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Scharfe Kurven

Rohrbiegen: Kein Programm für enge Biegeradien
Scharfe Kurven

Wer enge Biegeradien in Rohren realisieren will, braucht mehr als nur eine steife, vollelektrische Biegemaschine. Um die Prozesse für eine zuverlässige Serienproduktion auszulegen, ist vor allem Know-how gefragt – und gutes Material.

Es dauert seine Zeit, bis enge Rohrbiegeradien in der Serienfertigungen laufen. Davon kann Michael Frank, Leiter Technologiemangement Edelstahlrohre bei der E.G.O. Elektro-Gerätebau GmbH in Oberderdingen, ebenso berichten wie die Planer beim Stuttgarter Kühlerhersteller Behr GmbH & Co. KG. Meist wird mit Unterstützung des Maschinenherstellers systematisch probiert bis die richtigen Einstellungen gefunden sind. Was dabei als schwierige Biegung gilt, hängt vom Rohrdurchmesser, von der Wandstärke und letztendlich von Rohrmaterial selbst ab. Da kann ein 20-mm-Edelstahlrohr mit einem Biegeradius vom 1,5-fachen des Rohraußendurchmessers wie bei E.G.O. ebenso schwierig sein wie ein 18-mm-Aluminiumrohr mit einem Biegeradius vom 0,7-fachen des Rohrdurchmessers bei Behr.

Es sind Spezialisten, die den wachsenden Bedarf an scharfen Kurven im Rohr bedienen. Vor allem in der Automobilindustrie wird wegen der zunehmenden Zahl von Zusatzaggregaten der Bauraum für die Rohrleitungen immer enger. Andere Branchen ziehen mit beim Trend zum engen Biegeradius, zumal die Biegemaschinenhersteller mit erreichbaren Mindestbiegeradien von 1xD bis 0,8xD werben. Dass diese Biegeradien machbar sind, daran besteht kein Zweifel; sie in robuster Serienfertigung umzusetzen, gelingt allerdings oft erst nach aufwändigen Vorbereitungen. Enge Biegeradien heißt Biegen in unberechenbaren Grenzbereichen. Geschlossene mathematische Lösungen für das Rohrbiegen gibt es heute ebenso wenig wie Simulationsprogramme, die diese Bereiche zuverlässig abbilden könnten.
Börries Burkhardt, ein in Stuttgart ansässiger unabhängiger Berater im Umform- und Biegebereich, sieht es realistisch: „Es gibt beim Rohrbiegen keine allgemein gültige Lösung, es gibt immer nur partiell für eine Aufgabe eine Lösung.“ Und diese Einzelfalllösungen machen die Kostenschätzungen schwierig, denn „je kleiner man im Biegeradius wird, desto höher wird der Aufwand für das Werkzeug, sowohl für die Herstellung als auch beim Verschleiß. Das macht die Teile in der Serie teuer, und die Kosten sind schwierig abzuschätzen, weil man nicht weiß, wie sich der Verschleiß auswirken wird“, erläutert der Experte, der auch die italienischen Biegemaschinenhersteller Crippa S.p.A. und MileMiglia Eng. im deutschsprachigen Raum vertritt. Erfahrene Anwender ziehen sich deshalb oft schon beim Angebot auf sicher beherrschbare Biegeradien über 1,5 D zurück. Wer sich dennoch auf enge Radien einlässt, steht einer Vielzahl variabler Einflussgrößen gegenüber: der Maschine, dem Werkzeug, dem Rohrmaterial oder der Schmierung.
Industriell werden Rohre heute überwiegend kalt gebogen. Heißbiegeverfahren spielen allenfalls beim Bearbeiten dickwandiger Rohre in der Einzelfertigung eine Rolle. Von den bekannten Kaltbiegeverfahren ist alleine das Rotationszugbiegen geeignet, enge Biegeradien zu realisieren. Bei diesem Verfahren wird das Rohr zwischen einem Klemmstück und einer Biegerolle gespannt und mit einer Drehbewegung um die Biegerollenachse in die Biegung gezogen. Die auftretenden Querkräfte stützt eine gegenüber der Biegerolle angeordnete Gleitschiene. Biegeradius und Biegewinkel sind durch den Radius der Biegerolle und den Drehwinkel festgelegt. Im Biegevorgang wird das Rohr am äußeren Biegeradius gedehnt und am inneren gestaucht, so dass sich infolge der elastoplastischen Umformung die neutrale Faser zum Biegemittelpunkt hin verschiebt. Gleichzeitig bedingt die Spannungs- und Materialverteilung eine Ovalisierung des Querschnitts bis hin zur vollständigen Abplattung des Rohrs bei engen Radien. Die industriell taugliche Gegenmaßnahme ist das Stützen der Rohrinnenwand durch einen in das Rohr eingeführten, in die Biegezone ragenden Dorn. Je enger der Biegeradius und je größer der Biegewinkel desto größer wird dabei die erforderliche Abstützlänge. Sie wird nur von Dornen mit Kugelfortsätzen bewältigt, die das Material auch im Rohrbogen unterstützen. Allerdings steigt mit dem Dorneinsatz die Gefahr eines Risses, der entsteht, wenn die Rohrwand am äußeren Biegeradius über die zulässige Bruchdehnung hinaus gedehnt wird.
In dem Maß wie sich die äußere Rohrwand ausdünnt, sammelt sich am inneren Biegeradius das Material und verdickt die Wandstärke. Solange bis das Material keine weiteren Kräfte mehr aufnimmt, entgegen der Zugrichtung im Bereich vor der Biegerolle ausweicht und sich dort zu Falten aufstellt. Die gängige Gegenmaßnahme ist ein Faltenglätter, eine Halbschale, die das Rohr bis auf einen kleinen Spalt in der Rohrmatrize in der Biegerolle abfängt und ein Ausweichen des Materials verhindert.
Die Effekte verstärken sich mit enger werdenden Biegeradien und größerem Rohrdurchmesser-Wanddickenverhältnis. Abhilfe schaffen Hilfseinrichtungen, die erst mit den weggesteuerten, kontrollierten und ausreichend steifen servomechanischen CNC-Achsen möglich wurden, wie sie heute in den vollelektrischen Rohrbiegemaschinen verbaut werden.
„Das wesentliche Element zum Biegen im Grenzbereich“, sagt Börries Burkhardt, „ist der Booster.“ Diese Nachdrückeinheit umfasst das Rohr an der Einlaufseite und schiebt es in die Biegezone, so dass gezielt Material in den Dehnungsbereich nachfließt. Das gelingt nur, wenn der Materialfluss an Gleitschiene und Faltenglätter stimmt. Dazu sind beide Hilfsmittel über CNC-Achsen gesteuert und kontrolliert. Zwei Achsen sorgen bei der Gleitschiene einerseits dafür, das Rohr anzulegen und andererseits für eine Vorschubbewegung. Auf der Gegenseite wird entsprechend der Faltenglätter mit einer CNC-Achse angestellt.
Im Rohrinneren bringt eine weitere CNC-Achse den Dorn gezielt in Position. Gerade bei engen Radien kommen dabei überwiegend Mehrgliederdorne zum Einsatz, die zum Beispiel zur Verbesserung der Schmierung bei Crippa oszillierend bewegt werden können. Denn in allen Aspekten spielt die Reibung eine wesentliche Rolle. Zusammen mit den CNC-Achsen für die exakte Positionierung der Biegerolle, dem Rohrvorschub und der Drehachse für das Rohr sowie der Achsen für das Klemmstück addieren sich neun CNC-Achsen für eine Biegemaschine, die im Grundsatz das Biegen enger Radien beherrscht. Alleine mit der Anzahl der Achsen ist es aber noch nicht getan: Die Achsen müssen jede für sich präzise und zudem koordiniert und exakt aufeinander abgestimmt bewegt werden. Das Wissen um die optimalen Wege und die Abstimmung der Bewegungskennlinien zählt zu den Kernkompetenzen, welche die Rohrbieger nur ungern preisgeben. „Ganz wichtig ist es, dass die Bewegung der Biegerolle und des Boosters, der Nachdrückeinheit, exakt aufeinander abgestimmt sind,“ verrät dazu Peter Hammerer, Entwicklungsleiter Rohbiegemaschinen bei der Wafios AG in Reutlingen, und deutet dabei an, dass es eigentlich um alle Achsen geht.
„Das Wichtigste“, so Peter Hammerer weiter, „ist eine steife Maschine. Das ist zusammen mit den servomechanischen Antrieben der CNC-Achsen unser Erfolgsrezept. Wir wollen aber sicherstellen, dass die Kennlinien auch unter Last 1:1 gefahren werden können, ohne dass sich Spalte aufweiten. Wenn die Spalte aufgehen, sei es zwischen Faltenglätter und Biegerolle, zwischen Dorn und Rohrwand oder zwischen Biegerolle und Gleitschiene, dann ist das tödlich für den Prozess.“ Verschiedene Anbieter unterstützen ihre Anwender mittlerweile durch in der Steuerung hinterlegte Datenbanken. „Bei Crippa beispielsweise,“ so Börries Burkhardt, „gibt der Anwender die Rohrgeometrie und Materialdaten sowie die Biegedaten in die Steuerung ein und erhält einen Vorschlag für die Biegeparameter. Das kann bei Biegungen im Grenzbereich aber nur eine Guideline sein, ein erfahrener Bieger wird immer eine feinere Abstimmungen finden.“
Das ist das eigentlich Erstaunliche am Rohrbiegen: Für das seit langem bekannte Verfahren gibt es kein zuverlässiges theoretisches Berechnungsmodell, das die Vorgänge beim Biegen verlässlich beschreibt. Für die Auslegung von Prozessen beispielsweise mit Rohrdurchmesser-Wanddickenverhältnissen von 70 oder 80 und Rohrbiegeradien von 0,8xD sind die Anwender auf personengebundenes Know-how und Erfahrungen angewiesen. Berechnungsprogramme, die auch in Grenzbereichen zuverlässig die Gegebenheiten abbilden, sind erst im Entstehen. Hier arbeitet Prof. Bernd Engel an der Universität Siegen seit einiger Zeit systematisch an alltagstauglichen Lösungen.
In der Praxis kommt der Anwender in der Regel auf empirischem Weg schneller zum eng gebogenen Rohr als durch aufwändige Simulationen. Den üblichen Weg beschreibt Peter Hammerer: „Wir biegen die Teile auf unseren Maschinen und überzeugen so unsere Kunden, dass es geht. Dann schulen wir und zeigen, worauf es ankommt.“ In der Folge und mit jedem Rohr baut sich so auch bei den Anwendern Spezialwissen auf, das letztendlich den Wettbewerbsvorteil dieser Unternehmen ausmacht. Sollte später beim Anwender eine Rohrbiegung nicht funktionieren, liegt es, so die übereinstimmende Meinung der Spezialisten, „meist am Rohrmaterial“.
Ein Rohr hat eine Umformhistorie samt entsprechender Kaltverfestigungen im Rohrform- und Schweißprozess hinter sich. Im Gegensatz zu Tiefziehblechen wird bei Normrohren nur die Festigkeit, nicht aber die Duktilität kontrolliert. Die Festigkeit kann der Hersteller über die Kaltverfestigung bei der Rohrherstellung einstellen, so dass dann die notwendige Dehnbarkeit fehlt. Dagegen helfen entweder gezielte Liefervereinbarungen oder der Umstieg auf teuere normalgeglühte Qualitäten. Einen dritten Weg geht die E.G.O. Elektro-Gerätebau. Das Unternehmen stellt seit 1957 Edelstahlrohre für Rohrheizkörper für Herde und Haushaltsgeräte her und liefert seit einigen Jahren Edelstahlrohre auch an externe Kunden. Jetzt ist man mit einer Rohrbiegemaschine von Mobitec Kottmann & Berger, Birenbach, als Anbieter ins Rohrbiegegeschäft eingestiegen. „Wir haben die Kompetenz in Edelstahl und wir können als unser eigener Rohrhersteller die Fließ- und Festigkeitseigenschaften der Rohre in der Herstellung im Hinblick auf die späteren Biege- und Stauchvorgänge optimal einstellen und kontrollieren“, sagt Michael Frank. Und das sind die besten Voraussetzungen für das Biegen enger Radien.
Volker Albrecht Freier Journalist in Bamberg

Marktchancen
Der Bauraum in den Fahrzeugen der nächsten Generationen wird enger. Hybrid-Antrieb, kompakte Leichtbauweisen und diverse Zusatzaggregate wie Klimaanlagen verdichten den Bauraum, so dass raumgreifend gebogene Rohre keinen Platz mehr finden. Enge Biegeradien sind also gefragt und damit vollelektrische Rohrbiegemaschinen mit den entsprechenden CNC-Achsen, den Hilfseinrichtungen und in der Steuerung gespeicherten Biegedaten. Andere Industrien werden angesichts der im Zuge der Energiedebatte weiterhin geltenden Leichtbaumaxime dem Trend zum engen Rohrbiegeradius folgen.

„Jeder Bieger verfolgt seinen Optimierungsweg“

Nachgefragt

Es fehlt beim Rohrbiegen an Berechnungsmodellen. Woran liegt das?
Zum einen wurde an den Universitäten die Erschließung der Grundlagen zum Biegen nur sehr spärlich vorgenommen. Zum anderen spielen sich die Optimierungen beim Rohrbiegen im Versuch und an der Maschine ab. So haben sich aus praktischem Expertenwissen unterschiedliche Systematiken entwickelt, um den Biegeprozess zu stabilisieren. Ketzerisch gesprochen verfolgt jeder Maschinenbediener einen anderen Optimierungsweg. Biegemaschinen bieten heute zudem sehr viele Einstellmöglichkeiten zur Lösungsfindung. Eine Sensitivitätsanalyse wird bei Erreichen des gewünschten Ergebnisses sehr selten durchgeführt. Und das scheint mir das besonders Komplexe am Biegen zu sein – die mangelnde Erkenntnis über die Sensitivität unterschiedlicher Einstellgrößen.
Welche Hilfsmittel gibt es außer dem Erfahrungswissen?
Weil Biegeunternehmen nur sehr selten zur Simulation greifen, haben wir die bestehenden Berechnungsgrundlagen erweitert und in anwendbaren Programmtools dargestellt, um erreichbare Umformungen zu berechnen. Dabei stützen sich die Berechnungen sowohl bei der Beurteilung der Wanddicken und den Vorhersagen von Rissen auf experimentelle Daten. Augenblicklich arbeiten wir daran, diese Rechenvorschriften durch empirisches Einarbeiten von Algorithmen auf die Vorhersage von Faltenbildungen zu erweitern. Die Vorausberechnungen gehen so weit, dass man auch Voreinstellungen für geforderte Biegegeometrien bestimmen kann. Anwendungen im Prototypbereich haben hier schon zu sehr ermutigenden Ergebnissen geführt.
Wie gut lassen sich Rohrbiegeprozesse simulieren?
Die Simulationsprogramme der heutigen Zeit sind schon ein gewichtiges Instrument, um Voraussagen hinsichtlich der erreichbaren Umformungen zu machen. Sie haben aber alle den Nachteil, dass sie die Faltenbildung nicht realitätsnah abbilden können. Außerdem werden diese Simulationsergebnisse häufig nicht richtig kommuniziert, denn es gehört Biege-Know-How dazu, um die richtigen Schlüsse zur Prozessoptimierung zu ziehen. Da der Biegeexperte selten simuliert und der Simulationsexperte selten biegt, gibt es sehr differenzierte Meinungen zum Einsatz dieser Tools. Wir haben am Lehrstuhl bisher äußerst positive Erfahrung gemacht. Dies geht so weit, dass wir Aussagen hinsichtlich erreichbaren Wanddicken im sehr dünnwandigen Bereich bis unter einem Zehntel tätigen konnten. Konkret kann die Simulation heute auch im Grenzbereich zu 70 Prozent Vorhersagen machen, und vermeidet so notwendige Einstellarbeiten durch den Biegeexperten.
Sind mit den Biegeradien von 0,7xD die Grenzen für das Kaltbiegen erreicht?
Die Frage nach den erreichbaren Biegeverhältnissen lässt sich nicht ohne weiteres ohne Angabe des Wanddickenverhältnis, der Materialgüten und der Qualität beantworten. Grundsätzlich glaube ich, dass die Anwendung des Rohrbiegens durch eine höhere Reproduzierbarkeit im Anwendungsspektrum deutlich erweitert werden kann.
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