungskosten. Außerdem verlängern die Hilfsmittel die Reaktionszeit des Instrumentes, worunter wiederum die Spielbarkeit leidet.
Für Orgelbauer Luge war dies der Zielkonflikt, denn auch die heute übliche elektrische Lösung schied aus, ist sie doch genauso starr wie die mechanische Variante. Hier müssen sehr viele Kabel durch die Anlage gezogen werden. Eine Vielzahl von Lötstellen sind potentielle Fehlerquellen, mechanische Kontakte führen zu Funkenbildung und nachfolgendem Abbrand der Kontakte. Der Wartungsaufwand wäre immens. Weiter auf Seite 66
Dieser Zielkonflikt erforderte daher einen völlig neuen Ansatz. Die Lösung fand sich durch die einfühlsame Integration der Industriesteuerung Simatic S7 und dezentral verteilter Peripheriegeräte aus der Familie Simatic ET 200. Hierdurch waren gleich mehrere Problempunkte entschärft: Bei traditionell gebauten Orgeln erzeugt eine Taste über hölzerne Verbindungen zu den Ventilen den Ton. Bei der Ettlinger Orgel erfassen dezentrale Eingabebaugruppen die Tastensignale und geben sie nahezu verzögerungsfrei an die Steuerung weiter. Mechanische Vorgelege steuern die Sensoren der Eingabebaugruppen an. Damit ist der Zeitpunkt des Tasten-Druckpunktes und der Zeitpunkt der Signalauslösung identisch. Ergebnis: Ein exzellentes Spielgefühl für den Organisten, das mit einer rein mechanischen oder herkömmlichen elektrischen Orgel nicht erreicht werden kann.
Die Eingangssignale bearbeitet das Steuerungsprogramm und leitet sie an die direkt neben den Ventilen angebrachten ET-200- Ausgabebaugruppen. Diese elektronischen Ausgänge sind im Gegensatz zu den Kontakten einer elektrischen Orgel verschleißfrei und damit wartungsfrei. Der Datenaustausch zwischen der Steuerung und den Ein- und Ausgabebaugruppen erfolgt über eine 2-Draht-Busleitung mittels Profibus-DP-Protokoll. Das spart Kabel und ist fehlerunanfälliger.
Die Steuerung mit ihrem flexiblen Programm erspart auch das feste Zuordnen von einem Manual auf ein bestimmtes Werk. Damit ist der Organist in der Lage zu bestimmen, welches Teilwerk er auf welchem Manual spielen will. In diesen Freiheitsgrad ist konsequenterweise auch das Pedal mit einbezogen. Mit diesem flexiblen Konzept kann erstmals der vorhandene Bestand an Registern maximal genutzt werden. Dem Organisten erschließen sich damit völlig neue musikalische Möglichkeiten.
Um einerseits die Standfestigkeit zu überprüfen und andererseits den Auftraggeber von dem neuen Konzept zu überzeugen, wurden alle Komponenten einem Dauertest unterzogen. Hierbei wurden die Noten eines durchschnittlichen Konzertes gezählt: es waren 15000 Töne ohne Verzierungen. Unter der Annahme, dass das Konzert zweimal täglich gespielt wird und dies für jeden Tag des Jahres, ergeben sich jährlich elf Millionen Kontaktauslösungen. Für den Garantiezeitraum von zehn Jahren macht das 110 Millionen Kontaktauslösungen.
Für den Testaufbau wurden diese Zahlen als Grundlage der Simulation herangezogen. Beim Test wurden sechs Tonventile so angesteuert, dass jeder Magnet 3-mal pro Sekunde angesprochen wurde, also 18 Auslösungen pro Sekunde, 1080 pro Minute und 64800 in der Stunde. 24 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche. Nach 80 Tagen waren 120 Millionen Schaltzyklen erreicht. Es kam zu keinerlei Störungen. Damit war die Standfestigkeit des neuen Konzeptes bewiesen. Der Auftraggeber wurde von den vielfältigen Vorteilen bezüglich Spielbarkeit, Flexibilität und War- tungsfreiheit überzeugt.
Die Verbindung modernster Industriesteuerungstechnik mit traditioneller Orgelbaukunst eröffnet der Orgel die Darstellung der gesamten Orgelliteratur von Barock bis Moderne. Mit Worten lässt sich die Klangfülle der neuen Orgel allerdings nur unzureichend beschreiben. Man muss dieses Meisterwerk bis zum Schlusslied gehört haben, denn nur so offenbaren sich die klaren Töne.
Damit Instrumenten nicht die Luft ausgeht
Man muss nicht sofort auf den Organisten schießen, wenn der Ton mal schräg von der Empore klingt. Missklänge entstehen, wenn der Luftdruck im Atemapparat der Orgel schwankt oder schwingt. Orgelbauer arbeiten seit fünf Jahrhunderten daran, diese Unregelmäßigkeiten zu vermeiden, doch bis heute gibt es nur empirische Regeln für die Abstimmung. Unter Federführung der Physikerin Judit Angster – sie stammt aus einer Orgelbauerfamilie, wurde eine Software entwickelt, mit der alte Instrumente verbessert und neue Windsysteme punktgenau geplant werden können. Die Leonberger Firma Mühleisen nutzt die Computerhilfsmittel bereits für eine Orgel mit 77 Registern und über 5000 Pfeifen, die demnächst in der Stuttgarter Stiftskirche wohl klingen soll.
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