Startseite » Allgemein »

Messer, Gabel, Schere – Solingen

Solingens Schneidwarenindustrie im strukturellen Wandel
Messer, Gabel, Schere – Solingen

In Solingen scheint die Welt noch in Ordnung: Nach wie vor ist der Name Synonym für hochwertige Messer. Strukturschwäche und Wirtschaftsflaute sorgen jedoch auch im Bergischen Land für Veränderungen. Selbst in seiner traditionsreichsten Branche: der Schneidwarenindustrie.

Karin Leppin ist Wirtschaftsjournalistin in Berlin

Man kann sie die „schärfste Stadt Deutschlands“ nennen oder die „Messermetropole“. Der Bürgermeister sagt „Klingenstadt“, und so heißt sie auch in den Prospekten für Touristen. Auf dem gelben Schild am Ortseingang zwischen Köln und Wuppertal steht einfach nur „Solingen“ – und das sagt eigentlich schon alles: Hier werden Messer gemacht. Schon seit 700 Jahren.
Nach wie vor ist die Schneidwarenindustrie eines der wichtigsten wirtschaftlichen Standbeine in der Region um Solingen. Traditionsfirmen wie Wüsthof, Wilkinson und Zwilling haben hier ihren Sitz. Hinzu kommen Dutzende kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie produzieren von Tafelbesteck und speziellen Koch-Messern über industrielle Schneidwerkzeuge bis hin zu Messermaschinen Hunderte verschiedener Schneidwaren. Rund 500 Mio. Euro setzen die Solinger Firmen in diesem Segment um. Mehr als 5500 Menschen arbeiten an Pressen, Schleif- und Schweißmaschinen oder als Ingenieure und Designer. Das sind etwa ein Viertel der Industriebeschäftigten in der Stadt und ihrer Umgebung. Noch. Die Tendenz ist fallend. Vor 50 Jahren war es immerhin knapp 40 %, Anfang des Jahrhunderts sogar über 70 %. Inzwischen holen andere Bereiche an Bedeutung auf und die Schneidwarenindustrie beinahe ein: Die Zulieferindustrie zum Fahrzeugbau zum Beispiel und natürlich – wie überall im bergischen Land – der Maschinenbau.
„Bisher war die Schneidwarenindustrie unsere Lokomotive. Bis vor zwei, drei Jahren hatten wir eine überwiegend positive Entwicklung, doch inzwischen sind auch hier die Umsätze durch den Rückgang der Inlandsnachfrage erheblich eingebrochen“, sagt Michael Wenge von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Wuppertal-Solingen-Remscheid. Es trifft die Hersteller unterschiedlich hart. Anbieter von Industriemessern und Firmen, die auch Fahrzeugteile produzieren, profitieren vom aufstrebenden Autoteilebau in der Region, und auch Rasierklingen haben einen relativ beständigen Absatz. Doch die Richtung ist eindeutig: Der Anteil der Industrie an der Wirtschaft geht zurück.
Wie überall ist vor allem der unternehmensnahe Dienstleistungsbereich eine aufstrebende Branche. Vor allem Event-Marketing-Firmen zieht es ins Bergische Land. Die Nähe zu Düsseldorf zahlt sich aus. Man setze bewusst auf solche Service-Unternehmen, denen die Gewerberäume und Bürolagen dort zu teuer sind, erklärt Wenge. „Wir dürfen uns jedoch nicht der Illusion hingeben, dass die Arbeitsplatzverluste in der Industrie durch Dienstleistungen und neue Branchen vollständig ausgeglichen werden können.“ Auch die eigentlichen Stärken der Region dürfe man nicht aus den Augen verlieren. Deshalb arbeiten die Stadtväter und Planer gerade daran, eine Vision umzusetzen: Ein Kompetenzcenter für Industriedesign soll am früheren Hauptbahnhof in Solingen entstehen. Mit einem wissenschaftlichen Institut der Bergischen Universität Wuppertal, Ausstellungen und Messen. Schon sieht Wenge die kleine Metropole als Universitätsstadt.
Innovationen und Festhalten an der Qualität sind für die Traditionsbranche von elementarer Bedeutung, denn die Konkurrenz aus dem Ausland wächst. Und das nicht immer mit lauteren Mitteln. „Die Solinger Schneidwarenindustrie leidet schon lange unter Markenpiraterie. Deswegen wurde der Name bereits 1938 unter Schutz gestellt“, berichtet Wenge. Die Solingen-Verordnung macht die Verwendung des Namens für Schneidwaren nicht nur davon abhängig, dass die Produkte in Solingen oder Haan hergestellt wurden, sondern schreibt auch einen Qualitätsstandard vor.
Trotz des gesetzlichen Schutzes werden immer wieder Messer, Bestecke und Scheren aus Fernost gefunden, auf denen der Name Solingen steht. „Kürzlich hat der US-amerikanische Zoll eine ganze Schiffsladung angeblich Solinger Messer aus China beschlagnahmt. Deshalb muss auch im Ausland der Solingen-Schutz intensiviert werden“, so Wenge. Dazu soll der Name Solingen in Europa und anderen Ländern markenrechtlich geschützt werden. Finanziert wird diese Initiative durch einen Fonds, der gemeinsam von der IHK und dem Industrieverband Schneid- und Haushaltswaren (IVSH) eingerichtet wurde.
Doch der Schutz des Namens allein macht den Verlust von Märkten nicht wett. Vor allem in den mittleren Preisklassen haben die Solinger Firmen Marktanteile an ausländische Konkurrenten verloren, heißt es beim IVSH. Denn Marktanteile würden heute überwiegend über den Preis gewonnen und verteidigt – und dort hätten internationale Konkurrenten fast unschlagbare Vorteile. Einige Solinger Unternehmen produzieren inzwischen selbst in Fernost. Auf den Aufdruck „Solingen“ müssen sie für diese Bestecke allerdings ebenso verzichten wie die Konkurrenz.
Veränderungen in der Nachfrage spüren Maschinenbauer in der Regel früher als andere, denn in schlechten Zeiten werden oft zuerst die Investitionen zurückgestellt. Dies gelte auch für die Schneidwaren-industrie, bestätigt Frank Siepmann. Sein Solinger Unternehmen stellt seit 1906 automatische Messerschleifmaschinen her. Inzwischen sind diese computergesteuert und werden von Robotern beschickt.
„Die Anzahl unserer Kunden ist in den letzten Jahren merklich kleiner geworden“, sagt der Unternehmer. An Umsatzwachstum sei in seiner Branche seit einiger Zeit nicht mehr zu denken. Das liegt nicht nur am deutschen Markt. Immerhin liefert Siepmann 80 % seiner Maschinen ins Ausland und nur noch 10 % bleiben in Solingen und Remscheid. Vor allem kleinere Unternehmen werden von großen verdrängt, beobachtet Siepmann. In Solingen und weltweit. Die kleinen Firmen überleben diese Jahre nur, wenn sie eine Nische gefunden haben und zum Beispiel Spezialmesser für Jäger oder Angler herstellen. Diese werden zu selten verkauft, um sie in großen Serien zu produzieren.
Fluktuationder Fachkräfteist gering
Das Familienunternehmen Siepmann arbeitet ebenfalls in einer Nische: „Wir stellen heute praktisch keine Serienmaschinen mehr her, sondern stimmen alles auf die Kundenansprüche ab“, erklärt der Chef. Und die Kunden wünschen Innovationen. Immer mehr Computersteuerung, immer modernere Schleifmethoden. In der Firma, die von Siepmanns Großvater 1885 gegründet wurde, arbeiten immer mehr Ingenieure und Entwickler. Die 70 Mitarbeiter kommen aus Solingen und Umgebung. Die Menschen in der Region seien gut ausgebildet, und auch die Fluktuation der Fachkräfte sei gering, begründet der Unternehmer.
Die gute und traditionelle Ausbildung in der Schneidwarenindustrie sei jedoch Vor- und Nachteil zugleich, beschreibt Siepmann, der seit einigen Jahren eine paradoxe Situation beobachtet: „Im Ausland musste man viel früher auf moderne Maschinen setzen, weil die Fachleute fehlten. In Solingen konnte man dagegen noch lange Zeit auf sehr gute Schleifer und andere Spezialisten zurückgreifen, die in günstiger Heimarbeit diese Arbeiten übernahmen.“ Jetzt müssen die kostspieligen Investitionen nachgeholt werden, um international mitzuhalten.
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de