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Praxis und Erfahrungswissen – eine Renaissance alter Tugenden

Anforderungen an die industriellen Fachkräfte des 21. Jahrhunderts
Praxis und Erfahrungswissen – eine Renaissance alter Tugenden

Sind die Fachleute von heute den Anforderungen von morgen noch gewachsen? Personalchefs haben da ihre Zweifel, aber sie verzweifeln nicht. Ihr Königsweg heißt: praxisnahe Ausbildung und Qualifizierung on the job.

Uwe Bäse ist Journalist in Berlin

Ein Unbehagen zieht durch Deutschlands Personalabteilungen: Den frischgebackenen Absolventen von Universitäten und Hochschulen, den Ingenieuren oder Betriebswirten, aber auch den jungen Facharbeitern mangelt es nach Auffassung gestandener Manager vor allem an Praxiserfahrung. Viele von ihnen strotzen zwar von Selbstbewußtsein, doch schließlich im Arbeitsteam gelandet, versagen sie schon bei den ersten üblichen Tagesschwierigkeiten. Die Wirklichkeit in den Unternehmen zeigt sich anders als die Lehranstalten offenbar derzeit noch vermitteln.
Manchem jungen „Experten“ stürzt bei Erstberührung mit der Betriebspraxis gar sein Weltbild ein. Die junge Wissenselite gerät ins Straucheln, verzweifelt daran, daß alles so kompliziert und das vermeintlich hochgetrimmte Fachwissen nicht gefragt sei. Personalchefs hingegen vermissen bei den „Greenhorns“ vor allem alte Tugenden in einer Zeit mit neuen Anforderungen. „Sie haben von Tuten und Blasen keine Ahnung, wissen überhaupt nicht wie´s im Unternehmen langgeht, haben keinen Instinkt für die Praxis“, schimpft Hans-Dieter Bräuer von der Volkswagen Coaching GmbH in Wolfsburg. Dr. Hans Stock, Personaldirektor in der mittelständischen Berliner Metallbau GmbH, hält einen Großteil der Neulinge entweder für überheblich oder desinteressiert an den betrieblichen Aufgaben.
Auch die Sozialwissenschaft läßt kein gutes Haar an den jungen Leuten. Prof. Burkhart Lutz vom Hallenser Zentrum für Sozialwissenschaft amüsiert sich, daß „junge Facharbeiter zwar tüchtig auf dem Computer herumhacken können, sonst aber an der Realität vorbeischwärmen“. Professor Ottfried Mickler vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen hat in zahlreichen Untersuchungen immer wieder festgestellt, daß viele Absolventen „Theoretiker mit ausgesprochenen Kommunikationsblockaden“ sind. Maschinenbau- und Elektroingenieure könnten sich nicht miteinander fachlich verständigen, geschweige denn ohne ständige Querelen in einem Team vernünftig zusammenarbeiten, meint er. Es fehle ihnen fachübergreifendes Denken oder Querschnittswissen, beanstandet der Soziologe. Außerdem sei es mit dem aktuellen Fachwissen auch nicht weit her: „Sie plätschern nur oberflächlich.“ Seine Kollegin vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München (ISF), Dr. Annegret Bolte, hat sogar herausgefunden, daß nicht einmal „banale Alltagsprobleme“ wie Abstimmungen, schnelle technische oder organisatorische Veränderungen gelöst werden können. Die Konstruktion einer neuen Maschine sei oft nicht mehr ein vorwiegend technisches Problem, vielmehr träten gravierende Schwierigkeiten im Aushandlungs- und Abstimmungsprozeß auf, erklärt Bolte.
Bildung muß an die Wirklichkeit wieder angepaßt werden
Die Kritiker sind sich einig: Schuld an den erheblichen Defiziten und mangelnden Kompetenzen sind nicht etwa die jungen Leute: Das Bildungs-System ist faul. Es muß reformiert, Bildung muß an die Wirklichkeit wieder angepaßt, aber nicht abgeschafft werden. Einig sind sich die Experten auch darin, daß dieser Anpassungsprozess keine alleinige Aufgabe der Universitäten, Hochschulen und Bildungspolitiker ist. Gefragt sind zunehmend originelle Ideen und konkrete Modelle zur Aus- und Weiterbildung unter Einbeziehung der Industrieunternehmen. „Ein Gebiet, das auch von den Personalbereichen kleiner und mittelständischer Unternehmen zunehmend erschlossen werden sollte“, mahnt Dr. Gerhard Rübling von der Trumpf GmbH + Co. Maschinenfabrik in Ditzingen an.
Die Arbeitswelt hat sich stark verändert: Die Dienstleistungsgesellschaft entsteht, die Globalisierung der Märkte und des Wettbewerbs schreiten stürmisch voran, die Computerisierung und die I&K-Technologien haben alle Unternehmen erfasst. In den Betrieben selbst werden zunehmend funktionale Prozesse durch prozessorientierte Organisationsformen verdrängt. Unternehmen setzen vorrangig auf Dezentralisierung und flache Hierarchien, die Produktionsprozesse werden kunden- und dienstleistungsorientiert ausgerichtet. Neue Unternehmensstrukturen entstehen, die einen grundlegenden Wandel der Stellung der Mitarbeiter bewirken.
Doch welche neuen Anforderungen ergeben sich daraus für die industriellen Fachkräfte des angehenden 21. Jahrhunderts? Karlheinz Müller vom Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI), Frankfurt/M., macht eine neue Anforderungsqualität aus, sie wird seiner Meinung nach insbesondere durch erfahrungsgeleitetete Organisations- und Technologiekompetenzen bestimmt. Dazu zählt er die Prozesskompetenz mit ihrer kundenorientierten Ausrichtung, die I&K-Technologiekompetenz, insbesondere mit ihrer Vernetzung von Technik und Wirklichkeit, die betriebswirtschaftliche Kompetenz , die Organisations- und Managementkompetenz, die auf dezentrale, stärker vernetzte, eigenverantwortlich und flexibel agierende Organisationseinheiten orientiert und die tätigkeitsbezogene Kooperations- und Kommunikationskompetenz. Das Zeitalter der Kompetenzen, könnte man meinen startet. Doch Müller beschränkt sich nicht auf den Einzelaspekt, vielmehr sieht er den starken Trend zur Vernetzung und Verknüpfung dieser Kompetenzen.
Trendbestimmend werden zunehmend virtuelle Unternehmen oder Unternehmungen. Netzwerkkommunikation und Telekommunikation, als Voraussetzung dafür, werden schon heute stark ausgebaut. Nach Expertenschätzung wird beispielsweise in den nächsten fünf Jahren der Markt für CAD/CAM/CAE-Techniken von 2,3 Milliarden US-Dollar auf 5,2 Milliarden US-Dollar steigen. Das wird Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation und die Arbeitsinhalte haben. Mehrere Fachkräfte mit einem Kernberuf (aus Entwicklung, Produktion, Service) haben ihre Leistungen aufeinander abzustimmen. Auch hier zeigt sich: Die besondere Kompetenz der Fachkraft liegt gerade im Verbund, denn, die Gesamtleistung wird im Grunde genommen durch eine virtuelle Fachkraft erbracht.
Dr. Helmut Rose vom ISF nennt folgendes Anforderungsprofil für die industriellen Fachkräfte im 21. Jahrhundert: „Sie sollen im Verhalten stabil sein, gern Verantwortung übernehmen, für verschiedene Tätigkeitsbereiche motiviert sein, Interesse an Berufserfahrung haben, Mobilitätsbereitschaft zeigen und neugierig auf neue Herausforderungen sein.“ Doch damit nicht genug. Einen wesentlichen Aspekt sieht er in der prozeßorientierten Kooperationsfähigkeit und Vielseitigkeit von Fachkräften, und natürlich sollen sie mehrere Fremsprachen beherrschen, mit den neuen Medien umgehen können und Sozialkompetenz (Teamfähigkeit) aufweisen.
Diese Wandlung im Anforderungsprofil stellt eine neue Herausforderung an die Personalwirtschaft industrieller Unternehmen dar. Rüblings (globale) Antwort auf diese Fragen der Zeit ist die „atmende Belegschaft“. Er fordert die Organisation einer flexiblen, häufig kurzfristig anpassungsfähigen Personalstruktur aus qualifizierten und hochqualifizierten Fachkräften. Dabei muß seiner Meinung nach die Unternehmensinfrastruktur so beschaffen sein, daß sie ein „Selbstmanagement“ der Fach- und Führungskräfte zuläßt. Besonders den kleinen und mittleren Unternehmen KMU empfiehlt er, ihre Personalwirtschaft in eine aktive Rolle hineinzuführen.
Konkreter wird Annegret Bolte vom ISF. Die Soziologin geht davon aus, daß im Unternehmensalltag nicht alles planbar ist. Sie fordert zum Paradigmenwechsel auf: „Man darf das Nicht-Planbare nicht weiter als Anomalie, sondern muß es als Normalität begreifen, auf das man sich einstellen muß und mit dem man man rechnen muß.“ Diese Prämisse verlangt nach einer neuen Strategie in der Personalwirtschaft. Boltes These zur Praxisbewältigung lautet deshalb: der Dynamik des Unternehmens mit Erfahrungswissen zu begegnen. Neue Erfahrungen sollen schließlich in Handlungsstrategien umgesetzt werden. Sie bilden das Reservoir, aus dem Anregungen für die Bewältigung neuer Situationen bezogen werden. Sogenannte subjektive Faktoren wie Gefühl oder persönliches Erleben sollen zu wichtigen Bestandteilen dabei werden. Die industrielle Fachkraft muß letztlich so befähigt sein, daß sie auch bei unsicheren Situationen handlungsfähig bleibt. Von den Unternehmen fordert sie schlußfolgernd daraus, in der Unternehmenspraxis bewährte oder neue Erfolge bringende Handlungsabläufe und -methoden herauszufiltern und immer wieder auch von erfahrenen Fachkräften trainieren zu lassen. „Auseinandersetzung mit der Praxis“, nennt sie dieses Modell. Hauptziel ist, die Einzelkompetenzen auf diese Weise systematisch heranzubilden und zu vernetzen. Ihr Credo könnte heißen: Praxisnahe Ausbildung von Ingenieuren versus wissenschaftliche Ausbildung light. Folglich sollen zum Beispiel Ingenieurstudenten ihre Praxiserfahrung nur in einer konkreten Tätigkeit als Ingenieure erfahren. Für die Unternehmen bedeutet dies, daß sie Studenten und eigenes Personal zunehmend in Projektteams mit knallharten Zielstellungen integrieren. Die KMU stehen dabei nicht außen vor. Bolte schlägt vor, zeitweise – auch und gerade überbetriebliche – Teams junger Fachkräfte zusammen mit Erfahrungsträgern zu bilden, um herausfordernde Aufgaben zu lösen.
Die klassischen Grenzen von Arbeiten und Lernen verwischen
Für eine praxisnahe Aus- und Weiterbildungbildung sowie Nutzung von Erfahrungswissen plädieren auch Müller und Bräuer. Müller spricht von „lernenden Organisationen“. Darunter versteht er, daß die Unternehmensentwicklung vor allem durch eine zunehmende „Selbst-Steuerung der operativen Einheiten bis hin zum einzelnen Mitarbeiter“ gekennzeichnet ist. Das betrifft nicht zuletzt die Lernprozesse vor allem nach dem Prinzip Learning-by-doing und setzt im wesentlichen Eigenverantwortung und flache Hierarchien voraus.
Lange Zeit war das Lernen in der Arbeitssituation verpönt. Jetzt zum Jahrtausendschritt tritt hier eine Wende ein. Lernen definiert sich nun (wieder) vor allem durch die Gestaltung und Lösung konkreter Arbeitsaufgaben. Mit dem arbeitsintegrierten und arbeitsplatznahen Lernen verwischen die klassischen Grenzen von Arbeiten und Lernen. Immerhin beteiligten sich schon 1998 rund 70 % der Erwerbsmäßigen an (scheinbar ungeplanten) Maßnahmen der sogenannten „informellen Weiterbildung“. Dagegen lag die Teilnahmequote an Kursen oder Lehrgängen bei etwa 30 Prozent. Der Mangel der Maßnahmen zum arbeitsintegriertem Lernen besteht allerdings darin, wie Müller feststellt, daß sie in der Regel noch nicht in das derzeitige System der Aus- und Weiterbildung integriert sind. Der Ausweg geht in zwei Richtungen: zum einen sollten die Unternehmen neuartige Strukturen mit personellen und institutionellen Voraussetzungen für das selbstgesteuerte und erfahrungsbezogene Lernen schaffen. Zum anderen schlägt Müller vor, von vornherein mit externen Bildungseinrichtungen zu kooperieren. Allerdings bedingt dieser Prozess eine Verstärkung der Personal- und Ausbildungsverantwortung vor Ort, aber auch den Drang oder Zwang zur Kooperation zwischen den KMU.
Wie sieht die Praxis aus? VW testet ein zukunftsträchtiges Beispiel. Bräuer spricht vom Strategie- und auch vom Pradigmenwechsel in der Aus- und Weiterbildung des Konzerns. Erprobt wird am September 1999 im Konzern die „Geschäfts- und arbeitsprozeßbezogene dual-kooperative Ausbildung in ausgewählten Industrieberufen mit optimaler Fachhochschulreife“ (GAB). Mit im Boot sind die Länder Niedersachsen, Hessen und Sachsen. GAB soll die Schwächen des dualen Ausbildungssystems (mangelnde Selbständigkeit, lange Einarbeitungsphase) ausmerzen. Bereits in den Berufsschulen soll deshalb eine Annäherung der Ausbildung an die betriebliche Realität betrieben werden. Nach dem VW-Modell werden 17 der 29 Ausbildungsberufe in fünf ausgewählten Industrieberufen zusammengeführt. „Wir brauchen keine Fachidioten, sondern breit und fundiert ausgebildete flexible junge Leute“, erklärt Bräuer.
Sechs Thesen
These 1:
Einfache Tätigkeiten in der Produktion, die ohne längere Ausbildung oder Anlernung verrichtet werden können, werden in Deutschland weiter an Bedeutung verlieren
These 2:
Der Bedarf an technischem Wissen wird tendenziell an allen Arbeitsplätzen zunehmen. Die Lebenszyklen von technischem Wissen werden zunehmend kürzer
These 3:
Erfahrungswissen wird nach wie vor von hoher Bedeutung sein
These 3:
Organisations- und Managementkompetenz werden für viele Fachkräfte wachsende Bedeutung gewinnen
These 5:
Die Anforderungen an die Mobilitätsfähigkeit und Arbeitsmarktgängigkeit der Qualifikation werden steigen
These 6:
Die Spannungen zwischen Anforderungen an Prozeßkompetenz und steigender Mobilitätsfähigkeit der Qualifikation werden zunehmen
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