Startseite » Allgemein »

Renaissance alter Tugend und neuer Kompetenzen

Industrielle Fachkräfte für das 21. Jahrhundert
Renaissance alter Tugend und neuer Kompetenzen

Renaissance alter Tugend und neuer Kompetenzen
Das deutsche Bildungssystem ist krank. Die Ausbildung geht am industriellen Bedarf vorbei. Von der Betriebspraxis haben Berufsanfänger oft keine Ahnung. Doch es gibt Ansätze, die überkommene Anforderungsprofile aufbrechen.

Uwe Bäse ist Journalist in Berlin

Heftig wird derzeit in Deutschland das Für und Wider einer Green Card diskutiert. Die Regierung will für einige Jahre ausländische Experten der Informationstechnologien (IT-Technologien) ins Land holen. Doch auch die klassischen Industrien melden sich zu Wort. Sie beklagen ebenfalls einen Expertennotstand. Dabei verlassen – wie auch im IT-Bereich – Zehntausende diplomierte Absolventen Jahr für Jahr die Bildungsanstalten und nicht alle bekommen einen Job.
Doch warum blicken angesichts des „Expertenüberschusses“ so viele Unternehmen ins Ausland? Die Personalabteilungen reduzieren das deutschlandweite Problem nicht auf die hohen Löhne und Gehälter, mit denen schon junge Absolventen oder Facharbeiter in den Betrieben einsteigen, wie man meinen könnte. „Wenn Leistung und Produktivität einen Schub bekommen, ist das kein Thema“, meint der Personalchef des ostdeutschen Energiekonzerns Veag, Martin Martiny. Doch viele der vermeintlichen Experten enttäuschen ihren neuen Arbeitgeber. Den jungen Leuten mangelt es nach Auffassung erfahrener Manager vor allem an Praxiserfahrung und natürlichem Instinkt, um sich in der Arbeitswelt schnell zurecht zu finden. Bei den indischen IT-Experten soll das anders sein: „Sie haben mehr Biss“, sagte ein Personaldirektor. Personalchefs hingegen vermissen bei den „Greenhorns“ vor allem alte Tugenden in einer Zeit mit neuen Anforderungen. „Sie haben keine Ahnung, wo’s im Unternehmen langgeht, schimpft Hans-Dieter Bräuer von der Volkswagen Coaching GmbH in Wolfsburg. Auch die Sozialwissenschaft lässt kein gutes Haar an den Einsteigern. Prof. Burkhart Lutz vom Hallenser Zentrum für Sozialwissenschaft schüttelt den Kopf darüber, dass „junge Facharbeiter zwar tüchtig auf dem Computer herumhacken können, sonst aber an der Realität vorbeischwärmen“. Professor Ottfried Mickler vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen hat in Untersuchungen immer wieder festgestellt, dass viele Absolventen „Theoretiker mit ausgesprochenen Kommunikationsblockaden“ sind. Maschinenbau- und Elektroingenieure könnten sich nicht miteinander fachlich verständigen, geschweige denn ohne ständige Querelen in einem Team vernünftig zusammenarbeiten. Es fehle ihnen fachübergreifendes Denken oder Querschnittswissen, beanstandet der Soziologe.
Die Kritiker der Misere sind sich einig: Schuld an den erheblichen Defiziten und mangelnden Kompetenzen sind nicht etwa die jungen Leute: Das Bildungssystem ist faul. Bildung muss an die Wirklichkeit wieder angepasst werden, fordern sie. Doch welche neuen Anforderungen ergeben sich daraus für die industriellen Fachkräfte? Karlheinz Müller vom Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI), Frankfurt/M., verlangt erfahrungsgeleitete Organisations- und Technologiekompetenzen. Im Einzelnen: die Prozesskompetenz mit ihrer kundenorientierten Ausrichtung, die IT-Kompetenz, mit ihrer Vernetzung von Technik und Wirklichkeit, die betriebswirtschaftliche Kompetenz, die Organisations- und Managementkompetenz, die auf dezentrale, stärker vernetzte, eigenverantwortlich und flexibel agierende Organisationseinheiten orientiert ist und die tätigkeitsbezogene Kooperations- und Kommunikationskompetenz.
Das Zeitalter der Kompetenzen, könnte man meinen, startet jetzt. Doch Müller hält auch die Vernetzung dieser Kompetenzen für notwendig. Es gibt zunehmend virtuelle Unternehmen oder Projektgruppen. Sie sind auf Netzwerkkommunikation und Telekommunikation angewiesen. Aus Einzelkompetenzen (fachlich-spezifische, soziale, kommunikative) entsteht schließlich im Verbund eine virtuelle Fachkraft (-kompetenz), erklärt er. Dr. Helmut Rose vom ISF ergänzt: Die Fachkräfte sollen im Verhalten stabil sein, gern Verantwortung übernehmen, für verschiedene Tätigkeitsbereiche motiviert sein, Interesse an Berufserfahrung haben, Mobilitätsbereitschaft zeigen und neugierig auf neue Herausforderungen sein. Einen wesentlichen Aspekt sieht er in der prozessorientierten Kooperationsfähigkeit und Vielseitigkeit. Mehrere Fremdsprachen und einen klugen Umgang mit den Medien setzt er stillschweigend voraus.
Wie die Arbeitswelt, so hat sich auch das Anforderungsprofil an die künftigen Fachkräfte gewandelt. Die Personalwirtschaft steht deshalb vor neuen Herausforderungen. Dr. Gerhard Rübling von der Trumpf GmbH + Co. Maschinenfabrik in Ditzingen findet die Antwort darauf in dem Modell von der „atmenden Belegschaft“. Er fordert die Organisation einer flexiblen, häufig kurzfristig anpassungsfähigen Personalstruktur aus qualifizierten und hochqualifizierten Fachkräften.
Für eine praxisnahe Aus- und Weiterbildung sowie Nutzung von Erfahrungswissen plädieren auch Müller (ZVEI) und Bräuer (VW). Müller spricht von „lernenden Organisationen“. Darunter versteht er, dass die Unternehmensentwicklung vor allem durch eine zunehmende „Selbst-Steuerung der operativen Einheiten bis hin zum einzelnen Mitarbeiter“ gekennzeichnet ist. Mit dem arbeitsintegrierten und arbeitsplatznahen Lernen verwischen die klassischen Grenzen von Arbeiten und Lernen. Als Ausweg aus dem jetzigen Dilemma empfiehlt Müller zwei Richtungen: Zum einen sollten die Firmen neue Strukturen für das selbstgesteuerte und erfahrungsbezogene Lernen schaffen. Zum anderen schlägt er vor, von vornherein mit externen Bildungseinrichtungen zu kooperieren.
Qualifizierungsstrategien
Zurück zur praxisorientierten Ausbildung: Verbindung von erlerntem Wissen mit Erfahrungs-Wissen und praktischen Fähigkeiten.
Dazu gibt es einzelne Strategien
– Bildung von Projektteams: Sie bestehen aus jungen Ingenieuren und erfahrenen Fachkräften. Dem Team werden hohe Ziele gestellt. In dem Praxisprozess sollen verschiedene Kompetenzen erworben werden, wie Teamfähigkeit, Organisationsvermögen, Krisenmanagement oder Kommunikationsfähigkeit.
– Lernende Organisationen: Lernen ist wieder in. Dabei geht es nicht allein um das Aneignen theoretischer Kenntnisse, sondern zugleich auch um „Betriebswissen“. Die lernende Organisation steuert sich eigenverantwortlich.
– Informelle Weiterbildung: Die Qualifizierung am Arbeitsplatz oder die Spezialisierung wird mit Weiterbildungskursen verbunden. Unternehmen kooperieren mit externen Bildungseinrichtungen.
– Dual-kooperative Ausbildung: Der VW-Konzern testet derzeit dieses Model. Das Berufsschulprogramm berücksichtigt die Konzernanforderungen. 17 der 29 Ausbildungsberufe bei VW werden in fünf Industrieberufen zusammengeführt.
Arbeitsformen
Die neuen Arbeitsformen werden vor allem durch flache Hierarchien, Kompetenz der Fachkräfte und Eigenverantwortung bestimmt.
– Projektteams: Sie bestehen zumeist solange, bis eine bestimmte Aufgabe erfüllt worden ist. Die Teams bestehen aus Fachleuten unterschiedlicher Richtungen. Das Ziel bestimmt die Zusammensetzung. Dabei ist es in der Regel gleich, woher die Fachkräfte kommen, außer es wird eine bestimmte „Kulturkompetenz“ gewünscht. In vielen deutschen Firmenhat sich Englisch als Kommunikationssprache durchgesetzt. Flexibilität und Organisationsvermögen sind gefragt.
– Virtuelle Projektteams: Internet macht’s möglich. Die Experten müssen nicht mehr alle an einem Ort zusammenarbeiten, sondern kommunizieren über den Bildschirm. Ständige Abstimmungen sind dabei nötig. Soziale Kompetenz ist neben fachlicher Qualifikation sehr gefragt.
– Gruppenfertigung: Das Team kann nur so stark sein wie das schwächste Mitglied. Charakterliche Ausgewogenheit, Zuverlässigkeit und fachliche Vielseitigkeit ermöglichen eine hohe Flexibilität. Die Devise: Der Kunde ist König. Andererseits ist jedes Mitglied offen für Veränderungen sowie für Fortbildung.
Arbeitszeiten
Die Zeit starrer Arbeitszeiten ist eigentlich abgelaufen. Das Ergebnis- oder Projektziel steht im Vordergrund. Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein bringen eine hohe Flexibilität hervor. Kundenfrequenz, Auftragslage, Saison (Bau), aber auch die Ausfallquote bestimmen das Arbeitszeitregime. Die Führung von Arbeitszeitkonten ist dabei ein Steuerungsinstrument. Die Unternehmen wünschen sich generell eine hohe Flexibilität ihrer Mitarbeiter Neben der Verbundenheit zum Unternehmen sind auch Einsichten in die aktuellen Marktabläufe gefragt.
Unsere Webinar-Empfehlung
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de